Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
05.12.2003. Verlassene Frauen, intellektuelle Frauen, fotografierende Frauen und ein Dichter: Arno Widmann hat Bücher von Elena Ferranta, Annie Leibovitz, Ernest Wichner und über die Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven vom Nachttisch geräumt.
Ohne Eile

Es gibt Erlebnisse, die einen Menschen zerstören. Das Verlassenwerden gehört dazu. Wöchentlich lesen wir in den kleinen vermischten Nachrichten von Männern, die die Frauen, von denen sie verlassen wurden, auf oft bestialische Weise umbringen. Immer wieder werden auch die Kinder mit niedergemetzelt. So gut wie nie lesen wir von den zahlreichen Frauen, die in der Klappsmühle landen, nachdem sie verlassen wurden. In ihrem Roman "Tage des Verlassenwerdens" ("Il giorno dell'abbandono") schildert die italienische Autorin Elena Ferrante wie die Icherzählerin, nachdem ihr Mann sie verlassen hat, bei klarstem Verstand in den Wahn rutscht. Einhundert Seiten des 250 Seiten langen Buches nimmt die Schilderung eines einzigen Tages ein. Es ist der Tag, an dem die Erzählerin den Höhepunkt ihres Wahns erreicht, der Tag, an dem sie, die nie aufhört sich zu beobachten, erfährt, wie sie beinahe in die Schizophrenie abgestürzt wäre.

Wer "Die gelbe Tapete" von Charlotte Perkins-Gilman gelesen hat, der hat eine Ahnung von der emotionalen Durchschlagskraft der Erzählung von Elena Ferrante. Wie die amerikanische Autorin so verbindet auch die Italienerin einen bewundernswert klaren Verstand, eine hoch entwickelte Lust an der Präzision mit der Fähigkeit, den irrationalsten Gefühlen zu einem den Leser nachhaltig erschütternden Ausdruck zu verhelfen. Das ist ein unwiderstehliches Amalgam. Es ist, als wäre die geschundene Seele, der sie ausdrückende Körper und der alles fixierende Schreibapparat eins. Als gäbe es keinen Abstand, keine Brechung. Die den Zerfall der Wahrnehmung begleitende Reflexion erscheint nicht als Möglichkeit der Therapie, sondern als diese noch verschlimmernder Bestandteil der Krankheit. Wenn sie sich nicht so genau beobachten könnte, wüsste sie nicht, wie verrückt sie schon ist - dann ginge es ihr doch besser, denkt der gepeinigte Leser. Solange er selbst noch den Abstand halten kann, solange er nicht mit hinein gezogen wurde in den Wahn.

Er wird aber. Ich habe die 250 Seiten von 21 Uhr bis 4 Uhr Nacht gelesen. Ab und zu musste ich unterbrechen, weil ich den Druck nicht mehr aushielt, aber noch weniger hielt ich aus, nicht weiter zu lesen. Am Ende war ich erschöpft und glücklich. Schöneres gibt es kaum. Diese Horrorgeschichte hat nämlich ein Happy end und nicht nur das. Sie hat einen wunderschönen letzten Satz: "Schließlich schenkte ich ihm mein Vertrauen und in den folgenden Tagen und Monaten liebten wir uns lange und ohne Eile."

Elena Ferrante: "Tage des Verlassenwerdens". Roman. Aus dem Italienischen von Anja Nattefort. List Verlag, München 2003, 272 Seiten, Taschenbuch, 12 Euro.


Streetfighterin Elsa

Sie wurde am 12. Juli 1874 in Swinemünde als Else Hildegard Plötz geboren. Am 14. Dezember 1927 stirbt sie als Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven an einer Gasvergiftung in ihrer neuen Wohnung in Paris. Irene Gammel hat das Leben dazwischen beschrieben. Es ist die Geschichte einer Frau, die mit dem größten Vergnügen intellektuellen Männern, die sonst mehr dem eigenen Geschlecht zugeneigt waren, den Kopf verdrehte - so den Münchner Kosmikern um 1900 oder den amerikanischen Dadaisten. Früher als ihre berühmteren männlichen Kollegen kam sie dahinter, dass der Künstler Kunst nicht herstellen, sondern zeigen muss. Das Readymade ist ihre, nicht Duchamps Erfindung.

Sie ist auch die Urahnin der Performance-Kunst. "Autos und Fahrräder haben Rücklichter. Warum nicht ich?", fragte sie und nähte sich ein blinkendes Licht an das Gesäßpolster ihres Kleides. Mit Briefmarken auf den Wangen, goldenen Karotten auf dem Kopf und Papageienfedern als Wimpern stakste sie die Fifth Avenue entlang. Sie ging durch die Straßen New Yorks als - wie ihre Biografin schreibt - "sexuell aufgeladenes Kunstobjekt". Irene Gammel hat zusammengetragen, was von dieser Avantgardistin in Kunst und Leben noch zu finden ist, und es in einem spannenden, klugen Buch beschrieben. Gammel macht die Gedichte der Dada-Baroness erst verständlich. Ohne deren Leben zu kennen, entgehen einem alle Anspielungen. Von denen aber leben sie.

Die erhaltenen Kunstwerke der Else von Freytag-Loringhoven frappieren noch immer. Der aufrecht auf einen Sockel gestellte Holzsplitter aus dem Jahre 1918 ist tatsächlich das Traumbild einer - so hat sie das Werk betitelt - "Kathedrale". Von 1913 stammt ihr "Enduring Ornament", ein angerosteter, archäologisch anmutender Metallring. Es gibt auch Ölgemälde von ihr und Collagen. Ihr "Porträt von Marcel Duchamp" aus dem Jahre 1920 wirkt ein wenig wie eine miniaturisierte Arbeit von Rebecca Horn. Federn und Metallteile, ein wenig Stoff - in einem Weinglas drapiert und weit über es hinauswachsend.

Das ist alles nichts, auf dem sich in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts eine Existenz hätte aufbauen lassen. Schon gar nicht aber auf ihren street-performances, die sie genoss, die ihre Freunde erfreuten, die sie während des Ersten Weltkrieges zu einer zentralen Figur der New Yorker Avantgarde machten. Die war ja stark europäisiert durch die Künstler, die aus dem Schlachthaus Europa in die Neue Welt geflohen waren. Duchamp und Picabia gehörten dazu. Irene Gammel schreibt: "Über den Körper der Baroness erreichte der Münchner und Berliner Jugendstil New York. Wie eine Synapse übertrug Elsa die erotischen Impulse der deutschen Avantgarde von einer Generation zur nächsten, von München und Berlin nach New York. Eros und Androgynität sollten nun in New York und vor allem im Werk Marcel Duchamps zentrale Bedeutung erlangen. Es war eine von Elsas Eigenarten, dass sie einen öffentlichen Dialog über das Kunstwerk mit dem Künstler anfing und ihn damit herausforderte."

Die Biografie der Dada-Baroness klärt nicht nur über das Leben der Heldin auf, sondern sie macht auch klar, was Kunst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war, was sie sein sollte und warum manche nicht mehr einfach weiter machen konnten. Wer sich für Kunst interessiert, muss dieses Buch lesen.

Irene Gammel: "Die Dada-Baroness". Das wilde Leben der Elsa von Freytag-Loringhoven. Aus dem Amerikanischen von Claudia Kotte. Mit 100 zum Teil farbige Abbildungen. Edition Ebersbach, Berlin 2003, 256 Seiten, gebunden, 34 Euro.


American Music

Von 1970 bis 1983 war Annie Leibovitz die Fotografin des Rolling Stone. Sie hat auch danach nicht aufgehört die Fotografin der "American Music" zu sein. Die 263 Seiten mit großartigen Fotos von 1971 (Tina Turner, Joan Baez) bis 2003 (Norah Jones, New Birth Brass Band) sind eine beeindruckende Porträtgalerie des Musikgewerbes. Aber auch für den, der die Musik dieser Musiker nicht kennt, der, während er sich den Bildband anschaut, Händels "Samson" mit Janet Baker und John Shirley-Quirk laufen hat, ist es eine Freude in dem Buch zu blättern.

Annie Leibovitz' Gesichts- und Körperlandschaften (Bilder) sind legendär, und wer jemals die von Annie Leibovitz entblößte muskulöse, magere Nacktheit Iggy Pops gesehen hat, wird sie nie wieder vergessen. Willy Nelsons Edward Sheriff Curtis' Indianeraufnahmen zitierendes Profil ist ebenso unvergesslich wie Miles Davis' Blick. Vielleicht liegt es daran, dass ich, wenn ich auf die Gesichter blicke, die Musik nicht höre, jedenfalls gefallen mir noch besser die ganz unspektakulären Aufnahmen, bei denen Annie Leibovitz die Umgebung festhielt, aus der die Musiker und die Musik kommen. Das sind die Zimmer, in denen sie produziert wurde. Zum Beispiel in Memphis Tennessee der "Jungle Room", eine Wohnlandschaft mit fellbezogenen Möbeln, Keramiktigern, Porzellanaffen und einem Wasserfall, alles in ein grün-gelbes Licht getaucht. Hier machte der von Familienpackungen Eis, von Kummer, Liebessehnsucht und Drogen aufgeblähte Elvis Presley seine letzten Alben.

Oder jene aus ein paar Holzbrettern zusammengenagelte Hütte am Rande einer Schotterstrasse inmitten von Baumwollfeldern, in der Nähe von Merigold, Mississippi. Sie ist eine der letzten Kneipen, die noch so aussieht wie jene, aus der die großen Musiker des amerikanischen Südens kamen. Ein paar Seiten weiter sieht man Flaco Jimenez, einen progressiven TexMex-Stilisten und fünffachen Grammy-Gewinner, sein Akkordeon in einem Raum bearbeiten, vor dessen Betonwände ein paar nahezu leere Holzregale geschoben wurden.

Eine Seite weiter der Country Musiker George Jones mit obligatorischer Gitarre in seinem Tourneebus: eine Orgie aus kamelfarbenem Leder und gelben Kronleuchtern. Schon gegen Ende des Buches stößt man auf ein Foto, das zeigt vier singende, weiß gekleidete Spiritualsängerinnen in einer Kirche. Ein Foto wie aus den sechziger Jahren. Annie Leibovitz hat es 2002 in der Mt. Moriah Missionary Baptist Church, Los Angeles, aufgenommen. Die 1911 geborene Mahalia Jackson war dort im Kinderchor gewesen.

Es wäre falsch zu sagen, es spiele keine Rolle, woher ein Musiker kommt, unter welchen Bedingungen er seine Musik produziert. Aber eines macht Annie Leibovitz klar: Die Herkunft sagt nichts, gar nichts über die Qualität der Musik. Eines meiner Lieblingsfotos zeigt eine jener hässlichen Straßenkreuzungen, wie man sie überall auf der Welt findet, wo die Bodenpreise die Häuser nicht in die Höhe treiben. Es ist E. McLemore, Ecke College Street in Memphis, Tennessee. Drei, vier Häuser im Hintergrund, eines ist ein Beauty Salon, davor 15 Männer und Frauen, Schwarze und Weiße, sitzend und stehend, sie lachen heiter in die Kamera. Hier wurde einmal Musikgeschichte gemacht. Stax hieß die Firma, die zwischen 1960 und 1975 von hier aus den "Memphis Sound" in die Welt schickte. Das Haus ist längst abgerissen, jetzt wurde, wo es einst stand, ein kleines Museum eingerichtet, das Stax Museum of American Soul Music.

Annie Leibovitz: "American Music". Mit 100 Tafeln in Farbe und Duotone und deutscher Textbeilage. Schirmer/Mosel Verlag, München 2003, 256 Seiten, gebunden, 78 Euro.


Wiedergänger

Es ist eines der schönsten Gedichte der Weltliteratur, und wir können uns glücklich schätzen, dass wir es in einer so schönen Übersetzung haben wie der von August Wilhelm Schlegel.

Es soll - so die Philologenlegende, die glaubt, Dichter schrieben aus dem Erlebnis und nicht aus der Erinnerung daran - vom achtzehnjährigen Ovid stammen. Es ist das fünfte Lied des ersten Bandes der "Amores":

"Schwül wars; eben des Tags mittägliche Stunde verflossen:
Über das Ruhebett hin hatt ich die Glieder gestreckt.
Halb stand offen das Fenster, und halb von dem Laden beschattet,
So wie das Licht hinspielt unter die Wipfel im Wald;
Oder wie dämmernder Schein nachschwebt der entfliehenden Sonne,
Oder der sinkenden Nacht, ehe der Tag sich erhebt.
Solch ein gedämpftes Licht sei schüchternen Mädchen bewilligt,
Wo sich die Scham Zuflucht heimlicher Schatten verheißt.
Siehe! Corinna, sie kam in entgürtetem Untergewande,
Frei das gescheitelte Haar wallend am Nacken hinab.
Schön, wie Semiramis wohl hintrat zu dem purpurnen Brautbett,
Oder wie Lais, dem Wunsch wechselnder Buhlen gesellt.
Zwar nicht viel mißgönnte das dünne Gewand der Begierde:
Sittsam wehrte sie doch, als ich es heftig entriß.
Nun so kämpfend, wie eine, die selbst nicht wünscht zu siegen,
Ward durch eignen Verrath leicht sie, die Schlaue besiegt.
Als sie dem lüsternen Blick nun frei von Umhüllungen dastand,
Nirgend ein Fehl zu erspähn war an der ganzen Gestalt:
Was für Schultern und Arme zu sehn, zu befühlen gelang mir!
Für die umspannende Hand schienen die Brüste gewölbt.
Glatt der geebnete Bauch, abwärts von dem strebenden Busen,
Schlank und erhaben der Wuchs; Hüften wie jugendlich voll!
Doch, was zähl ich es auf? Untadelig Alles erblickt ich.
Drückte die Nackte mir fest gegen den brünstigen Leib.
Wißt Ihr das Übrige nicht? Wir ruhten ermattet vom Spiel aus.
Mittagsstunden, wie die, würden sie oft mir gewährt!"

Ich habe diese zweitausend Jahre alten Verse hier zitiert, weil das erste Gedicht im neuen Gedichtband von Ernest Wichner, der den zum Nachspüren anstachelnden Titel "Rückseite der Gesten" trägt, eine kunstvolle Variation der Ovidschen Vorlage ist:

"Hell und Klar
und vergraben im Graudämmer innen.
Die Fenster dicht, unten die Jalousie
die Leiber nackt auf schwarzem Laken
die sich beschnuppern - ein Stück Schulter
fängt der Blick in einem rachenweiten Mund.
Was sich nach draußen fortsetzt
sagt Imagination, erhitzt vom Zufall
von Erblühtem jäh genährt, wie stets
zu dieser Jahreszeit, die sich in Selbst-
betörung vor den Sommer stürzt.
Dann heben Finger, matt vom Liebeskampf
für einen Lichteinfall Lamellen an
und alles strahlt kurz auf, verläßt
sich aufladend den Raum und fällt
zurück als schiere Netzhautreizung
von den Kerzen im Kastanienbaum."

Die gelehrte Kostbarkeit des Wortes "Netzhautreizung" vermissen wir bei Ovid. Aber vielleicht erfüllt die Beschwörung der Vorbilder "wie Semiramis", "wie Lais" eine ähnliche Funktion. Dass es diesmal geschieht, in dieser Mittagsstunde, wird betont dadurch, dass daran erinnert wird, dass es immer wieder geschieht. Es geschieht gesetzmäßig in Mittagsstunden wie diesen. Die werden definiert durch das Spiel von Licht und Schatten. Es ist schön zu sehen, wie die alten Tricks nichts von ihrer Zauberkraft verloren haben. Vorausgesetzt es kommt einer, der sie anzuwenden versteht.

Ernest Wichner: "Rückseite der Gesten". Gedichte. Zu Klampen Verlag, Springe 2003. 47 Seiten, 17 Euro.