Vorgeblättert

Anita Kugler: Scherwitz, Teil 2

13.08.2004.
Auerbach eröffnet die Sitzung. In den Händen hält er ein Schreiben des "Public Relations Sub-Committee of the Association of Baltic Jews in Great Britain", das ihm Max Kaufmann zuvor überreicht hat. Mit Datum vom 15. April 1948 informiert das Komitee, es suche Beweismaterial für einen Prozeß gegen "Kriegsverbrecher", "Massenmörder" und "Kriminelle", der demnächst in der britischen Zone eingeleitet werden solle. Das Komitee bitte um Hilfe bei der Zeugensuche, denn "wir sind es den vielen unschuldigen Menschen, die ermordet sind, schuldig, nichts unversucht zu lassen, um diese Verbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen".(6)
     Dem Schreiben sind zwei Dokumente beigelegt, die Auerbach den Schlaf geraubt haben müssen. Das erste ist die Abschrift einer Suchanfrage, die die War Crimes Group (North West Europe) - dies ist die juristische Abteilung der britischen Armee in Bad Oeynhausen bei Minden - schon vor Monaten an die "Vereinigung der baltischen Juden in London" geschickt hat. In dem Schreiben vom 26. November 1947 heißt es, man habe inzwischen sechs in Riga tätig gewesene Kriegsverbrecher festgenommen. Drei weitere suche man dringend, darunter Fritz Scherwitz.(7)
Das zweite Dokument ist ein Schreiben der Association of Baltic Jews in London an den britischen Ermittler der War Crimes Group, Captain Lock. Dieser Brief ist in den Archiven nicht mehr auffindbar. Er befindet sich, obwohl er in Auerbachs Sitzungsprotokoll erwähnt wird, auch nicht in den Gerichtsunterlagen. Irgend jemand muß dieses peinliche Dokument aus den Akten entfernt haben, denn die Gerichtsunterlagen sind fortlaufend numeriert, und genau diese Nummer fehlt. Sein Inhalt aber läßt sich durch verschiedene Brieffragmente, die in der "Wiener Library" der Universität Tel Aviv archiviert sind, erschließen. Danach ist der britische Ermittler schon Anfang des Jahres 1948 darüber informiert worden, daß sich Fritz Scherwitz wahrscheinlich in der amerikanischen Zone aufhalte, man habe entsprechende Hinweise von Lagerkameraden aus München erhalten. Deshalb bitte man die britische Militärregierung, ein "Auslieferungsersuchen" an die Amerikaner zu stellen, damit bei dem bevorstehenden britischen Prozeß gegen die bereits festgenommenen lettischen Hauptkriegsverbrecher in Herford auch gegen ihn verhandelt werden könne. Inzwischen habe das Londoner Komitee auch Zeugen gefunden, die bereit seien, gegen ihn auszusagen. Die konkreten Vorwürfe der Zeugen lauteten: Fritz Scherwitz sei "SS-Untersturmführer" gewesen, habe in Riga das Konzentrationslager Lenta geleitet und dort zwei Menschen ermordet.(8)
Die schwarz auf weiß dokumentierten Beschuldigungen müssen eine Katastrophe für Auerbach gewesen sein. Der von ihm protegierte Verfolgtenbetreuer, der Regionalleiter für Schwaben, der Glaubensbruder Eleke Scherwitz - ein Kriegsverbrecher. Ein SS-Untersturmführer. Ein Judenmörder. Ein Mann, den die Briten schon seit Monaten suchen, während er zur selben Zeit Probleme der "Wiedergutmachung" mit ihm erörtert. Wenn die Presse davon erfährt, gibt es einen Skandal. Auerbach mag schon die Schlagzeilen geahnt haben: "Jüdischer SS-Offizier", "Wiedergutmachungsbeamter als KZ-Kommandant entlarvt", "Wolf im Schafspelz", "Hochstapler im Staatskommissariat". Alles Schlagzeilen, die tatsächlich am 4. Mai 1948 so in den Zeitungen stehen werden, acht Tage nach Scherwitz' Verhaftung. So lange hat Auerbach gezögert, hat sich erst mit der amerikanischen Militärbehörde und dem Staatsministerium für Inneres beraten, bevor er eine karge 12-Zeilen-Meldung an die Nachrichtenagentur Reuters herausgibt. Und dies auch nur, weil Max Kaufmann droht, seinerseits an die Presse zu gehen.
Dem Protokoll zum 26. April 1948 ist nicht zu entnehmen, ob die Sitzung in den Geschäftsräumen des Staatskommissariats dramatisch oder sachlich unterkühlt verlaufen ist. Auerbach ist berüchtigt für seine Wutanfälle, aber es ist zu vermuten, daß er an diesem Tag seine Emotionen in den Eisschrank verbannt hat. "Wie erklären Sie sich die Anklage der englischen Behörde und das Auslieferungsbegehren?" fragt er Scherwitz. "Es ist mir völlig unerklärlich", antwortet dieser. "Sind Sie Jude?" lautet Auerbachs nächste Frage. "Ich bin Volljude, ich habe eine Schwester hier wohnen und habe Tausende von Menschen, die das bezeugen können", erwidert Scherwitz.(9) Und dann will er ausholen, will weiterreden, will sagen, daß er unschuldig ist, alles ein großes Mißverständnis, daß die Wahrheit immer ganz anders ist, als man denkt, und er holt den Brief aus der Aktentasche, den Brief ohne Unterschrift über den Menschen Scherwitz, will ihn Auerbach zum Lesen geben. Aber Auerbach will ihn nicht lesen, sondern legt ihn zu den Dokumenten, die er später der Polizei übergeben wird.
Jetzt haben die baltischen Juden das Wort, allen voran Max Kaufmann. "Ich erkenne Scherwitz wieder als den Mann, der zwischen dem 15. und 25. Oktober 1941 im Großen Ghetto von Riga als Vertreter des SD [denjenigen] Wohnungen besorgte, die für die Gestapo arbeiteten", berichtet Kaufmann. "Das Große Ghetto existierte nur 35 Tage, am 30. November wurde es liquidiert. Bei dieser Aktion sind 27.500 jüdische Frauen, Männer und Kinder umgebracht worden. Ich habe Scherwitz bei dieser Gelegenheit in Begleitung des Ghettokommandanten Krause wiederholt gesehen. Ich sah ihn in Uniform mit dem Totenkopf, soweit ich mich erinnern kann."
Nach Kaufmann kommen die vier anderen Augenzeugen zu Wort. Sie alle berichten, daß der Mann, den sie vor sich sehen, 1941/ 1942 in der Uniform eines Polizeiwachtmeisters für die Gestapo ein geschlossenes Arbeitskommando in der Innenstadt von Riga, eine sogenannte Kasernierung, geleitet und später die Fabrik "Lenta" kommandiert habe, ein KZ-Außenlager außerhalb der Stadt. Während dieser Zeit, etwa 1943, sei er zum SS-Untersturmführer befördert worden.
Der Schneider Moses Ratz eröffnet die Runde. Er kennt Scherwitz am besten, er hat mehrere Monate unter seiner Ägide gearbeitet. Mit der Kompetenz eines direkt Betroffenen gibt er an, daß Scherwitz bestechlich gewesen sei und sich persönlich bereichert habe: "Als ich von dem Oberjuden [dem jüdischen Werkstattleiter] Rudow forderte, daß mein Sohn aus dem Ghetto zu mir nach Lenta kommen soll, antwortete er, daß Scherwitz Bezahlung fordere. Ich gab dann fünfzig Rubel in Gold, die der Oberjude für Scherwitz wollte. Nach drei Tagen kam mein Sohn zu mir. Es ist sicher, daß Scherwitz das Gold bekommen hat."
Der Filmregisseur Eugen B. und der Automechaniker Leo B. bezichtigen Scherwitz des Mordes. Sie können ihre Vorwürfe freilich nicht konkretisieren, weil beide zum Zeitpunkt der behaupteten Morde nicht mehr am angegebenen Tatort, der Fabrik Lenta, gearbeitet haben. Sie sind beide Zeugen dritter Hand, Zeugen vom Hörensagen, und von wem sie es gehört haben, geben sie nicht an. Auch die Identität und die genauen Namen der Toten kennen sie nicht."
Mir ist von Erzählungen der in Lenta Arbeitenden bekannt", führt Eugen B. aus, "daß Scherwitz zwei jüdische Handwerker erschossen habe, darunter Harry Schenker, den ich kenne, und einen anderen, den ich nicht kenne. Diese Mitteilung ist mir von lettischen Juden gemacht worden, die ich nicht kenne." Und Leo B. sekundiert: "Mir ist von Leuten, die bis zum Schluß dabei waren, erzählt worden, daß Scherwitz während der Auflösung des Lagers, bei einem Fluchtversuch, einen [Mann namens] Scheinker und einen Chait [Heit] erschossen habe."
Die vageste Beschuldigung kommt von Chaim Smitzkowicz. Er ist Vizepräsident der "Föderation der befreiten lettischen Juden in der US-Zone Deutschlands". Smitzkowicz sagt aus, daß er nicht zu Scherwitz' Kasernierung gehört habe, sondern zu einem Arbeitskommando im Haus nebenan. Er habe nur öfters über den Hof in die "Gestapo-Judenkasernierung" am Washington Platz gehen müssen, um von dort Essen zu holen. Aber: "Ich konnte mein Ziel öfters nicht erreichen, da die Schreckparole war, 1geh nicht, Scherwitz ist dai."
Keine dieser Beschuldigungen ist, in der vagen Form, in der die Zeugen sie vortragen, substantiell genug, um die britischen Vorwürfe, Scherwitz sei ein Kriegsverbrecher, KZ-Kommandant und Mörder, zu erhärten. Scherwitz wehrt sich, fühlt sich verleumdet, will die Vorwürfe entkräften. Er behauptet, er sei 1941 noch nicht in Riga gewesen, könne daher auch nicht vom Hauptbelastungszeugen Kaufmann kurz vor der Liquidierung des Ghettos in Totenkopfuniform gesehen worden sein. Aber dann räumt er ein: "Es sind vier Leute erschossen worden. Der Lagergärtner Heit, Scheinker und zwei andere; sie kamen zu mir und fragten, ob sie türmen können. Daraufhin habe ich gesagt - Zeugen sind vorhanden: 'Geht herauf, nehmt euch Uniformen und verschwindet.' Nachher kam Obersturmführer Nickel und erzählte, daß vier getürmt seien und ich solle sie verfolgen lassen. Inzwischen jedoch telefonierte ich, um ihnen Zeit zu geben; sie wurden jedoch auf der Straße von Letten erschossen." Damit hat Scherwitz ohne Not eine Korrektur eingeführt, die ihn mit einem Schlag schwer belastet. Er konkretisiert Eugen B.s und Leo B.s Zeugnis vom Hörensagen. Indem er die Ereignisse bestätigt und aus seiner Sicht geraderückt, gibt er ihren Aussagen ein Gewicht, das sie ohne seine Intervention nicht bekommen hätten. Fortan gilt es nicht mehr das Schicksal von zwei, sondern von vier Toten aufzuklären. Und Scherwitz hat sich selbst in die Bredouille gebracht, weil er zugegeben hat, im Lager Lenta ein Entscheidungsträger gewesen zu sein.
Jetzt ist die Sitzung schnell zu Ende. Scherwitz' Erklärungen reichen aus, um den Kriminalwachtmeister aus dem Wartezimmer zu rufen. Der drückt ihm ein Formular in die Hand. Darauf sind die Vorwürfe gegen ihn vermerkt: "Verdacht auf Kriegsverbrechen" und "SS-Uniformträger". Er habe sich vor einem Gerichtshof der Militärregierung zu verantworten, dürfe sich aber einen Verteidiger nehmen.
Es ist genau 18.20 Uhr, als der Regionalleiter für die Opfer des Nationalsozialismus in Schwaben, Dr. Eleke Scherwitz, verhaftet wird. Den vorsorglichen Brief, den er seinem Vorgesetzten schon überreicht hat, schaut Auerbach nicht einmal flüchtig an. Er läßt den Brief am nächsten Tag ins Polizeipräsidium bringen, zusammen mit der fristlosen Kündigung, der Kriegsverbrecherliste der britischen Militärregierung, dem Sitzungsprotokoll und der "Bitte, über den Verlauf der Verhandlungen unterrichtet zu werden".
Der Brief für alle Fälle, der mit Herzblut verfaßte Brief, der angeblich von Josche Wysokotworsky stammt, in Wirklichkeit aber von Scherwitz in die Maschine diktiert worden ist, lautet in Auszügen folgendermaßen:

"Sehr geehrter Herr Doktor Auerbach.
Nachdem ich meinen besten Freund und Lebensretter durch Zufall traf, den ich seit der Befreiung suchte, war meine erste Frage, ob er Sie von seinem Leben im Lager unterrichtet hatte, damit Sie Bescheid wissen, wer Dr. Scherwitz ist und was er in der schwersten Not für Unmenschliches geleistet hat.
Da ich wiederum feststellen mußte, daß Scherwitz durch seine Bescheidenheit sich nicht in den Vordergrund drängt, um Lorbeeren zu ernten, und zu keinem Menschen von seiner Person und seinen ungeheuren Leistungen, die er vollbracht hat, spricht, möchte ich als Überlebender Ihnen, sehr geehrter Herr Staatskommissar, berichten, um was für einen edlen Menschen aus unserem Volke es sich handelt, der auch als einer der großen jüdischen Kämpfer zu bezeichnen ist.
Seit dem Jahre 1942 führte ich speziell Tagebuch über den Kampf und Scherwitz' Leistungen im KZ Riga. Ich glaube behaupten zu können, an Hand von Beweisen, daß Scherwitz in der Geschichte der Konzentrationslager in den Vordergrund gestellt werden müßte. Um nur ein paar Beispiele zu geben, möchte ich folgendes sagen: So unglaublich es klingen mag, daß ein Jude Juden befreit hat, hat er nach meiner Schätzung 400 bis 600 jüdischen Menschen aller Nationen das Leben gerettet. Er hat jüdische Menschen arisieren lassen, Pässe verschafft und sie in Sicherheit gebracht. (. . .) Bei einer persönlichen Aussprache mit Ihnen könnte ich Ihnen viele solcher Beispiele geben. Scherwitz hat gekämpft, aber nicht für sich, sondern um seine Eltern und Geschwister unter allen Umständen zu befreien und darüber hinaus seine jüdischen Schwestern und Brüder. Ich weiß genau, daß Tausende von unseren jüdischen Menschen, soweit sie noch unter den Lebenden sind (. . .), für ihn durchs Feuer gehen würden, denn im Lager war das seinerzeit so, wenn es hieß, Scherwitz kommt, so hatten wir das Gefühl, daß ein Sonnenstrahl zu uns dringen würde. (. . .) Um eines möchte ich Sie noch bitten, Dr. Scherwitz von meinem Brief nicht in Kenntnis zu setzen, denn ich weiß, er wird darüber sehr ärgerlich sein, denn soweit ich und meine Kameraden ihn kennen, ist er nicht für eine Hervorhebung seiner Person."(10)


(....) Seite 31 ff

Am Morgen nach der Verhaftung von Scherwitz erhält er die von Auerbach zusammengestellten Dokumente. Viel ist das nicht, und auch das Manuskript von Max Kaufmann, das er auf dem Schreibtisch liegen hat, liefert zu dieser Frage der jüdischen Herkunft nichts Erhellendes. Der Kriminalkommissar muß ganz von vorne anfangen. Wie heißt Scherwitz wirklich? Wo und wann ist er geboren? Wer sind seine Eltern? Alles Routinefragen, glaubt Hüffel zumindest anfangs, alles nur Fragen, die schnell nachzuprüfen sind, wenn der Beschuldigte eine Kennkarte vorlegen kann. Und die besitzt Scherwitz.
Nachname Scherwitz, Vorname Eleke. Geboren am 21. August 1909 in Buscheruni in Litauen. Die Mutter heiße Sore, geborene Segel, und stamme aus Odessa, ergänzt Scherwitz bereitwillig. Der Vater heiße Jankel, sei in Litauen Fabrikant gewesen und 1867 in Suwalki geboren. Er, Scherwitz, sei Witwer, und Kinder habe keine. Er habe Werkzeugmaschinenbauer gelernt und habe promoviert. Er besitze die deutsche Nationalität und sei Jude wie seine Eltern.
Die Angaben decken sich mit den Informationen in dem Personalausweis, der im April 1946 vom Meldeamt in Scherwitz' Wohnort Wertingen ausgestellt wurde. Die gleichen Angaben stehen auch in seinem Verfolgtenausweis, in den eidesstattlichen Erklärungen gegenüber der Militärregierung sowie in dem Einstellungsfragebogen des Staatskommissariats für politisch Verfolgte in Bayern aus dem Jahre 1947. Eine kleine Irritation gibt es, als Scherwitz seinen Führerschein von Ende 1945 vorlegt. Denn dort steht ein anderes Geburtsdatum, der 10. April 1908. Ein Tippfehler vielleicht? "Ich kann mir die Sache nicht erklären", sagt Scherwitz, und Hüffel insistiert nicht weiter. Er möchte lieber zur Sache kommen, will wissen, wie Dr. Eleke Scherwitz, jetzt 39 oder vielleicht auch 40 Jahre alt, trotz jüdischer Religionszugehörigkeit in die SS geraten und nach Riga gekommen ist.
Und Scherwitz erzählt seine Geschichte, ganz anders, als er sie bisher erzählt hat. Bis zum Vorabend seiner Verhaftung galt er jedermann als ein Opfer des Faschismus, als einer, der im KZ in Riga um sein Leben hatte kämpfen müssen. Jetzt, unter dem Druck der Beschuldigungen, muß er den Seitenwechsel erklären. Diese Rolle hat er noch nicht geübt. In diese Rolle muß er erst hineinwachsen. Es ist das Recht jedes Beschuldigten, sich zu verteidigen, wie er will, er kann lügen, darf auslassen, er kann sich auch mit einem Anwalt beraten und ihn etwas erklären lassen. Scherwitz aber beantragt keinen Anwalt, er vertritt sich selbst. Er schildert die Wahrheit so, wie er sie sich in der unkomfortablen Nacht auf dem Polizeipräsidium zurechtgelegt hat. Sechs Tage später wird er seine Geschichte dramatisieren, plötzlich doch ein Kind haben, das ihm aber die Gestapo entzogen habe und das jetzt vermißt werde. Er wird erklären, daß die jüdische Ehefrau am Hochzeitstage gerade 16 Jahre alt gewesen sei. Und er fühle sich schuldig, wird er ergänzen, weil er sie nicht "beschützen" konnte.
An diesem ersten Befragungstag, am 27. April 1948, darf Scherwitz zweimal sein Leben erzählen. Einmal am Vormittag und einmal am Nachmittag. Am Vormittag liefert Scherwitz das Gerüst und am Nachmittag baut er es aus. Seine zwei Aussagen protokolliert Hüffel jede für sich, und beide unterschreibt Scherwitz schwungvoll mit großen Buchstaben. Später wird seine Unterschrift zittriger werden und nur noch halb soviel Platz beanspruchen. Die beiden Aussagen widersprechen sich nicht, sondern ergänzen einander.

"Ich bin in Schaulen, Litauen, aufgewachsen und habe dort die Volksschule besucht. Ich blieb dort bis 1921. Ich kam dann nach Gerlesheim bei Hirschberg nach Deutschland. Anschließend besuchte ich das Gymnasium in Lauban. Von dort ging ich in die Lehre zu Siemens nach Berlin. Ich machte mein Abitur und meinen Ingenieur. Dies war ca. 1928/29. Hierauf kam ich zu Professor Fritz Werner in Marienfelde bei Berlin als Ingenieur. Dort bekam ich von ihm den Doktortitel verliehen. Bis 1933 hielt ich mich in Berlin auf. Nach der Machtübernahme begannen die Verfolgungen. Ich wechselte meinen Wohnsitz in Berlin öfters. Ich reiste kreuz und quer durch Deutschland, um den Verfolgungen zu entgehen. Ich arbeitete bei verschiedenen Firmen als Hilfsarbeiter. 1937 habe ich in Berlin-Lichtenrade meine jüdische Ehefrau Jenny Goldberg geheiratet. Sie war eine Schauspielerin aus Wien. 1938 kam ich von Frankfurt/ Oder nach Berlin zurück und wurde dort von der Gestapo verhaftet. Meine Papiere und Unterlagen über meine Vergangenheit wurden mir abgenommen. Ich wurde bis 1940 in dem Gestapogefängnis 'Herrenhaus' in Haft gehalten. Die Begründung war meine Tätigkeit bei der 'Sozialistischen Jugend' und meine jüdische Abstammung. Meine Ehefrau wurde während meiner Gestapohaft unbekannten Aufenthalts verschleppt. Ich habe später gehört, daß sie in Auschwitz umgekommen ist.
Meine Eltern sind Juden gewesen, und ich wurde ebenfalls im jüdischen Glauben erzogen und bin auch beschnitten. Meine Stiefschwester Bella R., verheiratete F., wohnt im [DP-]Lager Feldafing und kann meine Abstammung bestätigen.
Ab Juli 1940 kam ich in das Ghetto Litzmannstadt. Ich lernte dort einen Polizeihauptmann Jäger kennen, bei dem ich privat arbeitete. Dieser war den Juden sehr gut gesonnen. Meine Eltern waren mittlerweile in das Ghetto Schaulen eingeliefert worden. Ich erzählte dies Jäger und fragte ihn, ob es eine Möglichkeit gebe, mit meinen Eltern zusammenzukommen. Jäger erklärte wörtlich: Ich sehe nichts. Ich verschaffte mir mit Hilfe von Jäger eine Polizeiwachtmeisteruniform. An einem Abend verschwand ich und ging in Richtung Warschau. Ich kam dann nach Litauen. Den Namen Fritz habe ich mir zugelegt, um nicht aufzufallen.
Ende 1941 kam ich dann mit einem Polizeiwagen nach Riga. Ich wurde dann einer Polizeieinheit zugeteilt, da man mir glaubte, daß ich meine Einheit verloren hätte. Ich machte als Kraftfahrer Dienst. Ich wurde dann mit drei Polizisten zusammen nach Reval [heute Tallinn, Estland] geschickt, um Schnaps zu holen. Dort erfror ich mir die Füße. Ich bekam dann, wieder in Riga, eine neue Beschäftigung, indem mir befohlen wurde, die Leute des Ghettos täglich zur Arbeit zu führen. Dies tat ich, bekleidet mit einer Polizeiuniform. Dann wurden die Werkstätten am Washington Platz eingerichtet, wo Handwerker aus dem Ghetto arbeiteten. Auf Vorhalt erkläre ich, daß ich die Leitung der Werkstatt nur deshalb bekam, weil ich erfrorene Füße hatte und mich dazu drängte. Der Grund war, um unseren Leuten helfen zu können. Als es hieß, daß die Leute aus dem Ghetto weg sollten [allmähliche Auflösung des Ghettos durch Errichtung des KZ Kaiserwald], wandte ich mich an den Obersturmführer Heier und fragte ihn, ob wir nicht die Schneiderund Schusterwerkstatt aufrechterhalten und ein Gebäude bekommen könnten, wo wir die Leute unterbringen. (. . .) Ich bekam nun die Fabrik 1Lentai zugewiesen. (. . .) Mein Ziel war, die Juden nicht ins KZ zu bringen. Die Juden [aus den Werkstätten am Washington Platz] wurden dorthin gebracht, und ich war als einziger mit Uniform ihnen vorgesetzt. (. . .) Ich habe meine Eltern 1942 auch tatsächlich in Schaulen mehrmals besucht. Diese forderten mich auf, zu sehen, daß ich mich retten könne. (. . .)
Ich muß hier betonen, daß ich als Sonderführer der SS eingekleidet wurde, im Rang eines SS-Untersturmführers. Ich hatte geflochtene Achselstücke ohne Sterne. Auf den Spiegeln hatte ich keinen Totenkopf, nur auf der Mütze. Irgendwelche Abzeichen auf den Ärmeln trug ich nicht. Ich war daher nicht Angehöriger der SS. Auch eine Blutgruppe wurde nicht eintätowiert. Ich war nur als SS-Sonderführer eingekleidet, weil ich mit Behörden zu tun hatte. Das war, glaube ich, um Weihnachten 1942. (. . .) Ich weise entschieden zurück, daß ich beim SD [Sicherheitsdienst] war oder im Rahmen des SD eingesetzt worden bin."
(16)

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Anmerkungen:

(6) Abschrift eines Rundschreibens der Association of Baltic Jews in Great Britain an Max Kaufmann, 15. April 1948, in: Scherwitz-Akte, Bl. 4.

(7) War Crimes Group North-West Europe, Section Legal, Nr. WCG/15228/2/C2087. Archiv der Wiener Library (im folgenden WL), Universität Tel Aviv, Diaspora-Museum, WL 539-5-26.

(8) Die Britische Militärregierung plante ab Sommer 1945, nachdem sie in ihrer Zone mehrere lettische und deutsche Kriegsverbrecher festgenommen hat, einen Sammelprozeß. Der Arbeitstitel dieses geplanten Prozesses lautete "The Riga-Ghetto-Case", sollte sich aber mit allen nationalsozialistischen Gewalttaten im Baltikum beschäftigen. Die Energie der Ermittler erlahmte ab Herbst 1948, als sich abzeichnete, daß das britische Außenministerium den Fall der deutschen Justiz überlassen wollte. Gesetzliche Grundlage dafür war die britische Verordnung 47, die die deutsche Justiz ermächtigte, auf Grundlage des Alliierten Kontrollratsgesetzes Nr. 10, Kriegsverbrechen selbst abzuurteilen. Diese Verordnung stieß auf heftigsten Widerstand der verschiedenen Kriegsverbrecher-Verfolgungskomitees in Europa und in den USA, die den Briten bis dahin zugearbeitet hatten. Vgl. Teil 8, Kapitel "Die Zeugen", S. 553 ff. Die Unterlagen der britischen Ermittler befinden sich unter der Nummer 701069 im Public Record Office in Kew bei London. Der Briefwechsel mit den Kriegsverbrecherkomitees befindet sich in sechs ungeordneten Mappen in der Wiener Library in der Universität Tel Aviv, WL 532-2-23 bis 532-6-27. Hier sind die ersten Beschuldigungen gegen Scherwitz nachzulesen. Die Information, daß Scherwitz sich wahrscheinlich in Bayern aufhält, befindet sich in zwei Zeugenaussagen vom 28. Dezember 1947 und 11. Februar 1948, in: WL 532-2-23 und WL 532-6-27.

(9) Dieses und alle folgenden Zitate stammen aus dem Protokoll Auerbachs vom 27. April 1948, in: Scherwitz-Akte, Bl. 1-4.

(10) Brief von Josche Wysokotworsky, in: Scherwitz-Akte, Bl. 6 (Rechtschreibung behutsam korrigiert).

(16) Etwas gekürzte und umgestellte Erklärung des Vorgeführten Dr. Eleke Scherwitz vom 27. April 1948, in: Scherwitz-Akte, Bl. 7-11. In der protokollierten Aussage sind die erwähnten Namen durchweg falsch geschrieben, sie wurden hier korrigiert.


Teil 3
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