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Von Texten und Snippets

Von Rüdiger Wischenbart
01.09.2009. Ein kleiner Streifzug durch die Europeana zeigt, dass auch dort geschützte Werke frei zum Download angeboten werden - zumindest auf Slowenisch oder Ungarisch. Einige Tage vor dem nächsten Gerichtstermin zum Google Book Settlement stellt sich die Frage: Wann gibt es eine "fair use"-Regelung auch in Europa?
Nach manchen Medienberichten und Lobbyisten-Aussagen möchte man meinen, hier kämpfe ein Trupp europäischer Jedi-Ritter gegen Dark Vader Google aus Mountain View, Kalifornien, die letzte Schlacht um die Zukunft der globalen Kultur. Bei näherer Betrachtung der Agenda erinnert man sich jedoch eher an den unlängst verstorbenen österreichischen Bundeskanzler Fred Sinowatz. Der brachte es nämlich, als ihn einmal alles vereinfachende Befürworter und Gegner allzu sehr nervten (ich glaube, es ging um Kernenergie) gelassen so auf den Punkt: "Ich weiß, das klingt alles sehr kompliziert".

Es geht natürlich um das "Google Book Settlement". Am Freitag dieser Woche läuft die Frist für Eingaben ab. Und es geht um das EU- Hearing in der gleichen Angelegenheit am darauf folgenden Montag.

Google, so die Kürzestform der Kontroverse, klaue Autoren, Verlagen und Bibliotheken das angestammte Verfügungsrecht über digitale Inhalte von Büchern, die Google massenweise einscannt und in unterschiedlichsten Varianten, je nach urheberrechtlichem Status des Werkes (nach Einschätzung Googles), mal in ganzer Länge, mal nur in kleinen Häppchen ("Snippets"), auffindbar und als Text zugänglich macht. Die Europäer gingen in ihren Digitalisierungsprojekten dem gegenüber gesetzeskonform vor.

Vordergründig geht es dabei zwar nur um "verwaiste Werke", deren Rechtsinhaber nicht ohne übermäßigen Aufwand auszumachen sind. Aber die Chose hat sich längst zum Kulturkampf gemausert, in dem darüber gefochten wird, wer die digitalen Zugänge rund ums Buch kontrolliert, und wer welche Besitzstände (oder Zukunftsoptionen) besetzt.

Wenn es denn nur so einfach wäre. Recherchiert man etwa im Projekt Europeana, dem großen Verbund europäischer Bibliotheken und ihrer digitalen Bestände, nach einigen der großen europäischen Schriftsteller, deren Urheberrecht noch nicht abgelaufen ist (die also noch leben oder vor weniger als siebzig Jahren verstorben sind), dann fällt erst einmal auf, wie wenige Textdokumente da vorliegen inmitten eines Vielfachen an Bilddokumenten.

Nehmen wir Thomas Mann. Zu ihm finden wir auf Europeana 152 Bilder und 45 Textdateien. Von diesen Textdateien sind zehn tatsächlich Texte des 1955 verstorbenen deutschen Nobelpreisträgers - neun davon auf Ungarisch, darunter Schlüsselwerke wie "Tonio Kröger", im Volltext, sowie ein Artikel "Moderne deutsche Autoren: Thomas Mann", ein griechisches Dokument, das sich allerdings nicht öffnen lässt.

Die ungarische Szechenyi Nationalbibliothek präsentiert nicht nur Thomas Mann, sondern eine wahrlich umfassende Auswahl moderner Klassiker in unterschiedlichsten digitalen Formaten in ungarischen Übersetzungen. Zu finden ist etwa der argentinische, 1986 verstorbene Erzähler und Essayist Jorge Luis Borges, mit allen wichtigen Erzählungen, oder auch "Die Pest" des französischen Moralisten Albert Camus.

Bemerkenswert ist der - ungarisch wie englisch beigegebene - Copyright-Ausweis, der sich bei einigem Suchen finden lässt, und der die "Hungarian Electronic Library" MEK als "Administrator" der öffentlichen Textsammlung ausweist:

"The copyright and other privileges are owned by the author/owner of the document (if he/she is known). If the author or owner expressly specifies conditions regarding the distribution and usage somewhere in this text, then those terms overrule the limitations stated below. Furthermore he or she is responsible for that too, that the distribution of this document in electronic form doesn't hurt some other person authorship rights.?

Als Administrator behält sich MEK das Recht vor, Texte gegebenenfalls auch wieder zu entfernen, und sie räumt den Nutzern verblüffend umfangreiche Nutzungsrechte ein, die wohl nicht durch die tatsächlichen Rechteinhaber gedeckt sind:

"This document can be freely copied and distributed, but you can use it only for personal purposes and non-commercial applications, without modifying it, and with proper citation to the original source."

Ein weiteres gutes Beispiel ist der moderne Klassiker Paul Valery (1871-1945), dessen US-Bibliotheks-Digitalisierungen durch Google ein wesentlicher Stein des Anstoßes für Frankreichs Vorstöße in Richtung Europeana gewesen waren. Sucht man nach Valery in Europeana, wird man unter mageren zehn Text-Fundstellen als erstes an die National- und Universitätsbibliothek Ljubljana verwiesen. In slowenischer Übersetzung bietet Europeana Valerys wichtige zwei Briefe "Über die Krise des Geistes" (auf slowenisch "Kriza duha", hier als pdf) an, übrigens ohne jeden bibliographischen Hinweis auf eine gedruckte Quelle (nur ein sehr allgemeines "Aus der Sammlung Variete, A.D." steht klein gedruckt am Ende des Dokuments), noch auf Übersetzer oder Copyright.

Dieser Text Valerys war ursprünglich 1919 auf Englisch unter dem Titel "The Crisis of the Mind" bei Athenaeum in London erschienen, und im selben Jahr noch auf Französisch in der August Nummer der Nouvelle Revue Francaise nachgedruckt worden. Diese Details entnehme ich einer anderen Online-Ausgabe der zwei Valery-Briefe bei Historyguide.org, einer Website für "high school and undergraduate student(s)" mit der Mission, "education" im "Geiste Sokratischer Weisheit" zu revolutionieren, einer unabhängigen not-for-profit Organisation in Burlington, Massachusetts, die zu den Texten gleich noch ihre eigenen, einer Creative Commons Lizenz angenäherten Nutzungsbestimmungen hinterlegt.

Den vollständigen französischen Text von Valerys "La crise de l?esprit" finde ich auch noch, sorgfältig aufbereitet, mit extra Umschlagseite, genauen bibliographischen Angaben für die englische wie französische Erstausgabe und einem Verweis auf Pierre Palpant, der die digitale (französische) Ausgabe hier aufbereitet hat (inklusive seiner Email Adresse!) in der digitalen Klassikersammlung der Universite du Quebec a Chicoutimi, hier als pdf.

Paul Valerys zwei Briefe über die "Krise des Geistes" gibt es natürlich, weil nicht rechtefrei, weder im Angebot von Europeana, noch bei dessen Quelle, dem digitalen Prestigeprojekt der französischen Nationalbibliothek, Gallica.)

Den Text von Thomas Manns "Tonio Kröger" finde ich zudem auf dem für manch Urheberrechtsverstöße ins schiefe Licht geratenen, sonst aber durchaus auf legale Textgaben ausgerichteten Portal Scribd, sowie, viel origineller, auf Deutsch und Italienisch, fein säuberlich in zwei Spalten dargestellt, als Übersetzungsübung von Heinrich F. Fleck, mitsamt Copyrightvermerk für die italienische Übersetzung für 2007, auf Italiens größter Partnervermittlungsseite "Amore Infinito", einem Ableger des auch in Deutschland erfolgreich vermittelnden Portals Meetic. Im ausführlichen Vorwort wird auch die "casa Fisher" (sic! Also S. Fischer in Frankfurt) als Inhaber der Originalrechte an Thomas Mann angeführt.

Google Books weist bei ihren katalogisierten Titeln von Mann oder Valery, soweit ich feststellen konnte, bei den Titeln in Originalsprache überaus korrekt zumeist nicht einmal eine "Vorschau" auf den Text aus. Allerdings findet sich bei Google eine englische Auswahl der "Writings" von Valery von 1950 im Volltext, mit einigen Gedichten auch im französischen Original, aus dem legendären, amerikanischen Literaturverlag New Directions Publishing Corporation (gegründet 1936, unter anderem der Verlag von Ezra Pound und William Carlos Williams, Dylan Thomas, oder heute Robert Walser und Roberto Bolano - mehr hier) - die, in neuer Ausstattung, übrigens immer noch im Handel verfügbar ist und über den zur Holtzbrinck Gruppe gehörenden Verlag W.W. Norton ausgeliefert wird.

Umgekehrt aber ist zu vermerken, dass Thomas Manns "Tonio Kröger" als e-Book bei Mobipocket auch ganz legal für 1,20 Euro erworben werden kann.

Die nur kursorische Recherche aus der Perspektive eines interessierten Lesers nach gerade einmal zwei Autoren, je einem modernen Klassiker aus Frankreich und Deutschland, beide noch unter Copyright, doch beide keineswegs Renner in den Verkaufsstatistiken ihrer Verlage (Gallimard für Paul Valery, der zur Holtzbrinck Gruppe gehörende S. Fischer Verlag für Thomas Mann), kann zumindest andeuten, wie vielfältig präsent Bücher und deren Texte heute im Web bereits sind - und wie absurd sich die Lücken ausmachen. Dabei habe ich echte Piraten-Adressen hier bewusst völlig außer Acht gelassen.

Als Leser bezweifle ich, dass an diesem Punkt der Entwicklung die für mich beste Lösung in einem fundamentalistisch ausgetragenem Rechtsstreit zwischen Autoren- und Verlagsverbänden und Google zu finden ist, gerade auch wenn mir daran liegt, dass Autoren und andere, die Arbeit in die Werke investieren, dafür bezahlt werden.

Vielmehr denke ich, dass es zwar nicht angeht, einfach amerikanisches Recht in Europa anzuwenden und die Unterschiede einfach auszublenden. Aber ich empfinde eine echte Sehnsucht, als pragmatische Brücke, nach einer Art des amerikanischen "fair use" als einer einfachen, auf nicht-kommerzielle Verwendungen beschränkten Nutzungsoption. Denn nur dies garantiert - ganz der Forderung gerade der europäischen Standesvertreter entsprechend -, dass das Buch seine Rolle in der Mitte von Kultur und Gesellschaft behaupten (und, möchte ich ergänzen: weiter zu entwickeln) vermag.

Ich teile zwar die Skepsis gegenüber einem Quasi-Monopol für eine Firma, egal welcher Art, über die "Welttextmasse" (so Peter Glaser). Aber es kann wohl keine sinnvolle Lösung sein, in einem Umbruch dieser Größenordnung einfach zu glauben, man könne per Gerichtsbeschluss den Status quo einfrieren, in der Hoffnung, dass viele Gremien endlich des Columbus Ei legen, obgleich sie schon in den vergangenen fünf Jahren - seit dem Beginn von Googles Bibliotheks-Digitalisierung 2004 - bewiesen haben, dass sie doch nur rufen "Haltet den Dieb!", in der Hoffnung, dass der Staat erledigt, was sie nicht vermögen.

Die erfreulichste Meldung kommt an dieser Stelle ein wenig überraschend aus Brüssel. Statt auf die Gerichte vertraut die scheidende Kommissarin für die "Informationsgesellschaft", Viviane Reding, auf offensive Konzepte: "We should create a modern set of European rules that encourage the digitisation of books." Und sie schließt gleich die beiden Schlüsselsätze an: "If we do not reform our European copyright rules on orphan works and libraries swiftly, digitisation and the development of attractive content offers will not take place in Europe, but on the other side of the Atlantic. Only a modern set of consumer-friendly rules will enable Europe's content to play a strong part in the digitisation efforts that has already started all around the globe." (Mehr hier)

Die Jedi-Ritter wie auch Dark Vader passen besser zum Film (oder in einen Roman), als in ein Zukunftskonzept für Leser, Autoren und Verlage.

Rüdiger Wischenbart


Ein zweiter Teil über Verwirrungen und Verwerfungen rund ums digitale Buch, über Interessensgegensätze zwischen Autoren und Verlagen, und über interessante Konzepte für Praktiker - und vorbei an Fundamentalisten - folgt.