04.07.2003. Wie "verbohrt ist der IG-Metall-Zweite Jürgen Peters?" fragt Josef Joffe im Leitartikel der Zeit. "Oder mit Karl Marx: Wie weit schlurft das Bewusstsein dem Sein hinterher?" Wollen Sie das lesen? Und wenn ja, wollen Sie das auch hören? Die Zeit bietet seit kurzem einen Audio-Dienst an, der neue Nutzer auf ihre Internetseiten locken soll.
In bestimmter Hinsicht ist das Internet ein
Medium ohne Eigenschaften: Herkömmliche Medien, wie Zeitungen, Magazine, Radio oder Fernsehen haben ein jeweils ein begrenztes Repertoire an Zeichen und technischen Fähigkeiten. Im Universalmedium Internet/Computer gehen bekanntlich all diese "alten" Medien auf - was auch bedeutet, dass nun all diese Zeichensysteme unmittelbar miteinander konkurrieren: Schrift, Audio, Video oder animierte Grafik - was ist für den jeweiligen Vermittlungsakt am besten geeignet?
Bei journalistischen Online-Angeboten schlägt sich dabei das geschriebene Wort - ergänzt um Fotos - bislang ganz hervorragend.
Video-Streams werden nur sehr selten angeklickt.
Animierte Infografiken werden zwar zunehmend genutzt (schönes Beispiel
hier), doch ihre Rolle bleibt bislang ergänzend.
Das Primat des geschriebenen Wortes mag in einigen Fällen fehlender Bandbreite oder ökonomischen Zwängen auf Seiten der Redaktionen geschuldet sein. Als Print-Journalist ist man jedoch geneigt zu vermuten: Im direkten Vergleich treten bei journalistisch-nachrichtlichen Inhalten die Vorteile der
Schrift klar hervor. Die Selektivität des Lesens passt hervorragend zur Interaktivität des Online-Mediums. Zeitbasierte Medien, wie Audio und Video, lassen sich schlichtweg schlechter navigieren und indexieren. Noch wichtiger aber erscheint, dass bei vielen Themen bewegte Bilder und Töne
schlichtweg unnötig, wenn nicht gar hinderlich, sind. Der Philosoph
Vilem Flusser war stets davon fasziniert, dass Texte Bilder zerreißen könnten, um unsere "Vorstellungen zu ausgerichteten Zeilen, zu zählbaren, erzählbaren, kritisierbaren Begriffen zu ordnen."
Joachim Widmann, stellvertretender Chefredakteur der
Netzeitung, sagt etwas nüchterner: "Diskursiv lässt sich Information nur über das geschriebene Wort vermitteln."
Bislang wurde bei journalistischen Angeboten das Internet vor allem dazu genutzt, Geschriebenes technisch aufzurüsten und zu beschleunigen. Dahinter kann durchaus auch die Überlegenheit des Prinzips Text für derartige Inhalte vermutet werden. Im Netz findet eine
tägliche Abstimmung darüber statt.
Ausgerechnet die traditionsbewusste und zuletzt online wenig agile
Zeit verlässt nun die geschriebenen Pfade: Seit Mitte Juni kann man sich Teile der Wochenzeitung online
vorlesen lassen.
Andreas Arntzen, stellvertretender Geschäftsführer der
Zeit, ließ sich vom wachsenden Hörbuchmarkt zu dieser Idee inspirieren. Im
Zeit-Shop bietet er gleich einen passenden MP3-Player an, damit man sich die
Zeit-Texte zukünftig auch
beim Joggen oder auf dem Weg zur Arbeit anhören kann. Dabei hofft Arntzen, so gerade auch Jüngere für die
Zeit zu gewinnen. Das Hörangebot soll dem großformatigen Blatt neue Nutzungskontexte und -gruppen erschießen.
Den Puristen graust es hier: Ausgerechnet die
Zeit biedert sich bei jenen an, die sie - aus welchem Grund auch immer - nicht einfach lesen wollen? Wer so argumentiert, hält die Zeitung wahrscheinlich ohnehin schon für das perfekte Produkt. Ein Kritiker
bemängelte, die Texte würden
überdeutlich gelesen und seien schlicht nicht zum Hören geschrieben. In einigen Fällen mag dies zutreffen, andererseits machen sich die
Zeit-Texte im Duktus des öffentlich-rechtlichen Kulturradios gar nicht so schlecht. Beachtlich ist, dass die
Zeit angesichts erbitterter Kulturkämpfe zwischen Print und Online-Medium überhaupt diesen Schritt wagt. Er ist dabei
allemal spannender, als die Zeitung online allein als "e-paper" zu vertreiben.
Bislang waren vor allem aktuelle journalistische Online-Angebote von Erfolg gekrönt.
Spiegel Online erzielt als aktuelle Nachrichtensite inzwischen die zwanzigfachen Zugriffszahlen von
Zeit.de. Die
Zeit geht nun einen andern Weg: Der Audio-Dienst soll Teil eines Bündels von Zusatzangeboten zur Zeitung werden, die als "New-Media-Abonnement" kostenpflichtig sein werden. Die Site ist damit nicht mehr so sehr potenzielles Geschäftsfeld für einen Massen- und Werbemarkt, sondern eher
Distributionskanal für kostenpflichtige Zusatzdienste.
Dabei ist Arntzen stolz darauf, einen Service gefunden zu haben, der sich so nur im das Internet installieren lässt: "Wir wollen die Schnittfläche zwischen Print und Online mit Audio ausfüllen. Dabei wollen wir nicht Radio online bieten, sondern etwas, das so nur online möglich ist."
Nach ersten Serverdaten zu urteilen, die er dem
Perlentaucher nun zukommen ließ, scheint sich Experimentierfreude der
Zeit auszuzahlen: Rund
140.000 Hör-Dateien wurden im Juni abgerufen, über die Hälfte davon wurde zum späteren Lauschen lokal gespeichert. Auch wenn man Server-Daten stets skeptisch behandeln sollte, die Tendenz scheint beachtlich. Dieser Erfolg der
Zeit bringen den schon etwas angestaubten Kanon dessen, was
online journalistisch erfolgreich ist und was nicht, wieder ein wenig in Bewegung. Dabei mag man bezweifeln, dass ein solches Audio-Angebot als Bezahldienst schnell die kritische Masse erreicht. Angesichts steigender Bandbreiten erscheint der Hunger der Internet-Nutzer nach neuen journalistischen Diensten jedoch zu steigen.
Demnächst will die
Zeit auch einen
SMS-Dienst starten. Darauf wird gespannt gewartet: Verschickt die Wochenzeitung "Breaking News" oder erfindet sie den täglichen 160-Zeichen-Leitartikel?