Virtualienmarkt

Die Strukturbrüche sind hausgemacht

Von Rüdiger Wischenbart
25.03.2009. Der "Heidelberger Appell" lenkt nur von einem Versäumnis der Verlage ab: Sie haben sich nicht rechtzeitig um die Digitalisierung von Büchern und daran zu knüpfende Fragen gekümmert.
Die ausufernde Debatte um die Digitalisierung von Büchern wird allmählich zu einer Bedrohung - für die Verlage. Wer so abseits aller Tatsachen argumentiert, redet sich bald um Kopf und Kragen. Wer so vorprescht, den pariert sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung knapp, wenngleich mit feinem Sinn für Ironie: "Freiheit oder Google" lautet die knappe Überschrift im Frankfurter Feuilleton zum neuesten Aufruf der Verlage, der anhebt mit schrillem Ton: "Das verfassungsmäßig verbürgte Grundrecht von Urhebern auf freie und selbstbestimmte Publikation ist derzeit massiven Angriffen ausgesetzt und nachhaltig bedroht."

Wie bitte soll das gehen? Wurde Google Gründer Sergey Brin in den deutschen Bundestag gewählt und heckt ein gesetzliches Verbot deutscher Verlage aus? Lässt die "Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen" durch ihr Eintreten für Open Access Publikationen Wissenschaftler anderer Publikationspräferenzen über die Klinge springen?

Was mich am meisten verblüfft ist die lange Liste der Unterzeichner dieses Manifests, die (bei einem bemerkenswerten Anteil von Herren in den besten Jahren - ich gehöre selbst in diese demografische Gruppe) so viele Jahre an verlegerischer Erfahrung und Reputation mitbringt, dass man damit locker die 550 Jahre seit der Erfindung der beweglichen Lettern durch Gutenberg aufwiegen kann.

Doch nicht nur die Unterzeichner, die Verlagsindustrie insgesamt ist mit ihrem Jahresumsatz von 9,5 Milliarden Euro allein in Deutschland alles andere als ein Pennälerclub, bei dem man über solche Aufgeregtheiten achselzuckend hinwegsehen und zur Tagesordnung übergehen wollte. Die Umsätze der Verlagsbranche betragen das Doppelte der Musikindustrie und sind größer selbst als die Filmindustrie (wenn man die Zweitverwertungen übers Fernsehen nicht auch noch einrechnet).

Eine in ihren Grundfesten erschütterte Industrie, die sich händeringend wehren müsste gegen "Versuche und Praktiken (?) die Presse- und Publikationsfreiheit zu untergraben", sieht anders aus. Selbst die letzten Monate der allgemeinen Finanz- und Wirtschaftskrise haben keine Einbrüche erkennen lassen. Dieselben Verleger, die hier ums Überleben kämpfen, argumentieren gerne, wie und warum "das Buch" gerade in Zeiten der Krise bestand habe.

Vor allem aber: Die Strukturbrüche, die tatsächlich an der Branche rütteln, haben mit der Digitalisierung von Büchern herzlich wenig zu tun. Die wirklichen Erschütterungen sind hausgemacht:

- Die Zahl der jährlichen Neuerscheinungen betrug im Jahr 2007 96.479, was einem Zuwachs von fast einem Viertel in nur 10 Jahren entspricht;

- Der Kampf um Rabatte und Platzierungen im Handel, eine vor allem für konzernunabhängige Verlage immer härtere Schlacht;

- Die sinkenden durchschnittlichen Verkaufszahlen für gängige Titel in Belletristik wie Sachbuch, die die Basis der Buchkultur ausmachen.

Wo ein Verlag noch vor einem Jahrzehnt hoffen durfte, 10.000 oder gar 12.000 Bücher innerhalb eines Jahres abzusetzen, sind es heute vielleicht 2.000 oder 3.000. Die Konkurrenz im ausgeweiteten Titelangebot, aber auch die Konkurrenz zwischen unterschiedlichsten Inhalten und Medienformaten hat tiefe Spuren im Markt und im Verhalten der - immer unberechenbarer agierenden - Konsumenten hinterlassen.

Die Vielfalt im Buchangebot drückt sich traditionell bei den Übersetzungen am kulturell wirkungsvollsten aus. Die Zahl der Übersetzungen ist arg rückläufig. Frankreich hat Deutschland als wichtigstes Zielland für Übersetzungen überholt.

Die - von den Verlagen selbst kräftig unterstützten - Preisschlachten, etwa bei den Sondereditionen der Tages- und Wochenzeitungen haben kräftig auf den Preis der Taschenbücher gedrückt.

Überhaupt das Taschenbuch: Die acht größten Verlagsgruppen teilen 75 Prozent des Umsatzes in diesem dichtest besetzten Feld unter sich auf, und ausgerechnet die Bestseller sind hier im Durchschnitt um 1 Euro teurer als die weniger erfolgreichen Titel (nach Berechnungen des Branchenmagazins buchreport vom Januar 2009).

Hier treten sich die Verlage untereinander kräftig auf die Zehen - und binden Kapital, das an anderer Stelle fehlt. Etwa bei den Innovationen.

In den vergangenen zehn Jahren haben nahezu alle Verlage, ob groß oder klein, ihre internen Arbeitsabläufe weitgehend digitalisiert und damit integriert. Vom Manuskript des Autors über die Rechteverwaltung bis zur Herstellung der Druckvorlagen und zum Bestellprozess in Vertrieb und Buchhandel hat man sich erfolgreich bemüht alle Unebenheiten und Übergänge zu glätten.

In diesem Jahrzehnt wurde von Beginn an deutlich, dass auch für das Buch digitale Zukunftsperspektiven kommen würden. Aber offensichtlich hat man in vielen (den meisten?) Verlagen übersehen, in diese integrierten Abläufe auch die Möglichkeit einzubauen, digitale Buchformate anzulegen und sinnvoll herzustellen. Wie kann es sonst sein, dass uns vorgerechnet wird, dass der Wegfall von Druck, Papier, Lagerhaltung und Auslieferung per LKW kaum Einsparungen bringt (abgesehen von der zugegeben absurden Pointe, dass auf ein elektronisches Buch 15 Prozent Mehrwertsteuer, auf ein gedrucktes Exemplar jedoch nur 7 Prozent aufzuschlagen sind - was in dem Zeter & Mordio allerdings meistens unerwähnt bleibt).

In diesem Jahrzehnt wäre auch gut Zeit gewesen, funktionierende Nutzungsmodelle und anpassungsfähige rechtliche Grundlagen für die digitale Verwertung von Büchern vorzubereiten. Dann nämlich würde die Digitalisierung heute eine hoch willkommene weitere Verwertungskette eröffnen, ähnlich dem Taschenbuch oder Hörbuch davor. Dann nämlich könnten die Verlage wohl gerüstet mit Bibliotheken, mit Google und mit Amazon oder wem auch sonst über vernünftige Geschäftsmodelle verhandeln, die den Verlagen und vor allem auch den Autoren zusätzliche Einnahmen brächten.

Warum ist dies nicht geschehen?

Aber urteilen wir nicht pauschal. Denn es gibt gute Erfolgsbeispiele, mitten unter uns, etwa

- einen deutschen, mittelständigen und Eigentümer geführten Sachbuchverlag, der erfolgreich seine Wirtschaftstitel Unternehmen zur digitalen Abnahme im Firmeninternet anbietet;

- die vom Börsenverein des deutschen Buchhandels initiierte digitale Buchhandelsplattform Libreka, die völlig unaufgeregt und strategisch auf rigides wie umständliches digitales Rechtemanagement (DRM) zu verzichten plant, um die Kunden durch Einfachheit in der Nutzung zu gewinnen, statt diese unter Generalverdacht der Piraterie zu stellen;

Es gibt mehr und mehr Verlage, die neugierig und selbstbewusst mit kommerziellen Nutzungsmodellen am Internet und mit der Digitalisierung und Aufbereitung durch Google oder Amazon experimentieren.

Das wichtigste Stichwort ist wohl dieses: "selbstbewusst". Was mich wieder und wieder verblüfft ist, wie diese ganze Debatte von Ängsten getrieben ist, statt von Selbstbewusstsein einer der wichtigsten Kulturindustrien, die wir haben. Wie wenig sie der Zukunft zugewandt geführt wird. Wie sehr stattdessen mit immer wilderen Verfolgungs- und Untergangsmetaphern hantiert wird. Wer sich selbst so krank redet, wird bald ganz selbstverständlich als kranker Mann der Kultur betrachtet werden.

Mit ein wenig Abstand betrachtet schwant einem bald: Das könnte zu einem argen Boomerang werden.

Rüdiger Wischenbart