Vom Nachttisch geräumt

Katzen, Maschinen und ein Baby

Von Arno Widmann
20.11.2018. Vom Babytalk zur Welterfahrung der Fledermäuse: Karl Ove Knausgård wechselt in seinem Jahreszeiten-Zyklus sprunghaft das Niveau.
Es ist völliger Blödsinn über den norwegischen Autor Karl Ove Knausgård etwas zu schreiben. Wer 2009 den ersten Band einer Autobiografie vorlegt, der er den Gesamttitel "Mein Kampf" gibt und im Jahre 2017 nach mehr als 4600 Seiten - der deutschen Ausgabe -  den sechsten abschließenden Band vorlegt, der hat schon mal alle sportliche Achtung verdient. Wenn daraus dann noch ein internationaler Bestseller wird, dann kann es nur darum gehen, mit vielen anderen Lesern und Käufern begeistert zu sein - also zum Beispiel mit dem von mir hoch geschätzten Alex Rühle von der Süddeutschen Zeitung - oder aber sich furchtbar viel unangenehme Arbeit zu machen.

Im Frühling. Bild von Anna Bjerger
Diesen Blödsinn mache ich jetzt. Ist der Ruf erst ruiniert… Ich habe alle sechs Bände von Knausgårds "Mein Kampf" - der Luchterhand Verlag verzichtet auf den Gesamttitel - auf meinem E-Reader. Aber ich habe sie nicht gelesen. An einem Sonntag, Mitte August, setzte ich mich auf den Liegestuhl auf meinen Balkon und begann mit Band 3 der Jahreszeitenbände. Ich hatte mich nicht kundig gemacht. Die richtige Reihenfolge wäre gewesen: Herbst, Winter, Frühling, Sommer. Insgesamt auch über 1300 Seiten. Ich mag solche gigantomanischen Projekte. Schriebe ich, ich schriebe viel. Ich las die erste Seite von Frühling. Ich war entsetzt. Dümmeres hatte ich lange nicht mehr gelesen. Ich warf das Buch nicht in die Ecke. Vor ein paar Jahren hätte ich das noch getan. Was bist Du alt und milde geworden, dachte ich. "Du weißt nicht, was Luft ist, dennoch atmest du. Du weißt nicht, was Schlaf ist, dennoch schläfst du. Du weißt nicht, was Nacht ist, dennoch ruhst du in ihr. Du weißt nicht, was das Herz ist, dennoch schlägt es regelmäßig in deiner Brust, Tag und Nacht, Tag und Nacht, Tag und Nacht". Großartig beobachtet. Und am Ende des Absatzes die dreimalige Wiederholung! Kunscht!

Und so geht es weiter: "Du bist drei Monate alt und in alltägliche Abläufe gehüllt, liegst tagein, tagaus auf einem Lager aus immer Gleichem, denn du hast keinen Kokon wie die Raupen…" Ich weiß, dass die Unterbringung der Knausgård-Tochter doch etwas abwechslungsreicher war als der Kokon einer Raupe, denn ich habe weitergelesen und der Autor wird nicht müde, uns zu erzählen, wie er immer wieder seine Tochter frisch wickelt. Aber immer noch auf der ersten Seite erzählt er uns noch, das Kind wachse so langsam, "dass niemand es merkt". Das ist allerdings eine originelle Beobachtung. Ich habe noch keinen Vater, keine Mutter gesprochen, die das über ihr drei Monate altes Kind gesagt hat. Am Ende der Seite steht dann noch die Behauptung, das Baby wende sich zunächst nur der Außenwelt zu, "und erst, wenn du dies etwa ein Jahr lang getan hast und die Welt eingerichtet ist, entdeckst du nach und nach, was dich selbst erfasst, und du wächst auch nach innen, zu dir selbst."

Das war der Satz, an dem ich das Buch noch vor ein paar Jahren angeekelt - von so viel Mangel an Neugierde - weggelegt - sehr vornehm ausgedrückt - hätte. An diesem Sonntag auf dem Balkon blätterte ich noch ein wenig in dem Buch, stieß auf ein paar Seiten über Knausgårds Aufenthalt auf Bergmans Insel Fårö. Ich hatte dort gerade ein paar sehr ergreifende Tage verbracht, als ich Linn Ullmanns Buch über das Sterben ihres Vaters Ingmar Bergman "Die Unruhigen" (ebenfalls bei Luchterhand) las. Ich mochte in Knausgårds "Im Frühling" diese Stelle: "Im Osten war der rote Streifen gewachsen, und seine Farbe war nicht mehr so konzentriert, es sah aus, als hätte man sie verdünnt, während der Himmel über ihr blasser geworden war. Die Erde, die sich zu allen Seiten hin flach ausbreitete, reflektierte das Licht noch nicht, sowenig wie die Bäume im Garten, im Gegenteil, sie saugte es gewissermaßen an, so dass die Schwärze langsam von gräulichen Körnern  gefüllt wurde, vor Dunkelheit fast berstend." Das war auf Seite 17. Da las ich weiter, aber es fiel mir schwer. Vergleichbares kam nicht mehr, stattdessen dieses dauernde Eingequatsche auf das Baby. Ich freute mich auch, dass er Ingmar Bergmans Romane lobte. Ich dachte, ich wäre der einzige, der sie mag. Aber viel weiter kam ich dann doch nicht.

Im Sommer, Aquarell von Anselm Kiefer
Aber ich ging ins Schlafzimmer und holte mir dort Band 4: "Im Sommer". Und blieb erst einmal hängen an den Aquarellen von Anselm Kiefer. Ich kannte seine Aquarelle nicht. Und schon gar nicht "Ich bin, der ich bin" von 2015. Allein Details daraus sind an vier Stellen im Buch eingestreut. Schon allein für einen so lebensbejahend-heiteren Kiefer könnte man ein Gutteil der 24 Euro, die der Band kostet, ausgeben. Aber "Im Sommer" ist von einer ganz anderen Qualität. Knausgård redet nicht mehr sein Baby an, das Kindchen-Schema wird also aufgegeben. Die Veränderung der Campingplätze in den vergangenen dreißig Jahren macht den Wandel der norwegischen Gesellschaft deutlich. Nicht nur, dass es den Norwegern deutlich besser geht als damals. Es ist auch wichtig geworden zu zeigen, dass es einem besser geht. Ich mag auch, dass er von der anderen "Welterfahrung" der Fledermäuse spricht. Ich weiß nicht, was im Norwegischen steht. Welt"sicht" kommt bei Fledermäusen ja so wenig in Frage wie Welt"bild", aber "Weltauffassung", "Welteindruck", "Weltgefühl" oder "Weltorientierung" wären doch Möglichkeiten gewesen. Aber ich mag "Erfahrung", denn ich assoziiere "Erfahrungswissenschaften" und die sind doch nahe am Sonarsystem der Fledermäuse. Aber "Erfahrung" heißt auch Gedächtnis und dessen Benutzung und das ist doch nichts als ein anderes Wort für Bewusstsein. Ich bin kein Fledermausforscher, aber ich finde, er hat Recht, es der Fledermaus zuzuschreiben.

Dass er gleich zu Beginn des Bandes Katzen beim Beobachten beobachtet und so von der Idee Abschied nimmt, sie seien instinktgesteuert, nimmt mich sehr für ihn ein. Ein paar Seiten weiter aber steht wieder ein so völlig ahnungsloser Satz, dass man sich fragt, ob Knausgård nicht besser aufhören sollte, sich über sein Kind auszulassen, "dessen deutlichste Eigenart darin besteht, dass es nichts verbirgt, dass es keine Geheimnisse hat". Woher weiß er das? Glaubt er ernsthaft, das Kind hätte nur das zu sagen, was er versteht? So naiv kann doch niemand sein. Und nun gar ein Autor, der Hunderte von Seiten über Empfindungen gefüllt hat!

"Fast alles von Menschenhand Erschaffenes erinnert in irgendeiner Form an etwas in der Natur." Wie kann ein Autor einen solchen Satz schreiben? Das ist der Satz eines Menschen, der nicht schreibt. Wer schreibt, dem fällt zum Beispiel die Hobelbank ein und er streicht den Satz. Aber ihn so windelweich zu formulieren mit diesem "fast" und dann noch der weiteren Einschränkung "in irgendeiner Form", das ist Politikerprosa, das ist der Satz eines Menschen, der nicht sagen möchte was ist, sondern recht behalten. Drei Seiten weiter dann die großartige Passage, in der Knausgård uns zeigt, dass wir, als wir Maschinen erfanden, die uns Arbeit abnahmen, "auch gleichzeitig uns erfanden", denn davor war uns nicht klar, dass alles, was wir tun auch ein Verbrauch von Energie, ein Verbrennen von Kraft ist. In der und durch die Maschine erkannten und erkennen wir uns selbst.

Karl Ove Knausgård: Im Frühling, mit Bildern von Anna Bjerger, 250 Seiten, 22 Euro und "Im Sommer", mit Bildern von Anselm Kiefer, 490 Seiten, 24 Euro, beide übersetzt von Paul Berf und beide erschienen im Luchterhand Verlag.
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