Vorgeblättert

Calixthe Beyala: Wilde Liebschaften. Teil 3

06.08.2004.
Als wir hinuntergingen, erwartete uns die versammelte Hurenschaft am Fuß der Treppe. "Und?", kreischten sie. Ich ließ einen feierlichen Blick über die Menge schweifen und formte mit Zeigefinger und Daumen eine Null. "Ich hab?s ja gesagt", sagte Mademoiselle Quinou. "Die Bücher haben alles verdorben!" Ich führte die Hand zur Brust, täuschte eine starke Gefühlswallung vor, stieß einen schmachtenden Schrei aus, vergleichbar dem einer Zwergohreule: "Alles in Ordnung, meine Freunde! Wir heiraten!" Hochrufe brachen aus. Hüte flogen in die Luft. Es gab Hurras, die die Erde zum Beben hätten bringen können. "Ich werde einen Dreiviertel-Melonenhut von Dior aufsetzen", schrie Mademoiselle Quinou. Monsieur Michel, sofort zur Stelle, streckte mir einen Apfel entgegen: "Man kann nie wissen!" Monsieur Trente pour Cent sagte immer wieder: "Bei mir ist es kundenfreundlich, nicht wahr? Man kann hier sogar sein Glück finden!" Und für mich war das im klassischen Sinn der schönste Tag meines Lebens, erst recht, da Plethore mir einen Siegelring mit aufwendiger Gravur schenkte. Vor dem Bürgermeister war ich umringt von Geschnatter, Sehnsüchten, Glatzköpfen, Farandolen von Unterröcken, Lachen und Applaus: "Es lebe die Braut!" Ich war über vierzig Jahre alt und wie gelähmt vor Glück. Ich wischte Jahrzehnte hinweg, in denen ich von der großen Liebe geträumt hatte, denn da war Plethore, in greifbarer Nähe, und lächelte unter seinem Scheitel hervor, der sich zwischen die brillantinierten und pomadisierten Haare zog.
Wir ließen dieses Foto machen, das jetzt auf dem einbeinigen Tischchen steht: Wir sitzen in ockerfarbenen Polstersesseln zwischen roten Behängen und Armleuchtern, die das Ganze in ein Ambiente von kitschigem Luxus tauchen. Ich trage ein großblumiges Kleid und Plethore einen schwarzen Anzug. Der französische Präsident drückt mir die Hand und überreicht mir einen riesigen Strauß Rosen. Ein herrliches Bild.
Ich habe es nach Hause geschickt, denn ich wollte nicht, dass sie erfuhren, in welchem Elend ich hier lebte. Übrigens hat nie jemand herausgefunden, dass das Bild bei Monsieur Sallam, einem Trickfotografen, aufgenommen worden war.

Sechs Monate nach unserer Hochzeit wartete ich eines Sonntagmorgens auf der Gare d?Austerlitz auf Mama aus Kamerun. Sie hatte Nigeria und Mali auf dem Niger durchquert, dann in einem Tanklastwagen Marokko und unter Planen versteckt Spanien. Ich konnte mir ihre Müdigkeit vorstellen, der Bahnhof selbst wirkte so hässlich und müde, dass sogar die Penner ihn verlassen hatten. Die Sonne schien kalt, und Plethore hopste wie ein junges Hündchen neben mir her. Ein Zug verschwand, ein anderer tauchte auf und spuckte spanische Immigranten und ein paar schwarze Illegale und Araber aus, die nach Frankreich gekommen waren, um hier für ein paar Baguettes den Buckel zu machen. Ich hasste diesen Bahnhof, denn das Frankreich der Freiheit und der Gleichheit hatte beschlossen, diesen Teil seines Körpers für immer zu vergessen, als würden seine ratternden Wege nicht in Provinzen führen, wo man fettreich und gebeizte Ente essen konnte, sondern in die Tropen, wo es von Boaschlangen und heimtückischen Lianen wimmelte und die Flüsse vom Mamiwater-Geist verseucht waren. 
Ich konnte es kaum erwarten, Mama das Ausmaß meines Erfolgs vorzuführen, denn ich war nicht mehr Mademoiselle Bonne Surprise, sondern Madame Eve-Marie Gerbaud. Darüber hinaus putzte ich, vor allem bei Doktor Sans Souci d?Avenir, dem Gynäkologen.
Pfeifend fuhr Mamas Zug ein, und ich erkannte sie nur mit Mühe wieder. Ihre Haare waren verfilzt und ihr Rücken gekrümmt. Als Papa noch lebte, hatte er ihr die drei Vorderzähne ausgeschlagen. Nun war er tot, und Mama hatte keinen einzigen Zahn mehr im Mund. Ich drückte sie weinend an mich, so gerührt war ich.
"Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen", schrie Plethore mit einer Stimme, die den Bahnhofslärm übertönte.
"Ich bin beinahe hingefallen auf dem Boden, der von alleine geht", sagte Mama anstelle einer Begrüßung. "Ich will nicht mehr auf diesem Boden gehen!"
Plethore packte Mamas alten Koffer. Ich bedeckte ihre schmächtigen Schultern mit einem alten Seehundmantel. Mit kurzen Schritten trottete sie, völlig verschrumpelt, neben mir her: "Weißt du schon, dass Luchia, die Tochter des Chefs, schwanger ist?" Eine malvenfarbige Sonne beschien den Himmel, und ich sagte zu Mama, das sei ja ein Skandal, schließlich erwartete sie diese Art Kommentar von mir. Wir nahmen den Bus, dann die Metro, und Plethore trug Mama, die Angst vor den Rollbändern hatte, auf den Armen - hau-ruck! "Lass mich ja nicht fallen", warnte sie ihn, während ihre kleinen Füßchen in der Luft hingen, und aus ihren runden Augen sprach die Angst. Wir machten einen Umweg durch die Nobelviertel. "Das ist wunderschön!", rief sie aus beim Anblick des Triumphbogens und der Champs-Elysees. "Das ist erst der Anfang!", sagte ich zu mir selbst. Doch als wir nach Belleville kamen, blieb sie stehen, und ihre Züge verfielen: Sie rümpfte die Nase, Falten schossen wie Pfeile über ihre Stirn, und ihren Lippen entwich ein entsetzlicher Ton: 
"Sind wir noch in Paris?"
Ich bejahte, und Plethore lächelte in seinen Bart hinein. Mama schwieg, in sich gekehrt, und mir fiel auf, dass ich vergessen hatte, wie klein sie doch war. Wir nahmen den Boulevard de Belleville, dann die Rue Bisson mit ihren vermauerten Fenstern und ihren eingefallenen, mit grünem Moos bedeckten Fassaden. Dann kam eine Sackgasse, und wir gelangten in den Innenhof unseres Hauses. Mama stieß einen Seufzer aus, den ich nicht zu deuten wusste.
Monsieur Felix Eboue, der Prediger ohne Gemeinde, der eigens aus Afrika gekommen war, weil er Paris als die perverseste Stadt der Welt ansah, stand auf einem alten Kochtopf und predigte. Der Wind zerrte an seiner Soutane. Sein kahler Schädel glänzte im Nebel: "Männer und Frauen von Belleville, vergesst nie, dass wir in der Hauptstadt der Mädchen mit den scharfen, teuflischen Fingernägeln leben! Vergesst nie, dass wir im Schatten eines katholischen, aber weintrinkenden Volkes wandeln, das Voltaire, Racine, Rimbaud hervorgebracht hat, lauter Gottlose mit dem Lächeln von Vampiren! Betet zum Herrn, er möge euch vergeben!" 
Der alte Pegase, ein Leichensezierer, öffnete abrupt das Fenster und schwenkte sein Skalpell: "Hat man dir noch nicht gesagt, dass Gott tot ist?" Die Haare auf seinem Kopf waren verknotet wie Lianen. Mademoiselle Les Trois Glorieuses, eine Schauspielerin, die Bier ausschenkte, während sie auf ein Angebot aus Hollywood wartete, streckte den Hals heraus: "Aber ich lebe, mein lieber Scheißgott! Und ich brauche Schlaf für meinen glatten Teint, du Saftgesicht!" Einzig Madame Flora-Flore, meine Nachbarin aus dem dritten Stock, eine Brünette mit spargellangem Pony, die nicht ohne die Schläge ihres Typen leben konnte, hörte aufmerksam zu, die Wangen in ihre weißen Hände gestützt. Im Hintergrund tauchte die Gestalt ihres Mannes auf. Ihr Gesicht erstarrte, und sie flüchtete in Richtung Küche.
Wir stiegen die sechs Stockwerke hoch. Die schmutzige Treppe schwankte und knarrte. Auf dem Boden lagen Papierfetzen herum. Der Gips blätterte von den Wänden wie Rosenblüten. Mama machte auf jedem Absatz Halt: "Du wohnst wirklich nahe beim Herrn!" Dann kam sie vom Hundertsten ins Tausendste: "Weißt du, dass Ayissis Tochter gestorben ist?" Ich erklärte ihr, dass die Mieten in Paris teuer sind. "Die Ernte war letztes Jahr wirklich schlecht, weil es überhaupt nicht regnen wollte!", gab sie zur Antwort.
Ich hörte mir ihre Bemerkungen an und ließ sie in der Ferne schwarz werden wie Bronze in der Sonne. Kindischer Stolz packte mich bei den Eingeweiden. Ich malte mir aus, wie sich ihr Gesicht aufhellen würde vor einem Berg Limoger Porzellan und einem Fernseher in Luxusausführung. Und dieser schäbige Gedanke zeichnete sich immer deutlicher vor meinem inneren Auge ab, klar wie ein Ton.
Mit großer Geste stieß ich die Tür auf, und Mama schlotterte in ihrem Pelz. Plethore zwinkerte mir aufmunternd zu. Sie durchquerte mit kleinen Schritten das Wohnzimmer, streichelte die roten Louis-seize-Sessel aus dem Billigkaufhaus Conforama, vergrub ihre Füße tief in dem gelbgepunkteten Teppich. "Es ist hübsch, dein Haus, meine Tochter!", sagte sie wie in einem Theaterstück. Dann blieb sie vor den Regalen stehen, die sich unter den Büchern bogen, schüttelte wortlos den Kopf, und als sie ihren Rundgang beendet hatte, trat sie auf den knarrenden Balkon und betrachtete die unermessliche Weite von Paris. Ich folgte ihr. Autos dröhnten vorbei. Motorräder ratterten, und eine Nebelwolke verhüllte die Gebäude, raubte ihnen Aura und Charakter.
"Sieht aus, als würden sie zerfließen und verschwinden", bemerkte sie.
Sie spuckte ausgiebig und verfehlte nur knapp Madame Flora-Flores Nase, die zu uns hochschaute. "Entschuldige", rief Mama. Dann drehte sie sich zu mir und schüttelte ihre Hände, winzig wie Kätzchenpfoten.
"Ist das alles?", fragte sie.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Rogner & Bernhard

Informationen zum Buch und zur Autorin hier