Virtualienmarkt

Die Fünf-Euro-Grenze

Von Rüdiger Wischenbart
24.09.2004. Dem Buchmarkt stehen ähnlich revolutionäre Änderungen bevor wie der Musikindustrie.
Man sollte tunlichst vermeiden, die Zukunft vorauszusagen, bevor sie stattfindet. Das ist eine gute Faustregel für Glossisten und Berater. Deshalb ist dieser Virtualienmarkt dem Zehn-D-Mark-Buch gewidmet.

Fünf Euro sind in Rekordzeit zur wichtigsten Preismarke für Buchkunden geworden. Es geht dabei längst nicht mehr (nur) um die Billig-Strategien von Weltbild aus Augsburg, die damit, über Versandhandel, "Weltbild plus"-Läden und, besonders rasant wachsend, auch im Internet zu Deutschlands aktuell wohl größtem Buchhändler geworden sind.

Die qualitätsvolle Roman-Bibliothek der Süddeutschen Zeitung ist bekanntlich um unter fünf Euro zu haben. Nun startet im Oktober eine Gemeinschaftsaktion von Weltbild und Bild Zeitung mit dickleibigem Lesefutter. Den Auftakt macht Mario Puzos "Pate" wiederum zum Preis von 4,90.

Aber auch wenn man die Online und anderen Buchkataloge aus dem Buchhandel durchstöbert, grassiert eine Preisschlacht, wie es sie in Deutschland, dem Land, in dem feste Buchpreise zur nationalen Identität gehören, zuvor nicht gegeben hat. Amazon, das die Buchpreisbindung grundsätzlich respektiert, bewirbt listenweise "Kalender unter 1 Euro" und "Schnäppchen bis zu 3 Euro".

Der größte, weil flächendeckende Druck aufs Preisgefüge aber kommt von gebrauchten Büchern. Jedes fünfte gebrauchte Buch wird, wie der Spiegel unter Berufung auf eine entsprechende Untersuchung jüngst meldete, übers Internet verkauft (gegenüber 5 Prozent bei neuen Titeln). Der auf gebrauchte Bücher spezialisierte Dienst ZVAB meldete, passend zur Erfolgskurve, unlängst die Aufnahme des zehnmillionsten Titels in seine Kataloge. Und da alle großen Buchkataloge online den direkten Vergleich zwischen Neuware und gebrauchten Titeln forcieren, in dem sie beide Suchergebnisse parallel ausweisen, steht dem gebundenen Preis der freie gebrauchte Handelswert Buch für Buch vor den Augen der Leser.

Was aber bedeutet es, längerfristig, wenn sich die finanzielle Einstiegsschwelle für Bücher plötzlich halbiert - von bis vor kurzem zehn Euro fürs Taschenbuch? Eine Menge.

Im Virtualienmarkt waren einige erste Vermutungen schon zum Start der Süddeutsche Bibliothek im April nachzulesen. Aber damals war es noch kaum absehbar, wie rasch die Lawine an Schwung und vor allem an Breite zulegen würde. Nun, mit ein paar Monaten mehr an Einsicht und Erfahrung, lässt sich munter weiter spekulieren.

Der massive Markteintritt der Zeitungen deutet an, dass sich hier immer neue Vertriebskanäle auftun. Neben Süddeutscher und Bild bringt die Zeit neuerdings enzyklopädischen Content von Brockhaus auf CD-Roms unters lesende Volk. Vom letzten "Harry Potter"-Band haben wir noch frisch in Erinnerung, dass diese dickleibigen Bücher plötzlich an Tankstellen herumlagen, und dies sehr zum Groll und zur - berechtigten - Besorgnis der traditionellen Buchhändler, die rasch erfasst hatten, dass hier ihrem traditionellen, mit viel gesellschaftlich kulturellem Konsens auch geschütztes Gewerbe fundamentale Konkurrenz erwächst.

Von der Musikindustrie haben wir überdies gelernt, dass die Innovationsschübe eher nicht aus der eigenen Branche kommen, sondern von nebenan. Die Computerschmiede Apple hat das erste funktionierende und vom Publikum angenommene Internet-Vertriebsmodell zum Erfolg geführt. Dann erst sprangen die Musikkonzerne hinterher. Apples Ziel war überdies nicht primär, ein völlig neues Geschäftsfeld zu erschließen, sondern die kleinen Geräte namens iPod stärker zu positionieren.

Bei Büchern könnte durch den Preisschwellenrutsch ganz Vergleichbares passieren.

Mit fünf Euro für ein ganzes Buch - und für 99 Cent womöglich demnächst für ein längeres Kapitel - sind Buchinhalte plötzlich im Taschengeldbereich jener Jugendlichen angelangt, für die es längst kultureller Alltag ist, sich Musik - also Inhalte - aus dem Netz runterzuladen.

Für das Umfeld von Schule und Freizeit - für den sogenannten "Nachmittagsmarkt" von Lernhilfen bis hin zu unterschiedlichsten Lebenshilfeangeboten - öffnet sich da plötzlich ein völlig neues Feld. Aber auch in Apotheken und Drogeriemärkten, in Baumärkten und natürlich auch an der Tankstelle lässt sich bei 5 Euro so manches ausdenken, was innerhalb der traditionellen - auch der kulturellen - Grenzen des Buchhandels bislang noch keinen Platz hatte (Tantiemen aus der Umsetzung guter Anregungen hier bitte zu gleichen Teilen an den Perlentaucher und den Virtualienmarkt. Der Virtualienmarkt nutzt damit im übrigen auch, im Vertrauen auf seine Überzeugungen, das Internet als effektives Marketinginstrument... )

Gedanklich noch viel interessanter aber ist, ob sich in diesem sich öffnenden Gefüge nicht auch eine Menge von Nischen bespielen lässt. Wer etwa macht den ersten Verlag auf, der - gedruckt und online - gezielt auf die Leser unter 30 Jahren setzt, mit Inhalten, Formaten und natürlich einer entsprechenden Visualisierung, die auch die Grenzen zwischen Papier und Pixel, Sachbuch und Comics, Text, Bild und Musik nicht mehr respektiert? Die Chancen, dass hier zwischen den großen Klötzen der Kulturkonzerne frisches Gras wächst, sind real.

So ein neuer Markt ist, im Marketingjargon gesprochen, "user driven". Das heißt, er ist ungemütlich im Vergleich zum traditionellen Buchgeschäft, schnell, launisch, anfällig für rasche Wechsel in den Vorlieben des Publikums, und damit gewiss keine paradiesische Aussicht für das Gewerbe, so wie es derzeit besteht, weder für den Buchhandel, noch für die Verlage.

Aber offenbar lohnt es sich, über solche Dinge nachzudenken. Sonst hätten es nicht bereits die Kolleginnen und Kollegen von der Süddeutschen bis zu Weltbild getan. Und damit ist es doch eine schöne Alternative zum Klageton und zur Krise. Finden Sie nicht?