Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
19.12.2003. Warlam Schalamow ist in Deutschland fast unbekannt - in Frankreich gilt er als großer Autor. Dort sind auch seine "Erzählungen aus Kolyma" erstmals vollständig erschienen. Auch Anne Applebaum und der Fotograf Tomasz Kizny legen Bücher über den Gulag vor.
Zwei Katzen und der tote Bär

Warlam Schalamow wurde 1907 als Sohn eines russisch-orthodoxen Priesters geboren. 1929 kam er das erste Mal ins Gefängnis. Er war dabei erwischt worden, wie er "Lenins Testament", jenen Brief, in dem der todkranke Lenin vor Stalin warnte, verteilte. 1931 wurde Schalamow aus der Haft entlassen, ging zurück nach Moskau. 1937 wurde er wegen "konterrevolutionärer Aktivitäten" erneut verhaftet und zu fünf Jahren Lagerarbeit verurteilt. Er wurde nach Kolyma geschickt, in jene kaum bevölkerte Zone im Osten Sibiriens, die das Zentrum des Gulagsystems war. Kaum entlassen, wurde er wieder dorthin geschickt. Seit 1947 arbeitete er nicht mehr in Minen, sondern als Arzthelfer.1953 kehrte er zurück nach Moskau. Seine Freundschaften mit Nadeschda Mandelstam, Pasternak und Solschenizyn zerbrachen. Von letzterem sagte Schalamow, er habe keine Lager gekannt und er habe sie überhaupt nicht verstanden. Schalamow schrieb Gedichte, Essays, eine Autobiografie und einen Antiroman. Vor allem aber arbeitete er von 1954 bis 1972 an seinen "Kolyma-Erzählungen". Teile davon wurden klandestin verbreitet. Eine erste russische Ausgabe erschien 1978 in London. Taub und blind starb Schalamow am 17. Januar 1982 in einer psychiatrischen Klinik in Moskau. Auf deutsch erschienen kleine Auswahlbände. Derzeit ist keiner lieferbar. Auf französisch liegen die "Recits de la Kolyma" jetzt vollständig auf 1515 Seiten vor.

Der Umfang schreckt ab. Wann soll man 1500 Seiten lesen? Ich habe noch nicht mehr als 300 Seiten davon gelesen. Aber es handelt sich um keinen Roman, auch um kein durch argumentiertes Sachbuch, sondern um eine Sammlung von 146 Geschichten. Die meisten berichten von Personen, stellen sie in einer konkreten Situation vor und erzählen dann, wie sie dorthin kamen und was später mit ihnen geschah. Soweit Schalamow das herausfinden konnte. Man kann die sechs Seiten über Tante Polia lesen oder das Dutzend zur Schocktherapie, man kann auch die Bärengeschichte lesen oder die über Caligula. Schalamow bietet noch in der kleinsten Zelle seines Riesenwerkes die gesamte unverwechselbare DNA seiner Erzählkunst. In der Bärengeschichte zum Beispiel reagieren zwei Katzen höchst unterschiedlich auf die Erschießung eines Bären. Die eine verkriecht sich, als wolle sie mit der Gewalt nichts zu tun haben, die andere wirft sich auf den toten Riesen und leckt - wie triumphierend - sein Blut. Es ist immer beides möglich. Niemand ist dazu gezwungen, so zu reagieren, wie er reagiert.

Schalamows Geschichten zeigen den Lageralltag. Der Leser gewöhnt sich an ihn, wie die Insassen sich an ihn gewöhnten. Das ist das Beunruhigendste an den Kolyma-Erzählungen. Schalamow macht klar, wie selbstverständlich der Mensch nach einem kurzen Erschrecken das Schreckliche nimmt. Da sagt ein Arzt zum Häftling, es müsse furchtbar sein, in einer der Baracken zu leben. Man könne sich nicht einmal eine Zigarette anzünden, schon blickten fünfzig Augenpaare neidisch, gierig auf einen. Das, was den Reiz einer Zigarette ausmache, dieser Augenblick der Ruhe, werde einem im Lager nicht gewährt. Man liest das und fragt sich und den Autor: Ist der Arzt verrückt? Gibt es nichts Genaueres über den Archipel Gulag zu sagen, als dass man sich dort nicht in Ruhe eine Zigarette anzünden kann? Es gibt - so zeigt uns Schalamow - Momente, in denen der Wunsch nach einer in aller Ruhe genossenen Zigarette alles andere auslöscht. Und es hat diesen Arzt gegeben, der in diesem Augenblick alles, was ihm an Mitleid zur Verfügung stand, in das Bedauern darüber goss, dass einem Häftling möglicherweise nicht die Zigarette, wohl aber ihr Genuss vorenthalten bleiben musste. Fünf Zeilen danach liest man, wie derselbe Arzt Patienten die Nägel von den abgefrorenen Gliedern schneidet. Man bekommt eine Ahnung davon, dass es Situationen gibt, die gerade die Betroffenen selbst nicht beim Namen nennen wollen und können. Das Gespräch über Zigaretten mag die Gräuel der Lager verschweigen, aber für die, die Bescheid wissen, ist es ein schreiendes Schweigen.

Varlam Schalamows Kunst besteht darin, seine Geschichten immer wieder bis an den Rand des Schreckens zu treiben. Schalamow beschwört den Schrecken nicht. Er nennt ihn nicht beim Namen. Er versucht nie, ihn einzufangen. Er kreist ihn ein. Manchmal kommt Schalamow von ganz weit, aus Momenten, die denen des Glücks zum verwechseln ähnlich sehen, dann wieder ist er dem Schrecken vom ersten Satz an hautnah.


Den Leser lässt der Erzähler niemals heraus aus dem Archipel Gulag. Er muss das Buch schon aus der Hand legen, um wieder in der Normalität anzukommen. Aber auch die ist nach der Lektüre nicht mehr, was sie ihm vorher schien. Wer neben den Geschichten aus dem Archipel Gulag seine Geschichte kennen lernen möchte, der muss Anne Applebaums "Der Gulag" lesen. Es ist eine sorgfältige Arbeit, deren Wert trauriger Weise dadurch gesteigert wird, dass manche der Quellen, die die amerikanische Journalistin hat auswerten können, inzwischen wieder zur Verschlusssache erklärt wurden. Anne Applebaum erzählt die Geschichte des Gulagsystems, und sie versucht, seine Systematik sich und den Lesern verständlich zu machen.

Die Autorin ist zu klug, um sich in die Debatten über Totalitarismus oder Nicht-Totalitarismus einspannen zu lassen. Aber sie ist auch klug genug, um das Gulagsystem nicht ausschließlich als russisches oder sowjetisches Phänomen zu betrachten. Sie schreibt in ihrer Einführung: "Auch wenn dieses Buch sich auf die sowjetischen Lager Konzentriert, so können sie doch nicht isoliert betrachtet werden. Der Gulag entstand und entwickelte sich zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum und ist verknüpft mit anderen Geschehnissen. Dabei sind mir drei Zusammenhänge wichtig: Der Gulag gehört zum einen zur Geschichte der Sowjetunion, zum zweiten zur Geschichte von Gefängnis und Verbannung in Russland und in der ganzen Welt und drittens zu dem besonderen geistigen Klima Europas in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, das auch die nationalsozialistischen Konzentrationslager in Deutschland hervorgebracht hat."

Das Zitat macht die Qualität des Buches von Anne Applebaum und mindestens eben so sehr seine Mängel deutlich. Applebaum hat ganz Recht, es abzulehnen, die sowjetische Geschichte als nicht-europäische Geschichte zu beschreiben. Aber die schon an Artikulationsunfähigkeit grenzende Hilflosigkeit, mit der sie das tut, erschwert die Lektüre immer wieder. Sie schreckt nicht vor den allgemeinsten Phrasen zurück. Ein halbwegs intelligenter Leser wird sich immer wieder an der Ungenauigkeit ihrer Formulierungen stoßen. Aber er tut gut daran, seine Abwehr zu überwinden und ihr in die Erörterung der Details zu folgen. Ihr Vergleich zwischen der rassischen Vernichtungsstrategie der Nazis und der stalinistischen Lagerpolitik erhellt beide Systeme. Applebaum zeigt also nicht zuletzt, wie dumm und verdummend die Rede von der Unvergleichbarkeit des Nationalsozialismus ist. Schon das gibt ihrem Buch in der Bundesrepublik Deutschland ein immenses Gewicht.


Der 1958 geborene polnische Fotograf Tomasz Kizny hat jahrelang Zeugnisse aus dem Archipel Gulag gesammelt. Jetzt hat er einen 496 Seiten umfassenden Bildband vorgelegt. Es ist die eindrücklichste Sammlung von Fotografien aus den sowjetischen Lagern. Von dem Band gibt es bisher nur eine französische Ausgabe, zu der auch Jorge Semprun ein Vorwort geschrieben hat. Wer den Band durchblättert wird vergeblich nach Fotos suchen, wie wir sie aus den deutschen Konzentrationslagern kennen. Es gibt keine Brillen-, keine Leichenberge. Man sieht Männer unter schwersten Bedingungen arbeiten, mit wattierten Jacken oder nackten Oberkörpern. Man sieht berittene Wachsoldaten, die auf der Suche nach entflohenen Häftlingen die Steppen durchstreiften. Man entdeckt aber auch Aufnahmen von rauschenden Festen, bei denen dem Wachpersonal von angereisten Theatergruppen Operetten vorgeführt wurden. "Vorkouta, um 1946-1949" steht erläuternd daneben.

Bei Applebaum kann man nachlesen, was damals in Workuta los war. Die Fotos zeigen es nicht. Es kann einem auch passieren, dass man erschüttert in ein abgemagertes Gesicht blickt, sich Gedanken macht darüber, warum Menschen Menschen solche Gewalt antun und dann liest man, dass der Mann, um dessentwillen man gerade vor Mitleid zerfließen wollte, einer der Aufseher war. Kizny lehrt einen nicht zuletzt, dass man seinen Augen nicht trauen kann. Die Geschichten, die die Fotos erzählen, sind andere Geschichten als die von Schalamow. Sie sind darum nicht falsch. Sie sind es nur dann, wenn man nicht begreift, dass diese Fotos nicht gemacht wurden, um die Wirklichkeit zu zeigen, sondern sie verbergen sollten. Weiß man aber das, dann beginnen auch die Fotos, sehr viel zu erzählen, nicht nur Anekdotisches aus dem Lagerleben, sondern sie helfen, ein wenig von dem zu begreifen, was ein Terrorsystem am Leben erhält.

Varlam Chalamov: "Recits de la Kolyma". Traduit du russe par Sophie Benech, Catherine Fournier, Luba Jurgenson. Preface de Luba Jurgenson, Postface de Michel Heller, Editions Verdier, Collection "Slovo". ISBN 2 86432 352 4, 1515 Seiten, 45 Euro. Sie können die "Recits" über Amazon.fr hier bestellen.

Anne Applebaum: "Der Gulag". Aus dem Englischen von Frank Wolf. Siedler Verlag, Berlin 2003. ISBN 3 88680 642 1, 734 Seiten, s/w Abbildungen, 32 Euro. .

Tomasz Kizny: "Goulag, Acropole". Editions Balland, 2003. ISBN 2 7357 0241 3, 496 Seiten, mehr als 550 s/w und farbige Fotografien, 59 Euro. Bstellen über Amazon.fr
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