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Weshalb Hänschen nicht mehr Zeitung liest

Von Rüdiger Wischenbart
04.04.2003. Der Krieg zeigt: Durch den Zugewinn an Information verlieren die Medien an Autorität.
Kein Krieg wurde wohl so intensiv über Medien vermittelt wie der aktuelle im Irak, und zwar nicht nur was die Menge der Berichte, sondern auch was die Vielfalt der Perspektiven anlangt. Dennoch scheint es, als meinten Leser und Seher mehr denn je, nicht die Wahrheit, sondern bloß Sammlungen voll Propaganda vorgeführt zu bekommen. Dieser Konflikt könnte das Verhältnis zwischen Informationsmedien und ihrem Publikum im Innersten erschüttern.

Das Abwinken im Freundeskreis, man könne ohnedies die Wahrheit nicht von ihren gezielten Entstellungen unterscheiden, spiegelte sich bald in Kommentaren angesehener Leitmedien, die ebenfalls sagten: Wir wissen nicht, was wir wissen, und was uns vorgegaukelt wird.

Erstaunlich daran aber ist unsere Verwunderung über diese Informationsunsicherheit, ganz so, als seien wir bei den vorangegangenen Medienkriegen, beim Golfkrieg 1 etwa, oder beim Zerfall Jugoslawiens, tatsächlich stets selbst vor Ort gewesen, um uns aus erster Hand der Wahrheit und ihrer Darstellung zu versichern. Waren wir aber nicht. Oder doch?

Als die jugoslawische Bundesarmee in Slowenien einfiel, telefonierte ich nahezu jeden Abend mit Freunden in Ljubljana. Die Frage "Wie geht es euch heute?" war die einfachste Art, ein wenig direkte Unterstützung zu zeigen, und nach rund zehn Tagen war diese Etappe ja auch vorbei. Auch als die jugoslawischen Sezessionskriege weiter gingen, blieben solche Verbindungen lange Zeit aufrecht. Die Vertreibungen bosnischer Muslime in Foca oder Gorazde dokumentierten Menschrechtsgruppen gewissermaßen in Echtzeit in täglichen, ellenlangen, detaillierten Email-Rundbriefen. Selbst ins belagerte Sarajewo gab es immer wieder Telefonverbindungen. Und Prominente aus New York oder Berlin halfen sogar, Theateraufführungen und ein Filmfestival zu organisieren. Während der Bombardements in Serbien und im Kosovo riss die Internet-Verbindung nach Belgrad nie länger als für ein paar Stunden ab.

Kurzum, so nahe und so vorstellbar war in meiner Generation bis dahin kein Krieg gewesen.

Diese Nähe - hergestellt durch Nachrichten in Echtzeit, die nicht nur über die großen, anonymen Medienkanäle einlangten, sondern über Telefon und andere persönliche, gewissermaßen alltäglich Wege - wurde rasch zur Norm, zur Gewohnheit im Austausch mit der Welt.

Denn in der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre drang die Nutzung des Internet in den Alltag ein, mit Email, aber auch mit interaktivem Chat, mit globalen News und internationalen Börsennotierungen für jedermann, ohne zeitliche oder räumliche Unterbrechungen.

Was erst wie ein unterhaltsames und faszinierendes Globalisierungsspiel begann, kippte erstmals, als die Aktienkurse, die viele täglich am Bildschirm verfolgten wie Sportergebnisse und auf die sie nun ihr echtes Geld gesetzt hatten, nicht mehr nur stiegen, sondern in den Keller fielen. Der neue Volkssport entpuppte sich als ein gefährliches Spiel, bei dem es auch reale Verluste zu erleiden gab.

Als die ersten Bombennächte - aus Bagdad 1991, und dann, schon viel näher, aus Belgrad - live im Fernsehen übertragen wurden, schien die Distanz gegenüber diesen Kriegen noch intakt. Denn wer im Recht war und wer gewinnen würde, stand weitgehend fest. Und vom Fernsehen wussten alle, so wie von den Zeitungen, dass sie beanspruchen konnten, eine unordentliche Welt einigermaßen ordentlich in Bildern und Kommentaren wiederzugeben.

Bei dem neuen Krieg gegen den Irak, dessen Legitimität und dessen weitere Entwicklung vielen als zweifelhaft erscheinen, zerfiel dieser Zusammenhalt von Anfang an. Die westlichen Leitmedien mussten ihrem Publikum erklären, weshalb ihre Reporter in Armeeeinheiten der Angreifer eingebettet waren, während andere, etwa in Bagdad, wiederum der irakischen Zensur unterlagen. Kein Verlass nirgendwo.

Nicht nur die Umstände, auch die Quellenlage wurde zusehends unübersichtlich. Die Live-Bilder aus Bagdad werden zunehmend zusammengekauft und von unterschiedlichsten Urhebern zusammengekauft, insbesondere von Al Jazeera, Abu Dabi TV und Al Arabya.

Ein paar Journalisten von CNN und der BBC waren die ersten, denen die eigenen Berichte allein nicht mehr ausreichten, und so stellten sie, zusätzlich zu ihrer eigentlichen Arbeit als Profi-Reporter, fortlaufende persönliche Tagebücher (Blogs) ins Internet. Aus Bagdad meldete sich überdies ein lokaler Beobachter unter dem Pseudonym Salam Pax mit einem eigenen Blog.

Zudem schwärmten private, semiprofessionelle, aber auch professionelle Kommentatoren in unübersehbarer Zahl aus, die jede Meldung wiederum kommentierten, Querverweise und Erklärungen hinzufügten. Auch die angestammten Zeitungen und Rundfunkstationen legen auf ihren Websites Dokumentationen und Sammlungen mit weiterführenden Materialien an, die jedem zugänglich sind. Selbst CNN oder die Tagesschau, die ehemals soliden Kanzeln im Informationsbetrieb, sind nur noch jeweils eine Stimme neben vielen.

Wer sich in den Sog der Nachrichten und Kommentare begibt, gerät rasch in einen Wirbelsturm. Die Grenzen zwischen den realen Ereignissen und ihren medialen Spiegelungen verschwimmen, und das Bild vom Geschehen wurde darüber nicht deutlicher, sondern es verfloss immer mehr.

Das Paradoxon ist, dass der Zugewinn an Information beim Publikum nicht Gewissheit, sondern Verunsicherung hervorrief. Die Herstellung von Unmittelbarkeit und Nähe erschreckt.

Sobald eine übergreifende, gemeinsame Sicht auf die Welt und ihre wichtigen Geschehnisse unmöglich ist, sucht jeder Informationen und Deutungen wo, wann und wie es gerade gefällt. Das Resultat sind einerseits, wie eh und je, Verschwörungstheorien und Angst - denn man vermutet hinter den gezeigten Bildern eine zweite, verborgene Wirklichkeit -, andererseits aber wohl auch bei manchen die schlichte Abkehr von Medien, deren Autorität nicht mehr trägt.

"Weshalb Hänschen nicht mehr liest", überschrieb die Zeitung Newsday kürzlich einen Bericht darüber, dass in den USA "junge Erwachsene" zwischen 18 und 34 durch die traditionellen Informationsmedien kaum noch zu erreichen seien. (1)

"The demographic trends do not favor one-size-fits-all news products" wird Peter Francese von der Fachzeitschrift American Demographics zitiert: "There isn't one community to serve. It's gone.? Stattdessen sucht sich diese Generation - übrigens längst auch in Europa - mit großer Selbstverständlichkeit Informationen aus unterschiedlichsten Nischenmedien zusammen.

Das Publikum zerstreut sich - im doppelten Sinn. Für die großen - und auch die kleineren - Informationsmaschinen wird es nicht einfach sein, das Terrain als Mittler zwischen den Ereignissen und dem Publikum - und damit dessen Vertrauen - zurückzugewinnen. Die Informationsgesellschaft, das lässt sich mit einiger Gewissheit prognostizieren, wird danach jedenfalls nicht wiederzuerkennen sein.

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(1) Why Won't Johnny Read? / If you're 18 to 34 and reading this, your secret's safe with us. Many young adults are rejecting the traditional news media. Newsday; Long Island, N.Y.; Feb 3, 2003. Nur gegen Gebühr