Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
25.09.2002. Umwerfende Porno-Burlesken, die Liebe zu Chopin, die Rätsel der Trinität, Ciorans lieblose Geliebte, Peitschen der Kommata, Durs Grünbeins Verhältnis zur Witwe Clicquot.
Clowns

Der Untertitel ist offenkundiger Unsinn: "Provokation aus Prinzip". Kein Leben folgt einem Prinzip und ganz sicher nicht dem der Provokation, und Frank Castorf, der Intendant der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz, mag vielen als prinzipieller Provokateur erscheinen, er mag sich selbst sogar gerne in dieser Rolle inszenieren, aber einer, der sich sein Leben lang nicht aus Omas Wohnung hinaus ins Erwachenenleben getraut hat, der mag eine noch so große Provokation für seine Umwelt sein, einem Prinzip folgt er nicht; er folgt seiner Natur. Robin Detjes Buch "Castorf" (Leseprobe hier) macht das deutlich. Desto bedauerlicher ist der dumm in die Irre führende Untertitel. Detje, einer der weiß, wie ernst man den Spaß nehmen muss - er hat eine Clown-Ausbildung erfolgreich absolviert - und wie heiter das Ernste - er wurde ganz ohne akademische Weihen zu einem der besten Theaterkritiker Deutschlands - , folgt natürlich nicht den biedermännischen Verächtern des Regisseurs Frank Castorf, die gerne davon sprechen, der Volksbühnenintendant provoziere aus Prinzip, und ebenso selbstverständlich fällt Detje auch nicht auf Castorfs Lust an der Spießbürgerschelte herein.

In den schönsten Passagen seines Buches zeigt Robin Detje Castorfs Abhängigkeit von bewährten Mitarbeitern, seine Enge, seine Sehnsucht nach dem vertrauten Mief. Detje macht deutlich, wie geschickt Castorf sich und seine Provokationen an die jeweilige Lage anzupassen versteht. Die Räume, in denen sie stattfinden, hat Castorf unter Kontrolle. Castorfs Rebellionen werden auf Millimeterpapier entworfen.Gerade weil Castorf den Schauspielern größte Freiheiten einräumt, muss er sie in- und auswendig kennen. Er weiß, wo sie ausflippen werden, lange bevor sie es tun. Der Anarchist Castorf ist einer der besten Controller. Die Schauspieler sollen außer Rand und Band geraten und mit ihnen die Inszenierungen, aber exakt so, wie Castorf es sich vorstellt. Am gelungensten ist eine Aufführung freilich dann, wenn die Schauspieler den Wünschen Castorfs genau entsprechen, bevor er selbst sie hatte.

Robin Detjes Castorf-Buch erzählt ausführlich die Vorgeschichte des Regisseurs. Wir sehen den Künstler als jungen Mann, der dicke Kladden vollschreibt mit Konzepten für Aufführungen, mit Inszenierungsvorschlägen, ein gelehrter Dramaturg, der mit Kant, Hegel und Goethe - drunter macht er es nicht - und drehbuchartigen Probenpapieren die Regisseure belagert. Es dauerte eine Weile, bis Castorf den Mut aufbrachte, aus der Theorie, wo er jeden mit langen, mit Zitaten gespickten Reden in die Defensive brachte, auf die Bühne zu springen. Castorf war nicht von Anfang an ein Bühnentier, er musste sich dazu erziehen. Er tat das auf dem Weg der Lektüre. Wenn das die vor ihm und der modrigen Vitalität seiner Inszenierungen erschreckenden Studienräte wüssten! Sie würden noch schneller versuchen, ihn zu einem der ihren zu machen.

Robin Detje: "Castorf - Provokation aus Prinzip". Henschel Verlag, 272 Seiten, zahlreiche Fotos, 19,90 Euro, ISBN 3-89487-434-1



Strange Bedfellows

"Die Saudi Bin Laden Group, die Investmentfirma von Osama und den 40 Räubern (oder waren es 24 Brüder?, egal...), hat Ende Oktober 2001 ihren 2,5 Millionen Dollar Anteil an der Carlyle Group verkauft. Da gerade jetzt die Geschäfte des größten Investors in die Rüstungsindustrie prosperieren, können es keine ökonomischen Gründe gewesen sein, die den Familienclan des angeblichen Topterroristen zu diesem Schritt bewogen haben. Vielmehr dürften die Saudi-Milliardäre von einem der Repräsentanten der Carlyle Group, George Bush sen., dazu aufgefordert worden sein: Gar zu offensichtlich soll die Peinlichkeit der engen Geschäftsverbindungen des Bush- und des Laden-Clans jetzt nicht werden. Sie sind nur die Spitze eines Eisbergs, in dem die lange Verbindung sowohl der beiden Familien als auch der US-Geheimdienste mit islamistischen Terroristen eingefroren ist." Es folgen sechs Seiten mit detaillierten Angaben zu den Verflechtungen der Firmen der einen wie der anderen Seite. Mathias Bröckers hat diese Informationen im Internet gefunden, sie in einer taz-Kolumne den Nicht-Usern bekannt gemacht und nun unter dem Titel "Verschwörungen, Verschwörungstheorien und Geheimnisse des 11.9." bei Zweitausendeins herausgebracht. Er hat den Wahrheitsgehalt nicht überprüft. Wie hätte er das auch tun sollen? Er stellt zur Verfügung. Er tut das mit großer, ansteckender Lust, der ein ordentlich Maß an Skepsis aber auch das Wissen darum, dass die Wahrheit oft gerade das Unwahrscheinlichste ist, beigemischt ist. Diese Mischung hat Drogenwirkung. Man blättert in dem Band, liest sich fest und wenn man auf die Uhr blickt, ist es drei Uhr nachts, und man liegt immer noch mit George W. Bush und Bin Laden im Bett.

Mathias Bröckers: "Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.". Zweitausendeins, 361 Seiten, 12,75 Euro, ISBN 3-86150-456-1



Liebesbrief

Ein Liebesbrief, ein mehr als 200 Seiten langer Liebesbrief. Er ist begeistert, wie es sich für sein Genre gehört, klug dabei, wie es nur wenigen gelingt und manchmal von bewegender Hilflosigkeit. Ein gewinnendes Rührstück. Dergleichen ist ganz und gar aus der Mode gekommen. Aber der große Aufklärer Denis Diderot hat Greuze geliebt und der ein klein wenig kleinere Aufklärer Ulrich Erckenbrecht liebt Chopin. Wie sein Vorgänger mag er von seiner Liebe nicht nur schwärmen. Er will sie erläutern, erklären. Liebe macht, so zeigt er, nicht blind. Sie öffnet Augen und Ohren. Erckenbrechts "Brief über Chopin" schildert seine Liebe, erzählt ihre Geschichte und erzählt dabei und damit von Chopins Nocturnes, von seinen Mazurkas, von den Walzern und den Polonaisen, von Sonaten und Klavierkonzerten.

Erckenbrecht ist ein wunderbarer Cicerone durch Chopins Werk. Seine ungehemmte Freude am Urteil "Die übrigen Impromptus... sind kaum der Rede wert" wirkt ansteckend. Der zur CD greifende Leser entwickelt Mut zur eigenen Meinung. Er merkt aber auch, wieviel Schulung, Wissen und Gespür er noch erlangen müsste, um auch nur in die Nähe der Erckenbrechtschen Einblicke zu kommen. Der "Brief über Chopin" beschäftigt sich natürlich auch mit Chopins Leben, seiner Freundschaft mit Delacroix zum Beispiel, und mit Chopins Nachleben. Wunderbar die Schärfe, mit der Erckenbrecht Benns Chopingedicht auseinandernimmt. Nichts davon hat Bestand vor den strengen Augen und Ohren des Chopinliebhabers Ulrich Erckenbrecht. Rüdiger Safranski, der so gerne nach einem guten Essen, wenn die kleine Tischgesellschaft, bei gedämpftem Licht zu Grappa und Likören übergegangen ist, mit leiser eindringlicher Stimme die acht Strophen des Gedichts mit Augurenlächeln rezitiert, würde Erckenbrecht wohl entgegnen, dass das Schöne an Benns Gedicht nicht sei, dass es Chopin gerecht wird, sondern die Koketterie, mit der der Autor Benn sich im Komponisten versteckt und offenbart habe. Aber genau das ist Erckenbrecht natürlich zuwider. Er will Chopin, Chopin, Chopin. Er liebt ihn, keinen anderen. Mit den überzeugendsten Argumenten.

Ulrich Erckenbrecht: "Brief über Chopin - Erläuterung einer Vorliebe". Muriverlag, Kassel, 223 Seiten, 10 Euro, ISBN 3-922-49419-6



Traum

Eines der wichtigsten Bücher für jeden, der gerne Bilder und das Leben betrachtet, ist Georges Salles' "Der Blick". Es ist ein alter Text, aber er hat nichts von seiner Frische verloren. Salles geht auf die Gegenstände und auf seine Art sie wahrzunehmen zu, als habe er niemals ein Buch gelesen, das ihm erklären möchte, wie er sich zu verhalten hat. Er ist ein freier Mann mit einem freien Blick. Er schert sich nicht um Regeln, nicht um das, was man tut und das, was man unterlässt. Wenn er erzählt, wie er im Laufe seines Lebens (1889-1966) als Sammler sich immer mehr für die Materialien interessierte, wie er nach und nach auch die kunstvollste, raffinierteste und intelligenteste Bearbeitung eines Steines als weniger ergreifend erfuhr als den Stein, die Farbe, die Leinwand selbst, dann sehen die Gelehrten unter seinen Lesern - zu denen er auch gehörte - darin nichts als eine Parallele zum Gang der Kunst selbst, die darin kulminierte, die Rückwände der Bilder auszustellen, während es sich doch wahrscheinlich, um seinen höchst eigenen Weg zurück zum Anfang aller Kunst handelte: "Die Statue verliert ihr Gezweig und tritt in den rohen Block zurück; der Gott mausert sich zu einem Strauß aus Federn, Schalen und Schuppen; die Chinavase schmilzt in den Tonklumpen, der abgenutzte Teppich verschwindet unter seinem wollenen Gewebe."

Die Gegenstände befreien sich von den Bedeutungen, die wir ihnen gegeben, mit denen wir sie belastet haben. Sie bedienen sich dabei eines Georges Salles ebenso souverän wie eines Tapies. Anders betrachtet könnte man sagen, Georges Salles befreie sich im Laufe seiner Beschäftigung mit der Kunst von den Bedeutungen, die er nicht nur gelernt, sondern auch geliebt hatte. Je genauer sein Blick, je stärker seine Empfindungen, wurden, desto mehr trat alles, was sich an Wissen und Kultur, an Bildung und Kenntnis zwischen ihn und den Gegenstand geschoben hatte, zurück und er konnte endlich den Dingen gegenübertreten als ein Adam, der sie erstmals erkennt und benennt. Ein Traum. Salles erzählt ihn zum mitträumen schön.

Georges Salles: "Der Blick". Aus dem Französischen von Barbara Heber-Scherer. Verlag Vorwerk 8, 128 Seiten, 19 Euro, ISBN 3-930916-35-5


Nostalgie

Seyfrieds Kreuzberg ist in den Bundestag eingezogen. Christian Ströbele ist erster direkt gewählter Bundestagsabgeordneter der Grünen. Wer das Biotop für abgestorben hielt, hat sich getäuscht. Es mögen die letzten Zuckungen sein, aber die sind ja gerne noch einmal besonders heftig. Sven Regeners Roman "Herr Lehmann" spielt in diesem Kreuzberg. Im Wendejahr 1989. Es ist ein kluges, zartes Buch, das mit seinem Helden, einem Musterexemplar jenes Kneipenmilieus, in dem der Widerstand der siebziger Jahre sich längst in nichts als träges Beharrungsvermögen gewandelt hatte, gerade soviel Mitleid hat, um den Autor nicht als blöde erscheinen zu lassen, ihn aber auch so sehr schätzt, dass der Leser nicht aufhört, sich für diese sympathische Null und sein Treiben zu interessieren.

Sven Regener, Sänger und Texter der Gruppe "Element of Crime" ist vor allem ein Horcher und Gucker. Er weiß, wie die Dreißigjährigen damals sprachen, trifft mit traumwandlerischer oder artverwandter Sicherheit exakt die Stelle zwischen Coolness und völliger Unsicherheit allen Anforderungen des Lebens gegenüber, an der große Teile des Milieus sich fast zwei Jahrzehnte lang aufhielten. Er beobachtet genau, wann und wo die gammelige Friedfertigkeit umschlug in Aggression. Erst auf Seite 159 erfährt der Leser, dass er sich im Jahre 1989 aufhält. Das entspricht der Weltwahrnehmung nicht nur des Regenerschen Helden, sondern eines großen Teiles seiner Umgebung. Es dauerte bis tief in die neunziger Jahre, bis ihr dämmerte, was passiert war. Sven Regener erweckt diese untergegangene Welt wieder zum Leben.

Es ist schön, einen Ton aus so ferner Vergangenheit zu hören. Denn machen wir uns nichts vor. Ströbele wurde nicht vom alten Kreuzberg in den Bundestag geschickt. Er ist 2002, mehr als ein dutzend Jahre später von Ost und West ins Parlament gewählt worden. Auch das ist ein Wenderoman.

Sven Regener: "Herr Lehmann - Ein Roman". Eichborn Verlag, 298 Seiten, 18,90 Euro, ISBN 3-8218-0705-9