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Bücher, Porno und Zensur

Von Rüdiger Wischenbart
18.10.2013. In den Online-Katalogen der Buchhändler stehen in den Suchergebnissen Kinderbücher manchmal direkt neben Pornografie. In England hat der Buchhändler WS Smith deshalb tagelang seine Seite aus dem Netz nehmen müssen. Aber ist Zensur das richtige Mittel, die Unmoral im digitalen Unterholz zu bekämpfen?
Es war einmal, vor langer Zeit, da galten Bibliotheken als geheimnisvolle Orte. Nicht nur, weil die Holzregale bis hinauf zur Decke aus schwerem Holz geschnitzt waren und dunkel rochen, sondern auch, weil jede anständige Bibliothek ihren "Giftschrank" hatte. Darin befanden sich nicht unbedingt Rezepturen für wilde Kräuteraufgüsse, sondern erotischen Bücher, oftmals liebevoll mit Kaltnadelradierungen illustriert. Unvergesslich ist mir ein Besuch vor Jahrzehnten, als Radioreporter, in der österreichischen Nationalbibliothek, als mich die damalige Generaldirektorin an den schummrigen Ort führte, mit spitzen Fingern ein Bändchen herauszog - doch dieses nie und nimmer geöffnet hätte.

Heute regt sich kein Mensch mehr über Sex auf. Nach E.L James Sado-Maso Trilogie "Shades of Grey" in zigfacher Millionenauflage hatte Sylvia Day "Nie genug", und stürmte quer durch alle Bestseller Listen, von der amerikanischen New York Times nach Deutschland und rund um die Welt. Nur Apple, raunt man uns aus Cupertino (was für ein Ortsname!) zu, versuche ab und an die Moral zu retten, wenn wieder einmal ein Nippel aus dem iTunes Store fliegt, und zynische Menschen fragen, warum dann der US Klassiker "Moby Dick" von Hermann Melville keinen Anstoß errege. Alles Wurst, hätte man gemeint. Aber denkste.

Ausgerechnet in England, mit seiner großen Tradition der Sex Skandale unter Parlamentariern, Ministern Formel-1-Funktionären brach nun die Panik aus: Wer auf der Internet Seite der alteingesessenen Buchladenkette WH Smith nach harmlosen Worten wie "Daddy" suche, finde neben Kinderbüchern härteste pornografische Literatur. Das Boulevard Blatt Daily Mail titelte: "WH Smith's vile trade in online rape porn: Bookseller apologises after sales of sick ebooks are revealed." (Ungefähr zu übersetzen als: "Das schmutzige online-Geschäft von WH Smith mit Vergewaltigungs-Pornos: Der Buchhändler entschuldigt sich, nach dem der Verkauf kranker Ebooks enthüllt wurde." (Eine gute Zusammenfassung auf Deutsch brachte buchreport.de)
Angesichts dieser Breitseiten schloss WH Smith vorübergehend seinen online-Shop, und hat ihn auch nach Tagen noch geschlossen.

Die kanadisch-japanische Ebook Plattform Kobo, deren eBook-Katalog WH Smith verwendet, hat in der Folge alle Titel selbstverlegter digitaler Bücher für Großbritannien aus dem Netz genommen, denn die kriminalisierten Titel stammten nach Auskunft der Skandalpresse mehrheitlich aus diesem boomenden Segment. Kobo veröffentlichte eine Entschuldigung und versprach, alle "anzüglichen Titel" ("offensive titles") weltweit vom Netz zu nehmen, berichtete das Branchenmagazin The Bookseller und zitierte den PR Chef von Kobo, Cerys Goodall ausführlich: "We are working hard to get back to business as usual, as quickly as possible. Our goal at Kobo is not to censor material; we support freedom of expression. Further, we want to protect the reputation of self-publishing as a whole. While some may find our measures extreme, we are confident that we are taking the necessary measures to ensure the exceptions that have caused this current situation will not have a lasting effect on what is an exciting new channel that connects readers to a wealth of books." WH Smith legte nach, man sei "entsetzt".

Der entscheidende Nebensatz ist in Kobos Statement zu finden: "Our goal at Kobo is not to censor material; we support freedom of expression." Diese so schlichte wie wichtige Haltung durchzuhalten ist mehr als kompliziert.

Entfacht hat den angeblichen Skandal nicht die Zeitung Daily Mail, sondern eine Website, The Kernel, die ursprünglich den Technologiejournalismus in England zu erneuern versprach, und sich nun auf derlei Enthüllungen spezialisiert hat. Nach dem Porno-Ding wird nun noch nachgelegt mit der nicht eben taufrischen Entdeckung, wonach auf Amazon den Holocaust leugnende Literatur angeboten werde, auch in Ländern, wo derlei verboten ist. ("New Amazon Shame: Holocaust Denial") Im Juni hatte der Independent über das "infamuous online magazine" berichtet, es habe wegen nicht bezahlter Gehälter vorübergehend schließen müssen. Als "Executive & Operations" firmiert beim Kernel ein Aydogan Ali Schosswald, der sich anderswo als Business Angel und Investor für Startups sowie Mitbegründer einer Firma namens Berlin42 vorstellt, deren Internetseite jedoch offline ist. (Selbstdarstellung bei LinkedIn: "We build, accelerate and connect global technology startups.")

Wer oder was sich auch immer hinter The Kernel verbirgt, die Seite hat nun über Tage hindurch die zweitgrößte britische Buchhandelskette veranlasst vom Web zu gehen, und dies in Zeiten, wo gerade in Großbritannien (Buch-) Handelsketten schon unter normalen Umständen ums Überleben kämpfen. Und Kobo, gegenüber Amazon und Apple ein Herausforderer im internationalen Konkurrenzkampf um den entstehenden Ebook-Markt, hat eines der innovativsten und dynamischsten Segmente in dem neuen Geschäft ganz oder teilweise abgeschaltet, um schlimmeren Kollateralschäden vorzubeugen.

In den Presseartikeln wurde WH Smith herausgegriffen und vorgeführt mit dem Vorwurf, auf seinen Internetseiten, also im Buchkatalog, stünden Kinderbücher gewissermaßen Buchrücken an Buchrücken mit nicht nur normaler erotischer Literatur, sondern abartigstem Zeug, bis hin zu Kinderpornographie und Inzest. ("…with titles such as 'Pregnant With Daddy'") Nachsatz: Mehrere der 60 als pervers identifizierten Titel gebe es auch bei anderen Großbuchhändlern wie Amazon, Waterstones und Barnes & Noble.
Einer der beanstandeten Autoren - ich nenne ihn hier anonymisiert Z/D, weil ich die von mir eingesehenen Proben nachhaltig unappetitlich finde - betreibt ein umfangreiches Blog auf der wohl weltweit populärsten Blogplattform Wordpress (OpenSource, 60 Millionen Blogs), inklusive einer automatisch erstellten französischen Übersetzung über den Dienst von Microsoft, und verlinkt auf seine Bücher in den Online Katalogen von Nook (Barnes & Noble), Amazon Kindle, Smashwords (einer der weltweit populärsten Selbstverlagsdienste), Sony (Reader) und Diesel eBook Store.

Seine Bücher sind auch abrufbar im Angebot von Apples iTunes, ungeachtet der moralischen Richtlinien der kalifornischen Firma, und mehrere Titel wurden auf der weltweit größten, nun von Amazon übernommenen Lesercommunity Goodreads bewertet (einmal mit der Top Note von 5 Sternen, zweimal mit je drei, aber zugegeben, der Gesamteindruck scheint wenig verfangen zu haben, die Mehrzahl der da gelisteten Titel von Z/D blieben unbeachtet und gingen leer aus), sowie auf Shelfari, das ebenfalls zu Amazon gehört.

Die eBooks von Z/D finden sich auch im Online Angebot der französischen Fnac, die wiederum mit Kobo kooperiert. Auf deutschen Seiten habe ich sie indessen nicht gefunden. Eine entsprechende deutsche Stichwort Suche führte allerdings zu Titeln wie "Callgirls" von Elmore Leonard, erschienen bei Goldmann aus der Random House Gruppe (über Libreka aufgefunden, jedoch da "nicht lieferbar"), den Gedichtband "Nakedness, Death and the Number Zero" des "critically acclaimed poet and translator Brooks Haxton" (erschienen beim renommierten Verlag Knopf Doubleday Publishing Group in New York, ebenfalls zu Random House gehörend, via ebook.de von Libri), oder den "True Confessions of a London Spank Daddy" (erschienen bei Accent Press Ltd., gefunden über Weltbild).

Natürlich ruft die gesamte Geschichte auch den ursprünglichen Sündenfall bei Weltbild in die Erinnerung zurück. Damals, vor ziemlich genau zwei Jahren, knallte ein eher obskurer katholischer Newsletter dem im Eigentum von knapp zwei Dutzend katholischen Diözesen stehenden Buchhändler um die Ohren: auf seinen Internet-Seiten fänden sich so schreckliche Bücher wie "Die Anwaltshure" - übrigens kein selbstverlegtes Buch, sondern ein Titel aus einer im Verlag Blue Panther betreuten Serie. Der auf Erotica spezialisierte Verlag ist auch stets auf der Frankfurter Buchmesse zu finden.

Die damalige Enthüllung führte erst einmal zum panikartigen Beschluss der Weltbild-Bischöfe, die zweitgrößte deutsche Buchhandelskette, und gleichzeitig auch die nach Amazon zweitgrößte Online Plattform für Bücher (und nun ein Partner der Anti-Amazon "Tolino" Allianz), zum Verkauf auszuschreiben. Der Beschluss wurde mittlerweile zurückgezogen. Dem geplanten Konzernumbau von Weltbild zum digitalen Inhalte-Anbieter war der Skandal jedoch gewiss nicht förderlich. "Die Anwaltshure" ist immer noch Teil des katholischen Gesamtangebots und findet sich, zumindest indirekt über Partnerfirmen, auch im Online Katalog bei WH Smith.

Worum es mir mit dieser sich nun mehr und mehr verästelnden Geschichte geht, ist indessen ein zentraler politischer Befund: Alle diese Bücher, ob man sie mag oder nicht, sind nicht irgendwo im Abseits, in irgendwelchen dunklen Schmuddelecken vorrätig, sondern verfügbar auf allen großen Kanälen des Mainstream.
Eine Suche auf Amazon.de nach "Büchern" führt zu mehr als 14 Millionen Einträgen. Im Kindle Shop allein sind es 2,3 Millionen. In diesem nach allen Seiten sich unglaublich ausweitenden Angebot ist neben vielfältigster Literatur natürlich auch eine Menge Schrott enthalten. Pauschalverbote, Netzsperren und Zensur (oder, um nichts besser: Selbstzensur) sind hier grundlegend untaugliche Mittel um gesellschaftliche Normen durchzusetzen.

Jeder Versuch, mit Zensur die Unmoral im digitalen Unterholz zu bekämpfen, wird nur auf direktem Wege die Freiheit des Wortes und die rechtliche Grundordnung beschädigen, ohne deshalb dort eine klare Grenze zu ziehen, wo es nötig wäre: Wo es nämlich tatsächlich um Verstöße gegen geltendes Recht geht, etwa zum Schutz von Kindern, Minderjährigen und Abhängigen vor sexuellem Missbrauch. Zu diesem entscheidenden Punkt gab übrigens ausgerechnet das Skandalblatt Daily Mail den richtigen Rat: "Question: What can parents do to block access to the sites? Answer: The only thing parents can do is report sick books to retailers." Die Händler würden die Bücher dann aus dem Angebot nehmen. Und das letzte Wort haben ordentliche Gerichte.

Wenn hingegen schon irgendwelche Newsletter seltsamster Provenienz ausreichen, um Konzern-Vorstände und Chefredaktionen von großen Medien zum Kahlschlag zu veranlassen, dann ist es um die bürgerlichen Freiheiten bald ziemlich schlecht bestellt.

Rüdiger Wischenbart