Vom Nachttisch geräumt

Eine Chronik des atomaren Wahnsinns

Von Arno Widmann
20.12.2018. Daniel Ellsberg erinnert in "The Doomsday Machine"  an die Zeit, als die Welt fast in den Atomkrieg schlidderte. Nicht als Augenzeuge. Als Täter.
Es war im Frühjahr 1961, Daniel Ellsberg hatte gerade seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert, da erfuhr er, wie die Welt enden würde. So beginnt er sein noch nicht ins Deutsche übersetzte Buch "The Doomsday Machine - Confessions of a Nuclear War Planner". Ellsberg arbeitete im Verteidigungsministerium und bekam ein Blatt Papier zu sehen, auf dem stand: "Top Secret. For the president's eyes only". Es war die Antwort auf eine Frage, die Präsident Kennedy den gemeinsamen Stabschefs gestellt hatte: "Wenn ihre Pläne für einen allgemeinen Atomkrieg realisiert werden, mit wie viel Toten muss man in der Sowjetunion und in China rechnen?"

Ellsberg bekam die Antwort zu sehen, weil er die Frage für den Präsidenten formuliert hatte. Die Antwort war ein Diagramm, aus dem hervorging, dass es innerhalb der ersten sechs Monaten zu 275 bis 325 Millionen Toten kommen würde. Allerdings waren darin noch nicht eingerechnet die Verheerungen, die durch die von den Atomexplosionen bewirkten klimatischen Veränderungen - zum Beispiel den "nuklearen Winter" - eintreten würden.

Daniel Ellsberg ist der Mann, der 1971 der New York Times die geheimen Pentagon-Papiere zuspielte, die belegten, dass die amerikanischen Regierungen, was den Vietnamkrieg anging, die amerikanische Bevölkerung von Anbeginn an systematisch belogen hatten. Die Kriegsführung war brutaler, die Verluste waren höher als erklärt, der Krieg, das wusste die Führung schon lange, war nicht zu gewinnen. Aber niemand wollte der Schwächling sein, der das zugab.

In seinem neuen Buch berichtet Daniel Ellsberg von der Zeit, als er in verschiedenen Institutionen der amerikanischen Sicherheitssysteme mit der Planung und Vorbereitung eines Atomkrieges beschäftigt war. Es ist die Geschichte eines Mannes, der als Friedensfreund begonnen hatte und zum Atomkriegsplaner wurde, bevor er Friedensaktivist wurde. Das Buch erzählt detailliert aus der Arbeit von RAND-Corporation, Pentagon und Weißem Haus. Ellsberg zeigt, dass die amerikanische Atomstrategie stets davon ausging, dass die USA die ersten sein müssten, die in einer zukünftigen Auseinandersetzung Atombomben einsetzen würden.

Atombombentest "Romeo" am 27. März 1954 auf dem Bikini-Atoll. Foto: United States Department of Energy


Der Führer der Sowjetunion, Nikita Chruschtschow, hatte während der Berlinkrise 1961 den Westen erfolgreich geblufft: Die Sowjetunion habe genügend strategische Atomwaffen, um die USA lahmzulegen, sie produziere Raketen wie Würste. Die Metzger-Metapher nahm man Chruschtschow ab. Als Ellsberg mitbekam, dass die UdSSR nicht einmal ein Zehntel der behaupteten atomaren Schlagkraft hatte, beschloss er zu intervenieren. Er legte über dessen Mitarbeiter Präsident Kennedy nahe, Chruschtschow mitzuteilen, dass man seinen Bluff durchschaut habe. Kennedy tat das nicht. Wollte er Chruschtschow nicht einen Lügner nennen? Als dann andere Stellen der amerikanischen Administration die Weltöffentlichkeit darüber aufklärten, dass die UdSSR keineswegs in der Lage war, für die eigene Sicherheit, geschweige denn die der Verbündeten, zu sorgen, sah Chruschtschow seine Position bedroht. Er verfrachtete Atomraketen nach Kuba, um weniger den USA als vielmehr den eigenen Leuten klar zu machen, dass ohne ihn nichts ging.

Poker und Planspiele hatten 1962 an den Rand eines Weltkrieges geführt. Das kam immer wieder einmal vor. Meist ohne dass die Bevölkerung es mitbekam. Ellsbergs Buch schildert diese Entwicklungen. Er ist ein überzeugender Historiker. Er breitet die Quellen aus. Er wägt verschiedene Interpretationsmöglichkeiten ab. Aber Daniel Ellsberg ist mehr als das. Er ist auch mehr als ein Augenzeuge. Er ist ein Täter. Einige der Texte, um die es geht, stammen von ihm. Er schrieb die Reden, die Expertisen, die halfen, Geschichte zu machen. So nahe wie er waren nur wenige dabei. Noch weniger schafften es, eine so kritische Position nicht nur zu den eigenen Taten, sondern auch zur eigenen Person zu beziehen. Ellsberg fragt nicht nur danach, wie er in den sechziger Jahren sich hat hinsetzen und ausrechnen können, wie viel Menschenleben eine Verteidigung Berlins kosten würde. Er fragt sich auch, wieso es so lange dauerte, bis er sich nicht mehr als kritischen Mitarbeiter sah, sondern als Täter.

An der grundsätzlichen Ausrichtung der amerikanischen Atompolitik, schreibt Daniel Ellsberg, habe sich bis heute nichts geändert. Weder Obama, noch Clinton, noch Trump habe auf das Recht der USA auf einen atomaren Erstschlag verzichtet. Die Art und Weise, wie Trump mit der Atombombe droht - man denke nur an Nordkorea -, machte einem schon vor der Lektüre von Ellsbergs "Doomsday Machine" Angst. Aber jetzt, da man so genau sieht, wie wenig nötig ist, um an den Rand eines Atomkrieges zu geraten, sinkt die Hoffnung, dass die Menschheit tatsächlich erst vom Klimawandel abgeschafft werden könnte. Ellsbergs Buch liefert eine Chronik des atomaren Wahnsinns. Zugleich ist es ein Beleg dafür, dass der Einzelne ihm entkommen kann. Wie die Menschheit dem nuklearen Wahn entgehen könnte, ohne ihm nachzugeben, weiß auch Daniel Ellsberg nicht. Für den globalen Ausstieg aus der Atombewaffnung gibt es kein Szenario.

Daniel Ellsberg: The Doomsday Machine. Confessions of a Nuclear War Planner, Bloomsbury, 432 Seiten, 17,99 Euro.