Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
23.01.2006. Antoinette lernt, dass sie ihrer Mutter überlegen ist. Turgenjew beklagt die deutsche, ganz vermaledeite Idealisation der Wahrheit. Adel Khoury erzählt von Mohammeds Vergewaltigung. Alfonos Hüppi liefert Sinnsprüche. Geert Mak setzt Akzente. Anton van Hooff untersucht die Selbsttötung in der Antike.
Trotzköpfchen

Antoinette ist vierzehn. Ihre Eltern geben einen Ball. Die Mutter möchte ihre Tochter nicht dabei haben. Sie will selbst glänzen. Eine fast erwachsene Tochter stört da nur. Sie sagt das Antoinette in der ihr eigenen brutalen Offenheit. Antoinette wirft die 200 Einladungen, die sie zur Post bringen sollte, in die Seine. Am Abend des Balles warten die Eltern auf die Gäste. Die kommen nicht. "Der Ball" erschien erstmals 1930 bei Grasset in Paris. Das Buch war ein Erfolg. Die Autorin, die 1903 in Kiew geborene Irene Nemirovsky, hatte im Jahr davor mit dem Roman "David Golder" großen Erfolg gehabt. Der blieb ihr treu bis sie 1942 nach Auschwitz deportiert wurde. Dort starb sie an Typhus. Ihr hinterlassener Roman über die deutsche Besatzungszeit in Frankreich, "Suite francaise", ist gerade bei Knaus erschienen.

"Der Ball" schildert eine Metamorphose. Aus der gehorsamen Tochter wird eine selbstbewusste junge Frau. Sie wird es nicht in einem langsamen Prozess, nicht in einer langen Folge von Reflexionen. Sie wird es durch einen Akt kindlichen, ja kindischen Trotzes. Als sie die Einladungen zum Ball in die Seine wirft, weiß sie, dass die Folgen schrecklich sein können für sie. Aber Antoinette wägt sie nicht ab, sondern sie phantasiert, dass sie sich das Leben nehmen kann, um ihrer Mutter zu zeigen, wie grausam sie ist. Erst als Antoinette merkt, wie verrückt ihre Mutter auf diesen Ball fixiert ist, wie sie sich stundenlang nicht eingestehen will, dass die Gäste nicht kommen, da erkennt die Tochter die Mutter und damit sich selbst. Sie merkt, dass sie sich nicht länger unterwerfen muss, dass sie ihrer Mutter überlegen, dass sie erwachsen ist. Wie Irene Nemirovsky aus der trotzigen Reaktion der Tochter und aus der ebenso trotzigen der Mutter Distanz und die Fähigkeit zur Abwägung entstehen lässt, das zeigt neben schriftstellerischem Talent etwas, das weitaus seltener ist: weise Ironie.

Irene Nemirovsky: "Der Ball". Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Claudia Kalscheuer. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2005. 99 Seiten, 12,90 Euro. ISBN 3552053611. Bestellen.


Ihre grelle Anschaulichkeit

Iwan Turgenjew (1818-1883) sprach und schrieb Deutsch. Er hatte es schon während der Schulzeit zu lernen begonnen. Wie gut er es erlernte, davon können wir uns jetzt ein Bild machen. Peter Urban hat Turgenjews deutschen Briefwechsel herausgegeben und kommentiert. In seinem Nachwort skizziert Urban das Übersetzungsschicksal Turgenjews, dessen knapper Stil Deutschen und Franzosen nie poetisch genug war. Sie blähten ihn auf. Wo Turgenjew schrieb "Er erkannte die einst so teuren Züge", da steigerte sich ein deutscher Übersetzer hinein in "Sie waren ihm ja wieder nah, diese ehemals ihm so lieben, teuren Züge..." Urban verachtet diese Form der Aneignung. Er sieht darin nur den Verrat am Dichterwort. Er hat recht, aber ist es nicht auch schön zu sehen, wie sich da jemand identifiziert, so ganz identifiziert, dass er vor lauter Verliebtheit sich alles einverleiben und nicht nur Turgenjews Russisch ins Deutsche übertragen, sondern am liebsten aus dem ganzen fremden Gesell einen machen möchte, der ihm gleich sei?

Urban zitiert auch eine der interessantesten Stellen aus diesem Briefwechsel: Turgenjews Einwände gegen Storms Erzählung "Aquis submersus". Er formuliert sie gegenüber seinem wichtigsten deutschen Briefpartner, dem Schriftsteller und Journalisten Ludwig Pietsch - wer ihn nicht kennt, sollte sofort dessen großartige Erinnerungen "Wie ich Schriftsteller geworden bin", die der Aufbau-Verlag im Jahre 2000 wieder neu vorlegte, lesen - in einem Brief vom 28. Dezember 1876: "Die Novelle ist fein und zart; aber, um Gottes Willen, wie ist es möglich z.B. den Knaben, kurz vor seinem Ertrinken - vom Paradies und Engeln singen zu lassen! Das erste beste Kinderliedlein würde zehnmal mehr Wirkung machen. Zwei Fehler begehen stets die Deutschen, wenn sie erzählen: das leidliche Motivieren - und die ganz vermaledeite Idealisation der Wahrheit. Fasst die Wahrheit einfach und poetisch auf - das Ideale bekommt ihr obendrein. Nein: Die Deutschen können die ganze Welt erobern; aber das Erzählen haben sie verlernt... eigentlich nie recht gewusst. Wenn der deutsche Autor mir etwas Rührendes erzählt - so kann er nicht umhin, mit dem einen Finger auf sein eigenes weinendes Auge zart hinzuweisen - mit dem anderen aber mir, dem Leser einen bescheidenen Wink zu geben, dass ich ja nicht das Rührobjekt unbeachtet lasse!"

Das ist schön bemerkt und klug beobachtet, auch wenn man daran zweifeln kann, dass es sich um eine nationale Eigenart handelt. Jedenfalls ist es eine Art zu schreiben, die damals ihr Publikum hatte und heute nicht weniger. Jede erfolgreiche Telenovela folgt diesem von Turgenjew geschmähten Muster. Es ist das Urmodell des Kitsches, kein deutscher erzählerischer Sonderweg. Liest man den schönen letzten Satz von Turgenjews Kritik noch einmal, fällt einem Brecht ein. Sein Verfremdungseffekt bekommt eine ganz neue Färbung. Der Kitschier macht alles schön und dann stellt er sich daneben und sagt uns, dass er es schön gemacht habe. Der Brecht-Schauspieler macht auch alles schön und stellt sich dann daneben und sagt uns, dass es nur geschauspielert ist. Es ist derselbe Bewegungsablauf, die gleiche Geste der Distanzierung. Mit einem winzigen Unterschied, der freilich einen Rieseneffekt machte. Aber ohne das sentimentale Theater kein episches. Dessen Kraft stammt zu einem Gutteil von dem, wovon es sich abstößt.

In Turgenjews Korrespondenz ist vor allem von Praktischem, also von Manuskripten, Honoraren, von zahlenden Verlegern und redigierenden Redakteuren die Rede. Man gewinnt einen Einblick in die materielle Seite der Existenz des Autors Turgenjew. Allerdings musste er nicht von seiner Schriftstellerei leben. Es gab Besitz, der eine halbwegs solide Basis für das Leben fern der russischen Autokratie gab. Dazwischen immer wieder Kommentare zur zeitgenössischen Literatur. Zur "Judenbuche" schreibt er: "Die Drostesche Novelle hat auf mich durch ihre Kraft und ich möchte sagen durch ihre grelle Anschaulichkeit einen großen Eindruck gemacht, nur wird die Handlung bald so hin und her gezerrt, dass man am Ende nicht recht klug aus der ganzen Geschichte wird".

Es gibt auch hoch parodistische Briefe wie den an Ludwig Pietsch vom 17. Februar 1870. Turgenjew ist in Weimar und friert erbärmlich. Er hasst die Stadt und verflucht Goethe dafür, hierher gezogen zu sein. Der Brief endet mit den Sätzen: "Geh, halb erfrorner Brief - aus dem kalten Loch Weimar in das noch kältere - aber viel größere - Loch Berlin - und gib einen schwachen Begriff von unseren Leiden! Kaum noch urteilsfähig grüße ich doch Ihre Familie, Menzel, Schmidt, Eckerts, Auerb... Hier bin ich wie ein Klumpen Eis umgefallen. Adje! Ihr I. Turgenjew
p.s. Dohm allein friert nicht! Wenn es über 25 Grad Kälte gibt, dann nimmt er einen kleinen Spazierstock in die Hand - und schwitzt!
p.s.s. Seit dem Anfange des Briefs habe ich einen Hexenschuss bekommen!
p.s.s.s. Machen Sie den Brief nicht in einer zu warmen Stube auf - sonst schmilzt er augenblicklich!!"

Dem aufmerksamen Leser ist an dieser Stelle nicht entgangen, dass Turgenjew mit dem Herausgeber des Kladderadatsch, Ernst Dohm, dem Gatten von Hedwig Dohm, der Großmutter von Katia Mann, mit Berthold Auerbach, dem Autor der damals weltberühmten Schwarzwälder Dorfgeschichten, wie auch mit Adolf Menzel, dem bedeutendsten preußischen Künstler jener Jahre, bekannt war. Er war es u.a. auch mit Bettina von Arnim, Ludwig Friedländer, dem Autor der noch heute verlegten Sittengeschichte Griechenlands, Ebner-Eschenbach, Georg Herwegh, Heinrich Laube, Julius Rodenberg und Johannes Brahms.

"Werther Herr!". Turgenjews deutscher Briefwechsel. Herausgegeben, mit einer Zeittafel, Kurzbiografien der 24 Briefpartner und mit einem Nachwort versehen von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2005. 335 Seiten, gebunden, 22,50 Euro. ISBN 3932109430. Bestellen.


In der Wärme seiner Liebe

Adel Theodor Khoury, 1930 im Libanon als katholischer Christ geboren, hat nicht nur den Koran ins Deutsche übersetzt, sondern auch einen mehrbändigen wissenschaftlichen Kommentar zum heiligen Buch des Islam verfasst. 350 Seiten hat sein jüngstes, für ein breites Publikum bestimmtes Buch "Der Koran - erschlossen und kommentiert von Adel Theodor Khoury". Nach einer Einführung in die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Koran, in die nachkoranischen Muhammad-Legenden, werden Koranstellen zitiert und kommentiert. Khoury trägt Zitate zu Überschriften wie "Selbstverständnis des Islams", "Gott und Jenseits", "Offenbarung und Propheten", "Der Mensch und sein Weg", "Die islamische Gemeinschaft" zusammen. Abgeschlossen wird der Band mit einem Kapitel "Muhammad und der Koran in heutiger Sicht".

Die einschlägigen Stellen sind durch das detaillierte Inhaltsverzeichnis leicht zu finden. Wer sich also zum Beispiel dafür interessiert, was im Koran über Jesus Christus steht, der liest die Seiten 154 bis 177 und findet aus der fünften Sure: "Und als Gott sprach: O Jesus, Sohn Marias, warst du es, der zu den Menschen sagte: 'Nehmt Euch neben Gott mich und Maria zu Göttern?' Er sagte: 'Preis sei Dir! Es steht mir nicht zu, etwas zu sagen, wozu ich kein Recht habe. Hätte ich es gesagt, dann wüsstest Du es... Ich habe ihnen nichts anderes gesagt als das, was Du mir befohlen hast, nämlich: Dienet Gott, meinem Herrn und eurem Herrn.'"

Das ist eine schöne Stelle muslimischer Kritik am Christentum aus dem Munde Christi selbst. Die Christen beten Jesus an. Das macht sie in den Augen der Muslime zu Verrätern am einzigen Gott. Die zitierte Stelle macht nun klar, dass die Christen mit ihrer Vergöttlichung Jesu nicht nur Gott, sondern auch Jesus verraten haben. Die Pointe der Geschichte ist freilich, dass an keiner Stelle der Evangelien Jesus von seinen Jüngern oder von sonst irgend jemand verlangt, als Gott angebetet zu werden. Die muslimische Kritik trifft also einen entscheidenden Nerv der christlichen Überlieferung und der Auseinandersetzungen im frühen Christentum über die Natur Christi.

Khoury macht die zentrale Rolle, die die Auseinandersetzung mit dem Christentum und die Figur Christi im Koran spielt, an vielen Beispielen deutlich. Er geht ausführlich auf die vierte Sure ein, in der es heißt, Jesus sei nicht gekreuzigt worden, sondern Gott habe ihn zu sich gerufen. Khoury berichtet von den Debatten, die über diese Stelle von frühesten Zeiten bis heute geführt wurden. Noch 1972 erklärte die Al-Azhar-Moschee in Kairo in einer Rechtsauskunft, einer Fatwa, es sei für die Rechtgläubigkeit unerheblich, welcher Auffassung oder Auslegung man bezüglich der Kreuzigung, Himmelfahrt und Wiederkunft Jesu folge. Man kann also, was diese Fragen angeht, gläubiger Katholik und Moslem zugleich sein.

Eine der unheimlichsten Geschichten über Mohammad steht nicht im Koran, es wird aber mehrfach auf sie angespielt. Überall wo es heißt, ihm sei die Brust geöffnet oder geweitet worden, und man habe ihm eine Last abgenommen, da geht es um ein Ereignis im Leben des Propheten, das seine Amme Halima folgendermaßen erzählt: "Während Mohammad eines Tages mit seinem Milchbruder hinter den Zelten das Vieh hütete, kam dieser gelaufen und sagte zu mir und meinem Mann: 'Schaut doch nach meinem Milchbruder... Zwei Männer sind gekommen, haben ihn auf den Boden gelegt und seinen Leib geöffnet.' Wir gingen also hin und trafen ihn stehend, aber mit blassem Gesicht. Wir umarmten ihn und sagten: 'Kind, was hast du?' Er antwortete: 'Zwei weißgekleidete Männer sind zu mir gekommen, haben mich auf den Boden gelegt und meinen Leib geöffnet.'" Eine andere Überlieferung erzählt die Geschichte weiter: ".. sie nahmen mein Herz heraus, spalteten es und entnahmen ihm einen schwarzen Klumpen; sie sagten: 'Das ist der Anteil des Satans an dir, Freund Gottes.' Dann wuschen sie mein Herz, bis es rein war, und füllten es mit Weisheit und Glauben. Hierauf sagten sie: 'Wenn du um das Gute wüsstest, das Gott mit dir vorhat, würdest du dich freuen.'"

Glaube ist Unterwerfung. Die durch ihn entstandene Reinheit ist Ergebnis einer Vergewaltigung. Wer jetzt aufschreit, das sei so nicht gemeint, vergisst, dass es so beschrieben ist. Es ist eine Legende, Literatur also. Aber es ist Literatur von Gläubigen, von Menschen, die ihren Glauben so erleben. Es ist keine Parodie, kein Versuch einer Verächtlichmachung, sondern - auch als erfundenes - ein Glaubenszeugnis. Eines, das freilich auch theologisch argumentiert. Mohammad wurde nicht rein geboren. Die Muslime - so lautet der Subtext - belügen uns nicht über die Natur ihres Propheten wie die Christen es tun. Deren Messias kam - so behaupten sie - ohne den "Anteil des Satans" auf die Welt. Mohammad dagegen ist ganz Mensch, freilich ein Erwählter, ein - wie der Name sagt - von Gott Gesandter. Das macht ihn aber zu keinem Übermenschen.

Goethe hat die Geschichte von der Leiböffnung in seinem Fragment gebliebenen Drama "Mahomet" - wie es sich für einen Dichter gehört - übernommen und abgelehnt zugleich. Khoury zitiert:
"Muhammad: Ich war nicht allein. Der Herr, mein Gott hat sich mir freundlichst zu mir genaht.
Halima: Sahst du ihn?
Muhammad: Siehst du ihn nicht? An jeder stillen Quelle, unter jedem blühenden Baum begegnet er mir in der Wärme seiner Liebe. Wie dank ich ihm - er hat meine Brust geöffnet, die harte Hülle weggenommen, dass ich sein Nahen empfinden kann
Halima: Du träumst! Könnte deine Brust eröffnet worden sein und du leben?
Muhammad: Ich will für dich zu meinem Herrn flehen, dass du mich verstehen lernst."

Aus der Vergewaltigung eines Minderjährigen wurde ein konsensualer Akt der Liebe. Ein Rührstück wie von Greuze, das nicht weniger sexuell getönt ist als die alte muslimische Legende. Es macht den Reiz von Khourys Buch aus, dass er immer wieder solche Abschweifungen bietet, die einem deutlich machen, in welchen Kontexten unsere Wahrnehmung von Koran und Islam sich auch bewegt. Das Buch endet mit den Sätzen: "Um ihre Chance in der Diaspora wahrnehmen zu können, muss die islamische Gemeinschaft das Land, in dem sie lebt, im Grundsatz bejahen und nicht als Feindesgebiet betrachten. Entscheidend aber ist: Man muss integrationsfähig sein, damit die Integration gelingen kann. Und man muss erst die Integration wollen, um integrationsfähig zu werden."

"Der Koran". Erschlossen und kommentiert von Adel Theodor Khoury. Mit mehr als 160 s/w und farbigen Abbildungen. Patmos Verlag, Düsseldorf 2005. 352 Seiten, gebunden, 39,90 Euro. ISBN 3491724856. Bestellen.


Sinnsprüche

"Gott Vater schickte uns seinen Sohn. Die Tochter behielt er für sich." Sinnsprüche sind aus der Mode gekommen. Früher gab es Autoren, die hohe Auflagen mit Aphorismensammlungen erreichten. Unsere Urgroßväter kommentierten noch jedes Ereignis mit einem Zitat, einem treffenden, geflügelten Wort. Das war immer ironisch und ernst gemeint zugleich. Das Zitat verlieh dem eigenen Erlebnis historische oder dichterische Dignität, gab aber zugleich zu erkennen, dass man sich des Abstands zwischen zum Beispiel dem Abfall der Niederlande und dem Rutschen einer Hose klar war. Aber man zog damit nicht nur sich durch den Kakao, sondern auch den Bildungskanon und den mit ihm verbundenen hohen Ton.

Natürlich gab es auch Zeitgenossen, die alles ausschließlich ernst meinten, aber das scheinen, wenn die Überlieferung nicht trügt, die zuverlässigsten Lieferanten Lachtränen treibender Glücksfälle unfreiwilliger Komik zu sein. Der mir leider bisher unbekannte Alfonso Hüppi, der trotz seines in norddeutschen Ohren so parodistisch klingenden Namens, ein wichtiger Lehrer an der Düsseldorfer Kunstakademie sein soll, hat Anfang des Jahres ein kleines Bändchen mit Sinnsprüchen vorgelegt, die zur ironischen, selbstironischen Tradition gehören. Er mischt Aktuelles mit Sinnsprüchen aus der Abteilung ewige Wahrheiten. So stehen auf einer Doppelseite zum Beispiel diese drei: "Die Achse des Bösen ist eine Spiegelung der Achse des Dummen" "Wenn sich die Gräser versteifen knicken sie um" "Die Dekonstruktivisten zerbröseln die Kugeln zu Schrot Damit treffen sie alles irgendwie".

Das ist sicher nicht brillant formuliert, aber doch klar und einprägsam. Der Verzicht auf Satzzeichen wird dem Kenner klarmachen, dass ich etwas Wichtiges verschwiegen habe. Es handelt sich um ein Künstlerbuch. Die Sinnsprüche sind illustriert mit schwarzen Tuschezeichnungen, die den Text karikieren. Hüppi liebt Wortspiele von der Art "Als er hingefallen war sagte er ich bin bestürzt". Man muss kein Fan solcher Bemühungen sein, um die Zeichnung dazu zu schätzen. Da liegt ein Mann mit ausgestreckten Armen ganz flach auf dem Boden, wie die in Teig verwandelten Max und Moritz bei Wilhelm Busch. Wenn man diesem Wesen das hochnäsige "ich bin bestürzt" in den Mund legt, dann hat das seine Komik.

Alfonso Hüppi: "Schön wär's Schon war's". Mit 39 Zeichnungen. Matto Verlag, Köln 2005. 44 Seiten, broschiert, 8 Euro. ISBN 3936392021. Bestellen.


Gegengift

Es gehört zum Glück des Lesers, dass es nie an Neuem fehlt. Eine besondere Freude ist es, einen Autor für sich zu entdecken, der schon viel veröffentlicht hat, bei dem man also schnell viel nachlesen kann, der aber noch lebt, und bei dem man darum aufgeregt auf seine künftigen Bücher wartet. Für mich ist der Holländer Geert Mak dieses Glück. Von ihm waren schon drei Bücher auf Deutsch erschienen bis ich "In Europa - Eine Reise durch das 20. Jahrhundert" las. Es sind alles sehr dicke Bücher. Es wird also eine Weile dauern, bis ich meinen Rückstand aufgeholt haben werde. Aber das macht nichts. Den es ist demnächst - so hat er mir in einem Gespräch erklärt - kein neues Buch von ihm zu erwarten.

Er arbeitet zur Zeit an einem Film. Nicht das erste Mal. In Holland ist er einem breiten Publikum vor allem durch seine Fernsehdokumentationen bekannt. Wir trafen uns in einem Berliner Hotel in den Tagen, als in den Pariser Vorstädten die Autos brannten. Geert Maks Kommentar war: "Ich war vor zwanzig Jahren an der Universität. Wir untersuchten die sozialen Konsequenzen des Städtebaus. Wir warteten damals stündlich, dass etwas in den Pariser Vorstädten passierte. Waren Sie dort? Sie müssen hin! Sie müssen sich das ansehen! Es ist Käfighaltung. Ich wundere mich, dass in den letzten zwanzig Jahren so wenig passiert ist, und ich wundere mich, dass noch immer so wenig passiert."

Herr Mak ist ein temperamentvoller Mann. Er ist kleiner als sein imponierender Kopf vermuten lässt. Er lacht gerne und er freut sich, dass das Essen gut schmeckt. Nach mir wird er noch einen Journalisten sprechen. Er ist ein sehr gefragter Mann in diesen Tagen. Normalerweise ist er es, der die Fragen stellt. "In Europa" ist entstanden aus einer Reise, auf die ihn im Jahr vor dem Milleniumswechsel die holländische Tageszeitung NRC/Handelsblad geschickt hatte. Täglich gab es unten rechts auf der Titelseite einen Platz für ihn, auf dem er den Lesern seine Reiseeindrücke mitteilte. Für das Buch wurde jede Zeile neu geschrieben, aber die Basis ist diese Reise. Mak war in Paris, London, Wien, Moskau, Petersburg - im Buch, das ja eine Reise durchs 20. Jahrhundert ist, heißt es ganz korrekt auch mal Petrograd oder Leningrad -, aber auch in Bielefeld, Lourdes, Tschernobyl und Srebrenica. Selbstverständlich war Mak auch in Auschwitz, und es fehlt auch nicht der Ausflug nach Istanbul.

Das Prinzip seiner Reisen wird klar, wenn man sich zum Beispiel ansieht, von wo aus er über die Jahre 1940-1942 schreibt: "Berlin Himmlerstadt Auschwitz Warschau Leningrad Moskau" oder 1989-1999: "Bukarest Novi Sad Srebrenica Sarajevo". Die Geschichte hat ihre Geografie. Mak zeichnet sie nach. Mal skizziert er sie, mal malt er sie aus mit historischen Hintergründen, setzt starke Kontraste, um sich und dem Leser klar zu machen, was er sieht. Er traut seinen Augen nicht, darum schafft er an Gelesenem, Gehörtem herbei, was dem Verständnis aufhilft, und doch traut er nur dem Gesehenen. Darum hört er nie auf zu zweifeln. Also hört er nie auf, neugierig zu sein. Darum ist es ein Vergnügen "In Europa - Eine Reise durch das 20. Jahrhundert" zu lesen.

Geert Mak ist einer der bekanntesten Journalisten der Niederlande. Er ist aber auch ein Erzähler. Man spürt, welchen Spaß es ihm macht, aus einem Fakt eine Geschichte zu machen. Mit retardierenden Spannungsmomenten, mit verblüffenden Schlüssen. Die 944 Seiten von "In Europa" erzählen Hunderte kleiner Geschichten. Manche sind ein paar Seiten lang, manche nur ein paar Sätze. Ein andermal wieder liebt er es, die Fakten selbst sprechen zu lassen. Aber aus ästhetischen oder, nennen wir es beim Namen, aus effekthascherischen Gründen. So wenn er daran erinnert, dass die Staatsausgaben, die Margaret Thatcher drastisch hatte senken wollen, in ihrer Regierungszeit gerade mal von 42,5 Prozent des Bruttosozialprodukts auf 41,7 Prozent zurückgingen. Das ist ein Schlag tief in die Magengrube des Mythos von der Eisernen Lady.

Wer es lieber langweilig hat und umständlich, weil er sich sonst an der Nase herum geführt fühlt - es soll solche Einfaltspinsel unter den Lesern geben - der sei vor Mak gewarnt. Mak weiß seine Akzente zu setzen, und er sieht seine Aufgabe darin, der Leser nicht nur zu interessieren, sondern ihn hineinzuziehen in das Buch, in die Geschichten und die Geschichte dieses vermaledeiten Europa in diesem schrecklichen 20. Jahrhundert. Geert Mak hat dabei immer die Gegenwart vor Augen. Er ist fasziniert von Geschichte, weil sie ihm die Gegenwart verständlich macht. Er weiß, dass die Gegenwart kein Ableger der Vergangenheit ist, nicht ihr Klon, sondern oft hervorgegangen ist aus einem Kampf gegen sie. Aus Hass und Abscheu nicht seltener, als aus Treue und Liebe. Er erzählt auch so, dass wir begreifen, dass es in den meisten Fällen ein schwer zu durchschauendes Knäuel all dieser Faktoren ist. Wer bei Mak gelesen hat, dass es in England allein im April 1913 zweiundzwanzig Anschläge der Suffragetten gegeben hat, darunter Attentate auf leere und volle Züge, auf Schulen und Zeitungsredaktionen, der verändert seinen Blick auf das, was heute als "Weltgefahr Nummer 1 Terrorismus" betrachtet wird. Jede Seite von "In Europa" tritt mächtig dem entgegen, was Alexander Kluge "den Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" genannt hat. Mak ist das Gegengift gegen unsere Borniertheiten.

Geert Mak: "In Europa". Eine Reise durch das 20. Jahrhundert. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke und Gregor Seferens. Siedler Verlag, München 2005. 944 Seiten, gebunden, 49,90 Euro. ISBN 3886808262. Bestellen.


Selbstmord aus Scham oder Schuld

In den fünfziger Jahren war viel die Rede davon, dass die Selbstmordrate in der DDR fast doppelt so hoch war wie die in der BRD. Ein paar Jahre lang galt das als deutlicher Hinweis auf den immensen seelischen Druck, unter dem die Bevölkerung durch die revolutionäre Umgestaltung stand. Bis ein paar klugen Statistikern in Ost und West auffiel, dass diese Zahlen nicht neu waren. Schon im Kaiserreich hatten die Territorien, die später für ein halbes Jahrhundert die DDR bildeten, eine deutlich höhere Selbstmordrate. Die Ursache dafür ist bis heute unbekannt. Udo Grashoff erzählt diese Geschichte in seinem Beitrag "Tabuisierung oder Prophylaxe - Die Selbsttötungsraten der DDR und die Politik der SED" in dem sehr instruktiven Band "Sterben von eigener Hand - Selbsttötung als kulturelle Praxis".

Wer Tipps sucht, wie er dem täglichen Versagen ein für alle mal ein Ende machen kann, wird hier nicht fündig werden. Stattdessen machen ihn 17 Beiträge mit den verschiedensten Arten, mit der Selbsttötung umzugehen, vertraut. Der Selbstmord im Altertum zum Beispiel oder bei japanischen Kriegern, im Nationalsozialismus oder in der palästinensischen Dichtung, in Indien und in China, bei Kleist oder Durkheim. Keine Kulturgeschichte des Selbstmords, sondern Perspektiven für eine solche. Ich muss jetzt schnell aufhören von "Selbstmord" zu reden. Das ist eine späte abendländische Spezialität. Der Begriff "suicida" (Selbstmörder) ist ein Kunstwort aus dem Jahre 1177. Man wüsste gerne Näheres, aber das Mittelalter kommt in dem Band nicht vor, sodass ich die schöne Präzision des Geburtsjahres unseres Wortes nur genießen, nicht erklären kann. Im Lateinischen hieß die Sache wesentlich klarer: mors voluntaria, also willentlicher Tod.

Anton van Hooff, einem Mann, der seit zwanzig Jahren über die Selbsttötung in der Antike forscht, sind 20.000 Fälle aus 2000 Jahren bekannt geworden. Er hat nachgelesen, was über sie und über Selbsttötung im Allgemeinen in der Antike geschrieben wurde, und kommt - er geht bewundernswert kühl an die Sache heran - zunächst mal zu dem Ergebnis, dass 36 Prozent aller Selbsttötungen der Antike durch Waffen verübt wurden, 17 Prozent durch Erhängen, 15 durch Sturz, 8,6 durch Gift. Bei den Motiven steht an erster Stelle die Scham mit fast 30 Prozent, ihr folgt mit 25 Prozent die Verzweiflung, ganz am Ende der Skala mit nur noch 1,78 und 1,69 Prozent stehen der Lebensüberdruss (taedium vitae) und das Schuldbewusstsein, die mala conscientia.

Van Hooff macht aus der Unterscheidung von mala conscientia und pudor eine große Sache. Sie steht ihm - er folgt damit einer langen Tradition - für den radikalen Unterschied zwischen Antike und Christentum. Beim Pudor geht es um die Ehre. Der geschlagene Feldherr, der gestürzte Politiker, die vergewaltigte Frau - sie alle bringen sich um, um ihre Ehre wieder her zu stellen. Sie werden nicht von Schuldgefühlen gequält. Nicht sie haben etwas getan, sondern ihnen ist etwas angetan worden. Sie sühnen nicht eine Untat durch den Tod, sondern sie zeigen Mit- und Nachwelt, dass für sie das Leben nicht das höchste Gut ist, sondern der Glanz ihres Namens. Vom heiligen Augustin stammt zwar nicht der Begriff Selbstmord, aber er hat den willentlichen Tod als erster Mord genannt. "qui se ipsum occidit, homicida est." Das hat natürlich zentral damit zu tun, dass nichts der christlichen Anschauung ferner steht als der Satz: "Mein Leib gehört mir." Er ist uns nur zur Miete überlassen worden. Wir dürfen nicht über ihn verfügen. Gott hat ihn uns gegeben und er nimmt ihn uns wieder. Eine Ansicht, die auch höchst kuriose Kritiken am Selbstmord förderte. So erklärte 1786 in einem Londoner Kriminalprozess ein Geistlicher - man glaubt seinen mokanten Gesichtsausdruck vor sich zu sehen: "To come uncalled into the presence of your Creator is highly criminal of itself." Man kann aus allem eine Frage der Etikette machen.

"Sterben von eigener Hand". Selbsttötung als kulturelle Praxis. Herausgegeben von Andreas Bähr und Hans Medick. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2005. 374 Seiten, gebunden, 44,90 Euro. ISBN 3412184055. Bestellen.