Virtualienmarkt

Kultur frisst Kultur. Ein Dilemma.

Von Rüdiger Wischenbart
18.05.2002. Das Internet verdrängt orale Traditionen - aber soll man darum für Artenschutz plädieren?
Philippe Queau versprüht, seinem Amtstitel eines "Directeur Information Society Division" bei der Unesco in Paris angemessen, den spröden Charme eines hohen internationalen Funktionärs, doch er benennt ohne Umschweife das Dilemma, in dem er arbeitet. Er fördert nach Kräften den Zugang zu Informationstechnologien und Internet in den vielen, weitgehend abgekoppelten Regionen Afrikas und Asiens. Aber er weiß, dass gerade diese Technologien, gerade in diesen Regionen und ihren Kulturen, ein wesentliches Stück traditioneller Kulturvielfalt abschneiden.

Philippe Queau ist kein Nostalgiker, der dem Aussterben rarer Schmetterlinge nachtrauert. Er weiß, aufgrund zahlloser einzelner Geschichten, Erhebungen und Fallstudien, dass die neuen Informationstechnologien, aus der gleichen Stärke und Logik heraus, einerseits den Zugang zur globalen Weltgemeinschaft erleichtern und damit in Richtung Chancengleichheit und Demokratisierung wirken. Doch andererseits engen sie den Lebensraum jener Formen von Kultur, die sich nicht aufs Netz übertragen lassen, dramatisch ein, denn sie disqualifizieren sie.

Im Augenblick etwa ist das Internet ein mächtiges Instrument der schriftlichen Kultur - also wirkt es gegen die wenigen und ohnedies fragilen, nur mündlich überlieferten Kulturtraditionen. Es verweist diese noch weiter ins Abseitige, Exotische. Wenn morgen das Internet überall multimedial sein wird, wird der gleiche Mechanismus nicht mehr gegen die oralen Traditionen, aber gegen jeweils andere, nicht integrierbaren Formen wirken - und es wird sehr schwer sein, bei bestem Wollen und Bemühen, diese Wirkungen auszubalancieren.

In Gegenden, in denen der Aufbau fester Telefonnetze am Geld, an der dünnen Besiedelung und an der fehlenden Infrastruktur scheitert, bietet Mobil- und demnächst noch mehr Satelliten-Telefonie eine Alternative an. Aber die Einführung des Handys stürzt all jene, die keines haben, noch ein Stück weiter ins Abseits als sie es ohnedies sind.

David Kessler, als oberster Hüter französischer Kino-Quoten gegenüber Hollywoods Dominanz in Paris, schützt Privilegien auf einem ohnedies hohen Niveau, und er tut dies aus Überzeugung, um französische gegen globale Kultur zu bewahren. Aber er notiert, kühl und faktisch, dass bei neuen Filmen auf DVD die Regulierung nicht mehr so klappt, sondern die Titel aus Hollywood viel besser laufen als die heimischen. Das liege an den "reseaux", an den Kanälen, den Pipelines, die die heiße Ware transportieren.

Szenenwechsel in den nicht-digitalen Alltag. Nach den langen Regentagen, gestern, am ersten heißen Abend, als aus allen Luken Sommerlust sprühte, musizierten in Linz in der Fußgängerzone ein Klarinettist und ein Akkordeonspieler virtuos, und doch spielerisch leicht - 'süffig' könnte man sagen - Klänge, die nicht gleich zu greifen oder, noch weniger, zu identifizieren sind. Nein, es sind keine Rumänen, es sind junge Leute aus der Region, die erst einmal gut Polka und Walzer zu spielen gelernt haben müssen, und dann vom umfassenden Musikvirus angesteckt wurden. Sie spielen Melodiefetzen aus Mozarts "Figaro", die sich mit balkanischen Volksliedern brechen, doch jeweils rasend, unruhig und unbestimmbar.

Auf einmal aber ertappe ich mich, wie ich nicht nur mitwippe, sondern mich festhake und bei einem Tango-ähnlichen Bogen schlau "Giora Feidman" zu identifizieren glaube. Doch da reißt plötzlich ein Faden.

Ich beobachte, wie schwer es fällt, selbst in der alltäglichen Wahrnehmung weiße, unbestimmte Flecken zu tolerieren. "Weiße Flecken", das sind Regionen, von denen wir wissen, dass sie real sind, aber dennoch offen, unbestimmt, also gefährlich bleiben.

Das ist eine banale Einsicht, ich weiß schon, denn deshalb wurde eine im Grunde unendlich mühsame TV-Serie wie "Akte X" zum größten Knüller nach der Erschaffung des "Raumschiff Enterprise".

Bloß, der Ausschluss aus der kulturellen Wahrnehmung von Erzählungen senegalesischer Griault-Sänger und verwandter Dorferzähler, die Abschaffung der allabendlichen, phantasmagorischen Transvestiten-Burlesken auf der Djemma el'Fna im marokkanischen (islamischen!) Marakesh, letztlich aber auch von den nach vielen Seiten hin sich austastenden, nicht gleich sich einordnen wollenden Spielversuchen irgendwelcher begabter Straßenmusikanten irgendwo zwischen Linz und Minneapolis bedeuten, dass diese Dinge nicht nur aus unserem Alltagserleben verschwinden (und sich deshalb, mühsam genug, in Fernseh-Serien übertragen). Sie verschwinden aus der lebendigen Welt.

Kurzum, wir haben ein ökologisches Kulturproblem, das allerdings mit keinerlei Artenschutz für kulturelle "Ethnotope" - oder irgendwelchen anderen wohlmeinenden Protektionsversuchen - auflösbar ist.

Wir sprechen nicht von ein paar exotischen Schmetterlingsarten.

Kultur ist doch immer auch Kommunikation. Zuerst spricht einer dabei freilich zu den Umstehenden, aber in Zeiten der Globalisierung gewinnen Übersetzungen aus einer Sprache und Kultur in andere enorm an Bedeutung. Pro Jahr werden weltweit - nach Statistiken der Unesco - rund 50.000 Bücher übersetzt. Das ist nicht gerade viel angesichts von jährlich mehr als 90.000 Neuerscheinungen allein in deutscher Sprache.

Etwa 75 von 100 Übersetzungen weltweit führen aus dem Englischen, dem Französischen und dem Deutschen in alle anderen Sprachen. Nur sechs Prozent hingegen bringen Texte - aus allen Sprachen der Welt - ins Englische. Dieser Bruch jedoch ist nicht singulär - zwischen dem Englischen, oder den Top 3 Sprachen englisch, deutsch und französisch und dem Rest der Welt. Stattdessen gibt es eine Kaskade, die gnadenlos jeweils vom kulturell Stärkeren zum Unterlegenen hinunterführt. Allein schon deshalb kann es hier keine Reservate, keinen Artenschutz und folglich auch keine "Erlösung" geben.

Einer ist stets noch weiter unterlegen. Mehr noch, erfahren wir von Monsieur Queau. Was dem nächst Stärkeren das Überleben möglich macht, deklassiert die jeweils mit ihm rivalisierende Minderheit.

Keine Erlösung in Sicht - aber mehr zum Stand der Dinge demnächst hier.