Virtualienmarkt

Multikulti und das Netz

Von Rüdiger Wischenbart
23.11.2004. Die gegenwärtigen Multikulti-Debattierer verfehlen ihr Thema, wenn sie nicht auch über die Medien und über das Netz debattieren.
Wie passend, dass die neue Wertedebatte ausgerechnet an jenem Wochenende ausbrach, an dem Sibel Kekilli als "Shooting Star" mit dem Bambi ausgezeichnet worden ist.

Die öffentliche Parabel vom türkisch-deutschen Filmstar, der den Goldenen Bären auf der Berlinale gewinnt, dann von Bild als ehemalige Porno-Darstellerin durch die Gassen gejagt wird und nun, ausgerechnet als Bambi Preisträgerin, zur Anklägerin gegen die gnadenlose "Medienvergewaltigung" wird: Was könnte greller beleuchten, dass die vielen Kulturen der Einwanderer im Zentrum der deutschen Gesellschaft angekommen sind.

Kein Boulevardmedium könnte eine drastischere Geschichte finden, um, nein, eben nicht den "Kampf" der Kulturen, sondern die längst selbstverständliche Präsenz der kulturellen Vielfalt mitten in der Gesellschaft zu offenbaren, hier und jetzt.

Vor einem Kampf der Kulturen warnte an diesem Wochenende der deutsche Kanzler. Die Opposition rief das Scheitern der "multikulturellen Gesellschaft" aus, während zur gleichen Zeit an die 20.000 Muslime in Köln "gegen Terror und islamischen Extremismus" demonstrierten.

Über all dies zu diskutieren ist gewiss angebracht. Doch geht es dabei nicht nur um den Islam, sondern auch um mediale Bilder, um auseinanderbrechende Öffentlichkeiten, um Informationskanäle und mediale Vernetzungen. Diese Kulturdebatte ist zwangsläufig auch eine Debatte über die Medienwelt, also ein Gespräch mitten auf dem Virtualienmarkt.

Auslöser dafür war ein Film, genauer gesagt, der holländische Filmemacher Theo van Gogh, der nach allem Anschein aufgrund eines Kurzfilmes über die Demütigungen von Frauen in islamischen Gesellschaften von einem radikalen Moslem in Amsterdam ermordet worden ist.

Noch vor der blutigen Attacke hatten Kritiker aus der Kunstszene van Gogh vorgeworfen, in seinem Film die Bilder der iranischen Künstlerin Shirin Neshat, die in den letzten Jahren in allen avancierten Kunsthallen des Westens Furore gemacht hat, zu plagiieren. Mit der Ermordung van Goghs sind auch diese zuvor nur in Kunstkreisen kursierenden Bilder, ihre Geschichte und ihre Bedeutung, jäh in den europäischen Informations- und Politik-Mainstream gelangt. (Nutzer des Internets können den Vergleich selbst anstellen, denn sowohl van Goghs Film wie auch Arbeiten von Shirin Neshat können abgerufen werden.)

Dies sind nur wenige, willkürliche und gerade unmittelbar aktuelle Belege dafür, wie weit abgelegene Geschichten, Bilder und Personen mit einem Mal ins Zentrum der kollektiven Wahrnehmung rücken und hier mit ungeplanter, oder zumindest mit unvorhersehbarer Wucht wirkungsmächtig zu werden vermögen. Das Internet spielt dabei längst die Schlüsselrolle, und nicht mehr das Fernsehen, das meist nur noch verstärkt, was zuerst am Netz veröffentlicht worden ist.

Am Internet werden diese Bilder überdies unlöschbar. Sie bleiben verfügbar. Sie verschwinden nicht mehr. Sie bleiben real, weil sie für jeden neuen Neugierigen mit ein paar Klicks auffindbar sind. Das ist es ja, was Sibel Kekilli, die Schauspielerin von "Gegen die Wand", erfahren musste: Ihre Porno Vergangenheit, jeder einzelne Film, alles bleibt am Markt. Und dergleichen wird auch gleich moralisch bis an den Rand des Erträglichen ausgespielt, mit scheinbar harmlosen Fragen wie dieser: "Was sagen denn ihre konservativen türkischen Eltern dazu?" Mit ein paar Klicks sind auch die im Bild.

Auch das sollte Teil der neuen deutschen Wertedebatte sein.

Vor gut einem Jahr, am 3. Juli 2003, setzte der deutsche Bundestag eine Enquetekommission "Kultur in Deutschland" ein, die seitdem tagt, durch Deutschland reist und Experten anhört. Dagegen ist nichts zu sagen. Bloß, das "Bild", das sich diese Kommission macht, wörtlich, denn sie hat sich solch ein Bild auf die Website gelegt, besteht aus Gipsbüsten und Ölbildern von Goethe und Schiller, ein paar Buchregalen, ein paar Takten aus der Bundeshymne in Notenschrift. Punktum. Geladen und angehört werden Vertreter von Lobbying- Verbänden sowie "herausragende Künstler unterschiedlicher Sparten, z. B. Sasha Waltz und Wilhelm Genazino", die dann "der Enquete-Kommission über ihre Erfahrungen mit den unterschiedlichen Instrumenten der Künstlerförderung berichten."

Vom "Kampf der Kulturen", den Kanzler Schröder vermeiden will, vom Mord an Theo van Gogh oder auch nur vom Bambi-Alltag ist das rund ein bis zwei Jahrhunderte entfernt.

Im Magazin der New York Times erschien vor gerade einer Woche deren jährliches Special zum Thema Film. Statt, wozu es durchaus auch Anlass gegeben hätte, einmal mehr die globale Rolle von Hollywood durchzukauen, standen dort Expeditionen durch fremde Länder am Programm.

"Was ist ein ausländischer Film heute", fragte eine Titelgeschichte. Hollywood Schinken werden, nicht zuletzt aus Kostengründen, längst irgendwo in der Welt abgedreht. Cineastische Einflüsse von Belgien bis Taiwan und Bollywood wurden bedacht. Und doch, so der selbstkritische Befund, gehe eine chinesische Diva (Maggie Cheung!) immer noch nicht als amerikanischer Star beim Publikum durch. Warum?

Auch die akute Politik spukt durch das Dossier. Michael Ignatieff schrieb über "Terroristen als Autoren", die ihre Opfer seit Daniel Pearls Ermordung in Karachi 2002 der Welt bekanntlich in Snuff-Videoclips vorführen.

Das alles würde nicht über den Stehsatz hinausreichen, dass Medienbilder die Ikonen der modernen Gesellschaft sind - und das weiß man zumindest seit Vietnam.

Der wirkliche Aufreger im Times Magazine kam indessen aus der Langeweiler- Ecke, wo normalerweise etwas wie "Märkte & Analysen" drüber steht. Überschrift hier: Der Film wendet sich vom öffentlichen "Kino" ab und übersiedelt auf die Couch. Gähn.

Selbst bei den allerneuesten Blockbuster Filmen macht der Kartenverkauf an den US-Kinokassen bloß noch ein Fünftel des Umsatzes aus. Dreimal so viel (oder 63 Prozent) wird für DVDs und VHS Videos ausgegeben. Mit DVDs werden in den USA rund 15 Milliarden Dollar umgesetzt. Das ist vom Umsatz des gesamten US Buchmarktes von rund 25 Milliarden Dollar nicht mehr sehr weit entfernt.

Das neue "home theater" ist jedoch nicht mehr der öde Ort, an dem der Einzelne allein vor der Glotze hockt. Es ist der Knoten in landesweit verzweigten Netzwerken, verknüpft durch Nachbarschaftsbesuche, Mund zu Mund Propaganda (also Kleingruppen-Politik) und durch Partnerschaften bei (in der Regel illegalen) Downloads von Filmen aus dem Internet.

Über diese kaum überschaubaren, geschweige denn steuerbaren Privatkanäle werden längst Moden und Erfolgsgeschichten gemacht, oft vorbei an den Marketingstrategien der Industrie. Filme, ebenso Bücher und Musik, die über die konventionellen Vermarktungsschienen keine Chance hätten, erreichen in den neuen Netzen durch Schneeballeffekte mitunter ein riesiges Publikum.

Eine ganz ähnliche Geschichte, mit zahlreichen Fallbeispielen aus allen Bereichen der Unterhaltungsmedien, publizierte kürzlich auch das Magazin Wired, um am Ende zu konstatieren dass hier eine völlig neue Verwertungsumgebung entsteht, "an entirely new economic model for the media and entertainment industries, one that is just beginning to show its power."

Das Wort 'power', 'Macht', bringt das Thema aus den Gefilden der 'Kultur' zurück in die Politik und schließt so den Kreis zum Beginn unserer Geschichte.

Denn die informellen, häufig privaten Netzwerke zwischen Menschen, die nur bestimmte - etwa kulturelle - Vorlieben teilen, bietet eine gute Analogie, um zu begreifen, wie eine 'multikulturelle' Gesellschaft im Zeitalter von Internet und vielen anderen Medien funktioniert. Stellen wir uns viele kleine Gruppen von Menschen vor, um Couchtische und anderswo gruppiert, deutsche, türkische, natürlich ebenso vertriebenendeutsche, bosnische, kosovarische, somalische, französische, italienische, was auch immer.

Das sind die Knoten in den aktuellen Informationsnetzen, via Internet, Handy, mit jeweiligen Heimat- oder auch Propagandafilmen auf Video und DVD und mit Verwandtenbesuch, jedenfalls vernetzt 'in real time' - diese Art der Kommunikation ist schnell und effizient. Das ist, nebenbei, nicht nur ein Bedrohungspotenzial. Darin liegen Chancen, denn viele kulturelle Diskurse lösen sich in diesen Netzen auch wieder auf.

Andere jedoch nicht. Theo van Gogh wurde ermordet. Sibel Kekilli wurde zum Shooting Star, dann durch die Gasse getrieben, weil sie weder dem deutschen noch dem türkischen Klischee entspricht. Jetzt wird sie vielleicht zu einer Johanna der Integration und liest den Medien die Leviten. Hoffentlich verbrennen sie sie nicht.

Es sind diese explodierenden Nordlichter, die, hoch über dem zersplitterten Mediensofaland, gerade in ihrer Verzerrung, manchmal eine übergreifende Orientierung erlauben und anzeigen, wo wir stehen.

Ein Gespräch über neue oder alte Werte, über Kulturen und Kämpfe, ist entlang dieser komplizierten Nervensysteme zu führen - oder es findet weitab von den Gesprächen dieses Landes statt.

In einem etwas seltsamen, gemischt türkisch deutschen Weblog, schrieb 'Can': "hallo sibel weisst du was du bist ne dräcksau". Darauf antwortete 'ego': "voll peinlich!!! armes deutschland. drecksau mit 'ä'"

Ich finde, das ist schon ziemlich gut.