Vom Nachttisch geräumt

Solche und solche Sonderzüge

Von Arno Widmann
20.11.2018. Leisteten ihren Beitrag zur Verfolgung der europäischen Juden 1933-45: Deutscher Ordnungssinn und rumänisches Verantwortungsbewusstsein.
"Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945" ist eine auf 16 Bände geplante Edition von Dokumenten. Herausgegeben wird sie im Auftrag des Bundesarchivs, des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Freiburg und des Lehrstuhls für die Geschichte Ostmitteleuropas am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Erschienen sind bisher elf Bände. Auf den neuesten sei hier kurz hingewiesen. Er beschäftigt sich mit den Vorgängen in der Slowakei, in Rumänien und in Bulgarien. 343 Dokumente. Wie in den anderen Bänden der Edition werden auch diesmal Texte von Tätern und Opfern, zeitgenössische Zeitungsberichte und Briefwechsel dokumentiert.

Wer sich an die Züge in Claude Lanzmanns Film "Shoa" erinnert, der wird die knappe Aufstellung eines Fahrplans für die Deportation von 10 000 Juden mit großem Interesse lesen. Es handelt sich um das Protokoll eines Gespräches zwischen Vertreter der slowakischen Eisenbahn und der Reichsbahn, das am 10. November 1942 in Bratislava stattfand. Es ging darum, noch möglichst viele Juden vor der Winterpause, die am 15. Dezember beginnen sollte, abzutransportieren. Für die Deportationen gab es Sonderzüge. Da-Züge nannte man in der Reichsbahn die, die außerhalb Polens zusammengestellt wurden. Den Anmerkungen zum Dokument entnehme ich, dass der Reichsbahnrat Erich Richter, der an den Gesprächen teilnahm, erst 2007 - im Alter von 98 Jahren - starb. Wichtiger noch: 1959 wurde er zum Bundesbahnoberrat und 1969 zum Bundesbahndirektor ernannt. Ein anderer Teilnehmer der Veranstaltung war nach dem Krieg u.a. zuständig für den Regierungssonderzugverkehr der Bundesrepublik Deutschland. Expertenwissen.

Beim Lesen erwischt man sich bei seltsamen Beobachtungen. Der Polizeidirektor der rumänischen Stadt Jassy berichtet über Razzien und Verhaftungen von Juden im Juni 1941. Es geht nicht um Ermordung. Polizeichef Constantin Chirilovici, der sich übrigens 1947, als ihm der Prozess gemacht werden sollte, das Leben nahm, schreibt: "Es wird empfohlen: höfliches, kultiviertes Verhalten und rumänisches Verantwortungsbewusstsein, gleichwohl Entschlossenheit und Bestimmtheit, jedoch keine Übergriffe, Gewalt, unnötige Beschimpfungen oder Misshandlungen. Allen Einsatzkräften wird taktvolles Vorgehen, Geduld und Besonnenheit auferlegt." Wenn es um die Leibesvisitation weiblicher Verdächtiger geht, wird der Bericht sehr detailliert: eine christliche Frau muss als Zufallszeugin die Leibesvisitation vornehmen, angeleitet von einem Polizeibeamten. Außerdem müssen pro Untersuchung zwei weitere Zeugen der Leibesvisitation beiwohnen. Mitten in der allgemeinen Brutalität soll alles höflich zugehen und erst recht, wenn es sich um sexuelle Tabuzonen handelt. Aus den anschließenden Dokumenten geht hervor, dass sich die Soldaten nicht immer rumänisch verantwortungsvoll verhielten. Es kam zu Plünderungen und Massakern. Jedenfalls stellt das der Befehlshaber der ortsansässigen Truppen fest und ordnet an, dass "solche Aktionen nur im Sonderauftrage eines unmittelbaren Vorgesetzten durchgeführt werden dürfen." Offenbar ist die Vorstellung falsch, nur eine deutsche Mordmaschine, lege Wert darauf diszipliniert und geordnet zu funktionieren.

Erhellend sind auch die Briefwechsel zwischen slowakischen und deutschen Stellen über die Aufteilung der Beute. Die Deutschen bemängeln, dass sie nicht berücksichtigt werden bei der Enteignung der Juden. Mit Slowakisierung der jüdischen Besitztümer sei es nicht getan. Eine wirkliche Arisierung müsse dem Einsatz des deutschen Reiches bei der Lösung der Judenfrage Rechnung tragen.

Gerade bekomme ich den neuesten Band auf den Schreibtisch. Es ist der Band 16. 289 Dokumente auf 883 Seiten über "Das KZ Auschwitz 1942-1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45". Doch darüber ein andermal.

Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 - Band 13 "Slowakei, Rumänien und Bulgarien", bearbeitet von Mariana Hausleitner, Souzana Hazan und Barbara Hutzelmann, Bandkoordination: Ingo Loose, de Gruyter/Oldenbourg, berlin - Boston 2018, 800 Seiten, 59,95 Euro.