Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
20.01.2004. Die Entdeckung Chinas, die Kulturrevolution in Bildern, Walsers Maschinchen, der Schrei des Priamos: Arno Widmann hat Bücher von Gianni Guadalupi, Li Zhensheng, Martin Walser und Luca Giuliani vom Nachttisch geräumt.
Generationenvertrag

Es ist ein prächtiger Bildband. Aber er gehört zu den seltenen Exemplaren des Genres Coffee-table-book, die zu lesen sich lohnt. "China - Eine Entdeckungsreise vom Altertum bis ins 20. Jahrhundert" von Gianni Guadalupi schildert nicht nur die Entdeckung und Erforschung Chinas durch die Europäer, sondern ebenso eingehend die Suchbewegungen in der umgekehrten Richtung, also die seltener zur Sprache kommende Entdeckung des Westens durch die Chinesen. In den frühen Kapiteln wissen die einen so wenig von den anderen, wie die anderen von den einen. Es ist aber doch wesentlich mehr, als die Schulbücher uns glauben machen wollen. Schon lange vor Christi Geburt gab es einen mehr oder weniger regelmäßigen Austausch zwischen dem Reich der Mitte und dem Römischen Reich. Es waren keine diplomatischen Beziehungen - allerdings taucht in den chinesischen Quellen zum Beispiel Marc Aurel auf -, sondern solche von Geschäftsleuten, von Geschäftemachern. China kannte Stahl und Seide. Rom hatte wenig zu bieten.

Natürlich lässt sich die Geschichte dieser Beziehungen nicht erzählen, ohne die der zahllosen Völker, die zwischen China und Europa lagerten und lagern zu erzählen. Das Buch wird so zu einem Stück Weltgeschichte. Es macht uns klar, dass es immer wieder mal Globalisierungen gab, dass es auch immer wieder die überraschte Einsicht gab, dass anderswo das Leben besser organisiert ist als zu Hause. 851 erreichte - aus Basra kommend - der arabische Kaufmann Süleyman China. Er berichtete unter anderem:

"In China stehen zehn Arm lange Steine mit einer Inschrift, welche verschiedene Krankheiten und deren Heilmittel nennt. Wer nicht genug Geld besitzt, um sich Medizin zu kaufen, erhält diese aus öffentlichen Mitteln. Es gibt keinerlei Steuer auf Grundbesitz, aber eine Kopfsteuer, die sich nach dem Vermögen und dem Besitz eines jeden bemisst. Die Namen aller neu geborenen Knaben werden in den Registern des Sultans verzeichnet. Sobald ein junger Mann 18 Jahre alt ist, muss er Steuern bezahlen. Allen, die älter als 80 sind, werden sie erlassen. Sie bekommen eine Pension aus öffentlichen Mitteln und man sagt hier: Wir haben eine Pension von dir erhalten, als du jung warst, nun, da du selbst alt bist, ist es nur recht und billig, dass wir sie dir zurückzahlen."

Auf einer der letzten Seiten von Guadalupis großem, schönem, klugem Buch findet sich, was die Witwe des Kaisers Guangxu im letzten kaiserlichen Erlass am 13. Februar 1913 formulierte:

"Nachdem ich mir über die derzeitige Lage und die Volksmeinung klar geworden bin, rate ich dem Kaiser (dem 1906 geborenen und seit 1908 "regierenden" Pu Yi) dringend, dem Volk die höchste Macht anzuvertrauen, damit diese einer konstitutionellen republikanischen Regierung übergeben wird. So werden die Herzen des Volkes, die unter den Unruhen leiden und sich nach einer ordentlichen Regierung sehnen, Frieden finden ... Der Kaiser und ich werden uns für Monate und Jahre zurückziehen, um in Frieden zu leben und uns in die Betrachtung des Wirkens einer weisen Regierung zu versenken. Dies wird wahrhaftig das Allerbeste sein!"

Das war weise gesagt, aber es war ein Irrtum. Weder hatten die kaiserlichen Herrschaften eine Zeit beobachtender Muße vor sich, noch das chinesische Volk Frieden. Es war der Anfang eines jahrzehntelangen Bürgerkrieges (mehr), der abgelöst wurde von einer nun schon mehr als fünfzigjährigen Herrschaft der Kommunistischen Partei, die China in eine Katastrophe nach der anderen stürzte. Bald werden wir wissen, ob es einen chinesischen Kommunisten geben wird, der dem großherzigen Beispiel der Kaiserinwitwe Longyu aus dem Jahre 1913 folgt. Hoffentlich dauert es nicht noch bis zum 100. Jahrestag ihrer Rücktrittserklärung. Man sollte im Gedächtnis behalten: China war eine Republik, bevor Deutschland eine wurde. Es hat wenig Glück gehabt mit dieser Entscheidung. Aber sie wird wohl irreversibel sein. Der Leser legt Guadalupis dickes, schweres Buch immer wieder zur Seite und beginnt, sich höchst melancholische Gedanken über den Weltlauf zu machen. Dafür dankt er ihm.

Gianni Guadalupi: "China - Eine Entdeckungsreise vom Altertum bis ins 20. Jahrhundert". Geo / Frederking & Thaler, München 2003. Im Schuber, 336 Seiten, zahlreiche s/w und farbige Fotos, 60 Euro. ISBN 3894054751.


Schwarz-Weiß-Fotos schöngefärbt

Li Zhensheng arbeitete während der Kulturrevolution als Fotograf bei der größten Tageszeitung der im Nordosten Chinas an die Sowjetunion grenzenden Provinz Heilongjiang. Er hat seine Aufnahmen in die USA retten können. Sie erinnern an eine der erschreckenden Entwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie zeigen Massenaufmärsche und wichtiger noch Massenbegeisterung. Es gibt Fotos, die erinnern beim ersten flüchtigen Blick an Popkonzerte. Tausende von Menschen blicken auf eine Bühne, auf der vorne ein Einzelner steht, und hinter ihm, hübsch aufgereiht, eine Gruppe. Aber es handelt sich nicht um einen Sänger und seine "Uba, uba, uba" skandierende Backgroundgruppe, sondern der Einzelne steht gesenkten Kopfes auf einem wackligen Stuhl mit einem Schild um den Kopf, auf dem sein Name und seine Untat - Verrat an den Ideen Mao Zedongs zum Beispiel - steht, und die Gruppe hinter ihm ist das Tribunal, das entschied, dass er hier erst einmal für Stunden zu stehen hat und dass er dann wegtransportiert werden soll zu Zwangsarbeit oder Exekution.

Li Zhensheng hat in jahrelanger Arbeit zusammen mit Sinologen und Journalisten jede der Aufnahmen in Bildunterschriften erläutert, Slogans wurden übersetzt, die Identität der abgebildeten Personen festgestellt. In begleitenden Texten werden die historischen Zusammenhänge und die Biografie des Fotografen verdeutlicht.

Entstanden ist so ein einmaliges Zeugnis aus den Jahren 1964 bis 1980. Die Dokumentation reicht also hinter die Kulturrevolution zurück und weit über sie hinaus. Sie verlässt aber nie ihr Thema. Die letzten Fotos zeigen die Erschießung einer der lokalen Führerinnen der Kulturrevolution am 8. Februar 1980. Man sieht, wie die kleine, stämmige Frau, der es - so die Anklage - gelungen war, die gesamte Kohleversorgung der Provinz unter ihre Gewalt zu bekommen und auf dieser Grundlage ein eigenes "kommerzielles Reich" aufzubauen, in eine Arena geführt wird, um dort vor 5.000 Zuschauern ihr Urteil entgegenzunehmen. Eine der Fotografien zeigt die Angeklagte, wie sie von zwei Männern und einer Frau - alle in Uniform - festgehalten wird, während ein vierter ihren Unterkiefer in der rechten Hand hält. Die Bildunterschrift erläutert die Szene: "Um Wang daran zu hindern, ihre Unschuld zu beteuern, wird ihr von Justizbeamten der Kiefer ausgerenkt." Danach wird sie auf einem offenen Lastwagen durch eine Menge - allerdings nicht applaudierender - Schaulustiger zu einem schneebedeckten Feld in der Umgebung von Harbin gefahren. Dem europäischen Betrachter sind solche und ähnliche Bilder seit der französischen Revolution vertraut. Anschließend wird Wang Shouxin, der Arme und Hände auf den Rücken gebunden wurden, vom Laster gehoben. Jetzt kniet sie. Weit mehr als zwanzig Schritt hinter ihr stehen zwei Männer. Einer hat einen Karabiner, der andere eine Fahne. Als der Fahnenträger das Zeichen gibt, schießt der andere. Wang Shouxin fällt nach vorne.

Der Fotograf hat diese Fotos nicht heimlich gemacht. Die meisten seiner Fotos waren Auftragsarbeiten. Sie waren zum Zeitpunkt, da er sie machte, erwünscht. Sie wurden erst später verpönt. Seine Aufnahmen zeigen keine verborgene Seite der Kulturrevolution. Man sieht nicht wie Hunderttausende starben. Man sieht - von Wang Shouxin abgesehen - niemanden sterben. Li Zhenshengs Fotos zeigen, wie führenden Kadern, wie Professoren lange Papierhüte aufgesetzt wurden, man sieht sie in der Haltung des Demütigen vor riesigen Menschenmengen stehen, aber das sind Aufnahmen, die damals um die Welt gingen, weil das Regime sie triumphierend um die Welt schickte. Die wirklichen Gräuel der Kulturrevolution zeigt Li Zhensheng nicht.

Die Texte belegen bei aller wissenschaftlichen Unterstützung des Buches allein die derzeitige Sicht des chinesischen Fotografen. Sie sind kein Versuch einer Bilanz der Kulturrevolution. Sie sind nicht einmal in Ansätzen eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle als Autor und Fotograf. Li Zhensheng erzählt davon, wie er als begeisterter Anhänger Mao Zedongs seine eigene Rebellengruppe gegründet habe. Nicht etwa, weil er politisch etwas vorhatte, sondern weil er eine Armbinde haben wollte, die es ihm erlaubte, überall zu fotografieren. Dass er während der Kulturrevolution eine Zeitlang eine wichtige Rolle in Harbin spielte, teilt er mit. Aber nichts über seine Beweggründe und auch nichts darüber, wie, wann und warum er sich vom Maoismus distanzierte. In dieser Blindheit gegenüber dem eigenen Anteil an der Geschichte erinnert das Buch an vergleichbare Zeugnisse aus der westdeutschen Studentenbewegung oder der Geschichte der DDR. Nur dass sich die Historiker heute darüber streiten, ob die Kulturrevolution Hunderttausende oder Millionen Tote kostete.

Li Zhensheng: "Roter Nachrichtensoldat - Ein chinesischer Fotograf in den Wirren der Kulturrevolution". Herausgegeben von Robert Pledge. Bearbeitung des Textes von Li Zhensheng: Jacques Menasche. Vorwort von Jonathan D. Spence. Übersetzung aus dem Englischen von Martina Bauer. Phaidon Verlag, Berlin 2003, 316 Seiten, mehr als 300 s/w Fotos, 39,95 Euro. ISBN 0714893811.


Schön ist ...

Aphorismensammlungen, heißt es, verkaufen sich schlecht. Die Gründe liegen auf der Hand. Der Leser will in eine Geschichte gesogen werden, die ihn herausreißt aus seiner Umgebung und ihn über viele Seiten trägt. Zu viele allerdings auch nicht. Mehrere tausend Seiten lange Romane sind in Deutschland ganz und gar aus der Mode gekommen. Zwei-, dreihundert Seiten gelten als das Optimum. Also fünf bis acht Abende Lektüre. Gegen Aphorismen spricht also schon einmal, dass mehrere auf einer Seite stehen. Der Leser scheint sich nicht gerne durch ein Buch zu stottern. Hinzu kommt das Sentenziöse des Genres. Früher sollen Leser sich gefreut haben über Sätze, die sich dazu eigneten, in Marmor gehauen zu werden. Schillers Erfolg ist ohne seine Begabung für diese Kunst nicht zu erklären. Heute regiert die Schule der Beiläufigkeit. Sentenzen sind nicht mehr gefragt. Man zitiert allenfalls Sprüche von Harald Schmidt. Gut schadet derzeit nur.

Martin Walsers "Meßmers Reisen" ist ein erfolgreiches Aphorismenbuch. Man wird schon daraus schließen, dass es sich nicht um wirkliche Aphorismen handelt. Zu Martin Walsers Fähigkeiten gehört ganz wesentlich die, sie zu verbergen. Gegen seine Lust an der prägnanten Formulierung stemmt sich die ebenso starke am Hineinziehen des gegenläufigen Gedankens. Das führt in den ihm am leichtesten glückenden Fällen zu solchen klassischen, definitorischen Aphorismen wie dem ersten von "Meßmers Reisen": "Phantasie ist Erfahrung."

Das ist schön, weil es Widerspruch einlegt gegen die herrschende Lehre, Phantasie sei so etwas wie eine Fluchtbewegung, ein Ausweichmanöver vor der Erfahrung. Kurz danach kommt: "Wir feiern die Folge wie einen Sinn." Das ist so eng an David Hume, dass es nach dem Zopf des 18. Jahrhundert schmeckt. "Vielleicht bin ich vorsteuerabzugsberechtigt" dagegen ist ein Satz, der hat jene Komik, in der wir den Autor Martin Walser und uns sofort wieder erkennen. Es ist eine Komik, die uns nicht blind macht dafür, dass es vielleicht doch vernünftig wäre, den Steuerberater anzurufen und ihn mit diesem Satz zu konfrontieren. Dieser Ernst nimmt dem Satz nichts von seiner Komik. Im Gegenteil, er wird komischer, je ernster wir ihn nehmen. So funktioniert Walsers Maschinchen. Er zieht uns rein, und bevor wir merken, dass wir nicht mehr herauskommen, wollen wir schon gar nicht mehr heraus. Das gelingt ihm in den großen Romanen, aber es glückt ihm auch in der so viel schwierigeren Form der Aphorismensammlung.

Ein Mittel sind die kleinen Geschichten darin. Sie verzichten auf das Sentenziöse, denn Walser kann davon ausgehen, dass ihr "fabula docet" so klar geworden ist, dass der Leser die Moral der Geschichte, den Marmorspruch, sich selbst bastelt und stolz ans Ende der nur ein paar Sätze langen Erzählung setzt. "Am frühen Vormittag ein Mehralsgeräusch, sehr regelmäßig und nur durch die Laute der Frau hörbar. Die werden immer höher. Aber als sie dann immer noch steigen, wird klar, dass da jemand ein Fenster putzt mit einem Fensterleder und an einer Stelle so heftig reibt, dass es dann nur noch fiebt, aber da wird auch schon klar: das ist kein Fensterleder, sondern eine Taube, oben am Rand des Lichtschacht-Innenhofs, der Luftschacht-fast-Innenhof verstärkt dieses rhythmische Gurren ungeheuer. Und dann wird schließlich durch die Art des Ausklingens klar, dass es sich doch um einen vormittäglichen Hotel-GV gehandelt hat." Die sich bei mir sofort einstellende Sentenz lautete: Je genauer man hinhört, desto unklarer wird es. Das ist selbstverständlich unter Walser-Niveau. Aber das macht ihm nichts. Schon weil er es nicht weiß. Aber auch, weil er an dieser Stelle ja den Leser gerade dazu zwingen will, selbst zu - wenn man das so sagen darf - sentenzieren. Hat er das getan, sehnt sich der Leser - aus seinen eigenen Niederungen - geradezu nach Walsers Sätzen. Er liest die Geschichte also noch einmal und freut sich an der pornografischen Lust, mit der da gerieben und gefiept wird. Dann liest er weiter, und da steht nichts als: "Hotelschriftstellerei". Der Autor hat sich gern genug, um sich auch auf die Schippe zu nehmen.

Die Notizen in "Meßmers Reisen" stammen aus unterschiedlichen Jahrzehnten. Manche wurden notiert als Ansichten einer Romanfigur, fanden dann aber nicht hinein ins Werk, und jetzt bietet ihnen der gütige Autor hier ein Obdach. Eine Mischung aus Stall, Nachtasyl und Hotelhalle. Es spuken Bekannte und Unbekannte in der raffiniert auf kleinstem Raum hergestellten labyrinthischen Unübersichtlichkeit dieser Seiten herum. Manche dominieren seitenlang, andere tauchen nach einem einzigen kurzen Auftritt wieder weg, als wollten sie nicht erwischt werden vom Leser. Sie genieren sich, hier statt in einem richtigen Buch angetroffen zu werden. Walserforscher werden mit größter Lust Schicht für Schicht dieser Notate ausgraben und an Hand der Leitfossilien datieren. Ich freue mich schon darum auf die kommentierte, kritische Ausgabe von "Meßmers Reisen".

Keine Aphorismensammlung ohne einen Hit. In "Meßmers Reisen" lautet der Hit: "Schön ist, wenn man beim Ficken zu zweit ist." Meine - ich neige nun einmal zur Umständlichkeit - Lieblingsnotiz ist diese: "Wie einer immer und auch öffentlich gegen etwas redet, dem er privat verfallen ist. Wer ihn kennt, hält ihn für einen widerlichen Heuchler. Keiner merkt oder weiß, dass er wirklich gegen das spricht, was er tut, eben, um davon loszukommen; auch, um sich zu verurteilen, festzulegen, zu hindern. Aber es gelingt ihm nichts gegen sich, außer, dass er gegen sich redet."

Martin Walser: "Meßmers Reisen". Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003. 191 Seiten, 17,90 Euro. ISBN 3 518 41463 1.


Lost in Translation

Genauigkeit tötet. Das stellt der Leser am Ende seiner Lektüre von Luca Giulianis eingehender Untersuchung "Bild und Mythos" fest. Der in München lehrende Archäologieprofessor hat sich mit der Akribie eines genauen Lesers und eines klugen, ausdauernden Betrachters griechische Vasenmalereien (mehr) zwischen dem achten und dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert angesehen. Ihn interessierte, wie Mythen dargestellt wurden. Wie also eine Handlung in einem Bild erstarrte. Wer Giulianis Buch nur liest, hat keine Chance etwas von ihm zu lernen. Wer aber nicht schnell weiter kommen möchte bei der Lektüre, sondern sich die Zeit nimmt, so lange auf die abgebildeten Szenen zu blicken, bis er sieht, was Giuliani ihm zeigt, dem bringt Giuliani Lesen und Sehen bei.

Er tut das in aller Ruhe und so, dass auch Nicht-Archäologen ihm leicht folgen können. Es geht bei seiner Untersuchung darum, was bei der Übersetzung vom einen ins andere Medium verloren geht. Giulianis Arbeit ist von mehr als historischem Interesse. Wir switchen mehr zwischen den Medien als irgendeine Generation vor uns es tat. Giulianis Buch analysiert die Verschiebungen, die ein Stoff - wie zum Beispiel Odysseus' Blendung des Polyphem - durchmacht, wenn er nicht mehr erzählt, sondern nur noch in einem Bild dargestellt werden kann.

"In der Erzählung, die sich linear in der Zeit entfaltet, ist der Riese zunächst furchtbar und schließlich wehrlos. Indem die Bilder versuchen, die Gefährlichkeit ebenso wie die Wehrlosigkeit des Polyphem herauszustellen, geraten sie in Schwierigkeiten, denn beide Eigenschaften stehen unvermeidlicherweise in Widerspruch zueinander und sind entsprechend schwer auf einen Nenner zu bringen. Eine befriedigende Lösung dieses Problems wird erst im späten Hellenismus gefunden werden, als man auf die Idee kam, den Widerspruch nicht am Riesen selbst zu zeigen, sondern ihn durch unterschiedliche Reaktionen der Odysseus-Gefährten zum Ausdruck zu bringen."

Diese Verschiebung ist uns geläufig. Im Theater wird nur selten das Schreckliche gezeigt, sondern meist der Schrecken, den es bewirkt. In Hitchcocks "Psycho" sehen wir ein Messer und die entsetzten Blicke einer Frau. Keine Einstellung zeigt, wie das Messer ihr in die Haut fährt. Für derartige Darstellungen gibt es ein eigenes Genre: das Splattermovie. Es scheint - traut man den Besucherzahlen der Filmindustrie - nahezu ausschließlich etwas für ihren Körper entdeckende Teenies zu sein. An die gerade zitierten Sätze schließt Giuliani an: "Eine zusätzliche Verschärfung des Darstellungsproblems ergibt sich ferner dadurch, dass man vom Inhalt der Erzählung her eigentlich eine Darstellung des schlafenden Riesen erwarten würde; aber genau dazu ist die bildende Kunst im mittleren 7. Jahrhundert noch nicht im Stande. Schlaf wird erst im späten 6. Jahrhundert darstellbar werden. Bis dahin galten liegende, regungslose Figuren stets als tot."

Um zu zeigen, dass Polyphem nicht tot war, setzte so mancher Vasenmaler den wilden Höhlenbewohner auf einen Stuhl. Das war zwar gegen den Text, war aber leicht zu verstehen und wurde nahezu kanonisch für die Abbildung. Giuliani geht diesen Finessen mit einer Umsicht nach, die dem Leser, so er nur jede Abbildung ebenso ernst wie den Text, ja ernster noch als ihn, nimmt, es leicht macht, ihm auch bei den scheinbar winzigsten Beobachtungen zu folgen. Eine Erzählung soll spannend sein. Das fällt ihr leicht. Denn der erste Satz verrät nicht, was im zweiten passieren wird. Wie erzeugt ein Bild Spannung? Es kann sie nicht erzeugen, aber es kann sie zitieren. Wer eine Vase betrachtet und auf ihr sieht, wie der greise Priamos Achills Hütte betritt, um die Leiche seines Sohnes Hektor zu erbitten, der sieht, dass Priamos den unter Achills Liege lagernden geschundenen Leichnam nicht sieht. Aber er stellt sich vor, was passiert, wenn er ihn sieht.

Er wartet auf den Schrei des Priamos. Der wird von dieser Vase niemals kommen. Aber er lauert in ihr, wurde ihr mit der homerischen Szene eingebrannt. Jeder Betrachter kann ihn abrufen. Nicht jeder. Schon lange nicht mehr jeder. Aber Luca Giuliani hat ihn wieder sicht- und hörbar gemacht. Damals, als die Vasen und Schalen bei den Gastmählern aufgestellt wurden und die Geschichten erzählt wurden, da wussten nicht nur die Kunstliebhaber die Bilder als Geschichten zu lesen, nachdem die Künstler verstanden hatten, die Geschichten zu Bildern zu machen.

Dann aber traten die Erzähler zurück. Die Leser drängten nach vorne. Die Texte waren kein Material mehr, sondern wurden heilig. Auch für die Künstler. Jeder Käufer kannte den Text und verlangte - wie ein Kind von seinem vorlesenden Vater - dass er exakt wiederholt wurde. Das Bild war nur dann gut, wenn es abbildete. Es erzählte nicht mehr selbst, sondern es illustrierte eine Erzählung. Die Pointe von Giulianis Analyse ist, dass die Illustration nicht - wie die Schriftgelehrten annehmen - am Anfang der Mythenbilder steht, sondern ein Produkt der Alphabetisierung, der Literarisierung des Lebens war. Eine späte Frucht also, das Kind einer peniblen, buchstabengläubigen Epoche.

Wir sind gerade dabei, diese Epoche zu verlassen. Es werden noch immer Bücher verfilmt, aber es entstehen auch "Bücher zum Film". Wir sind dabei, uns frei zu machen von den literarischen Überlieferungen. Wir fangen wieder an, in Bildern zu denken. Nein, wir hatten nie damit aufgehört, aber es gibt offenbar eine Verschiebung der Gewichte wieder zurück hinter die Buchstaben, zu den Bildern. Sie sind heute allerdings bewegt, können Handlungen darstellen. Die Übersetzung vom einen ins andere Medium ist heute ganz anders, aber es hilft, sich hinüberzubeugen über die zweieinhalbtausend Jahre Schriftherrschaft und mit Giulianis Hilfe darüber zu reflektieren, was verloren geht bei der Übersetzung.

Luca Giuliani: "Bild und Mythos - Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst". C.H. Beck-Verlag, München 2003. 367 Seiten, mehr als 70 s/w Abbildungen, 34.90 Euro ISBN 3406509991.