Vom Nachttisch geräumt

5. September 1972

Von Arno Widmann
28.10.2019. Alte Bekannte: Ein Katalog zu den Plakaten, Kostümen und Zeichnungen von Roland Topor.
Das Folkwang Museum in Essen zeigte vom 29. Juni bis zum 28. September 2018 eine mehr als 200 Arbeiten präsentierende Ausstellung der Werke von Roland Topor (Paris 1938- Paris1997): Illustrationen, Plakate und Kostüme, die nach seinen Zeichnungen für die "Zauberflöten"-Inszenierung am Essener Aalto-Theater im Jahre 1990 hergestellt worden waren. Steidl und Diogenes Verlag haben dazu einen prächtigen Katalog vorgelegt. Ich entdecke darin alte Bekannte aus der Zeit, als Topor Plakate für die Frankfurter Oper machte. Mehr noch aber liebte ich seine frühen brutalen Zeichnungen. Zum Beispiel die des Kopfes, dessen untere Kinnlade mit einem Hammer auf Brusthöhe hinuntergeschlagen wird.

Roland Topor, One of Casanova's Theory, 1975. Kieselbach Gallery and Auction House


"Eine Theorie Casanovas" heißt ein Bild mit einem Dutzend nackter Frauen, die frontal vor dem Betrachter stehen. Jede ist nur halb. Nein. Wer genau nachzählt, kommt auf zehn Beine, neun Schamhügel (sagt man noch so?), neun Bauchnabel, fünfzehn Brüste und zwölf Köpfe. Sie sind alle zusammengewachsen. Sie alle sind eine einzige Person. Dass Topor sein Bild nicht eine Vision, sondern eine Theorie nannte, ist Teil seines Humors, der Casanova seine Geschichten nicht abzunehmen bereit ist. Oder war "Theorie" 1975 noch immer das schickere Wort? Die Sache wird nicht gerade vereinfacht, wenn man sich des griechischen Ursprungs des Wortes erinnert: Anschauung.

"Ohne Titel" entstand 1986 und zeigt eine mit einem Maschinengewehr bewaffnete vermummte Person vor einer Wand. Jeder, der damals schon Fernsehen sah, kennt das Bild. Es ist der erste Auftritt der palästinensischen Attentäter vom Morgen des 5. September 1972 auf dem Münchner Olympiagelände. Auf Topors Zeichnung wird er von einer riesigen Hand weggeschnipst. Die gab es damals nicht. Es gab damals keinen Polizeischutz für die israelische Olympiamannschaft. Die Anti-Terror-Einheit GSG9 wurde erst als Reaktion auf das Debakel der deutschen Sicherheitskräfte ins Leben gerufen.

Zwei Zeichnungen aus dem Jahre 1968 liebe ich besonders: drei Männer, die auf ihren Zungen laufen und "Couple X". Eine Frau steht in einem Abendkleid aus dem 19. Jahrhundert hinter einem Herrn und wischt ihn, als würde sie ihm die Flusen vom Mantel wegwischen, mit einer Kleiderbürste weg. Der Sohn polnischer Einwanderer hatte sich den Namen (Topór heißt die Axt oder das Beil auf Polnisch) nicht etwa selbst ausgesucht, sondern ihn nach- und ausgelebt.

Panoptikum Roland Topor, Steidl, Diogenes, 224 Seiten, zahlreiche s/w und farbige Abbildungen, 24,99 Euro.
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