Vorgeblättert

Carson McCullers. Die Autobiografie, Teil 1

Mein Leben war, dem Himmel sei Dank, fast vollständig ausgefüllt mit Arbeit und Liebe.* Die Arbeit war nicht immer einfach, die Liebe auch nicht, wie ich hinzufügen möchte. Als ich siebzehn war, wurde mein Arbeitsleben mehrere Jahre lang durch einen Roman, den ich einfach nicht verstehen konnte, fast zunichte gemacht. Ich hatte mindestens fünf oder sechs Personen, die ich deutlich vor mir sah. Diese Personen, die ich verstand, waren ständig mit der Hauptfigur im Gespräch, aber die Hauptfigur selbst blieb verschwommen, obwohl ich wußte, daß sie für das Buch von zentraler Bedeutung war. Immer wieder spielte ich mit dem Gedanken, die anderen Personen einfach zu Kurzgeschichten zu machen, aber jedes Mal hielt mich irgend etwas zurück, weil ich wußte, daß dieses rätselhafte Gebilde ein Roman werden würde.
Dann eines Tages, als ich völlig erschöpft von dem Problem, das ich mir selbst gestellt hatte, im Wohnzimmer auf- und abmarschierte, wobei ich jedes zweite Quadrat des Teppichmusters übersprang, fiel mir die Lösung ganz plötzlich ein. Bis dahin hatte die Hauptfigur, die immer schwieg, Harry Minowitz gehießen, aber als ich grübelnd auf- und abmarschierte ging mir plötzlich auf, daß Harry taubstumm war. Das war der Grund, warum die anderen ständig auf ihn einredeten, und natürlich auch, warum er nie antwortete.
Diese Erkenntnis war eine echte Erleuchtung, die jede der Personen in ein neues Licht rückte und das ganze Buch auf den Punkt brachte. Harry Minowitz wurde sofort in Singer umbenannt, da dieser Name die neue Konzeption besser zum Ausdruck brachte, und mit diesem neuen Verständnis nahm das Buch endlich seinen Anfang. Als Vorwort schrieb ich folgende Passage:

"Das große Hauptthema dieses Buches zeichnet sich in den ersten zwölf Seiten ab. Das Thema ist der Kampf des Menschen gegen seine persönliche innere Einsamkeit und sein Drang, sich so ausführlich wie möglich mitzuteilen. Um diese Hauptidee gruppieren sich mehrere Gegenthemen, und einige davon mögen hier kurz wie folgt festgehalten werden: 1) Im Menschen ist ein tiefes Bedürfnis, sich zum Ausdruck zu bringen, indem er sich ein einigendes Prinzip oder Gott schafft. Ein persönlicher, von einem Menschen geschaffener Gott ist ein Spiegelbild seiner selbst, und im wesentlichen ist dieser Gott seinem Schöpfer unterlegen. 2) In einer desorganisierten Gesellschaft neigen diese individuellen Gottheiten dazu, schimärenhaft und phantastisch zu sein. 3) Jeder Mensch muß sich auf seine eigene Weise ausdrücken - doch das wird ihm oft durch eine unrationelle, kurzsichtige Gesellschaft versagt. 4) Der Mensch ist von Natur ein Gemeinschaftswesen, aber eine unnatürliche soziale Tradition drängt ihm Verhaltensweisen auf, die seiner innersten Natur nicht entsprechen. 5) Manche Menschen sind insofern geborene Helden, als sie bereit sind, alles herzugeben, was in ihnen ist, ungeachtet ihrer Mühe und ohne persönliche Gegenleistungen zu erwarten.
Diese Themen kommen natürlich im Buch nicht unverhüllt zur Darstellung. Ihre Schwingungen werden durch die Figuren und Situationen fühlbar. Viel wird vom Verständnis des Lesers abhängen und von der Sorgfalt, mit der das Buch gelesen wird. An einigen Stellen werden die zugrunde liegenden Gedanken tief unter der Oberfläche einer Szene verborgen sein, und ein andermal werden diese Ideen mit einem gewissen Nachdruck hervorgehoben werden. Auf den letzten paar Seiten sind die verschiedenen Motive, die von Zeit zu Zeit im ganzen Buch immer wieder auftauchen, straff zusammengenommen, und das Werk schließt mit einem Gefühl kohäsiver Endgültigkeit.
Die Hauptlinie dieses Werkes läßt sich ganz einfach erklären. Es ist die Geschichte von fünf alleinstehenden, einsamen Menschen auf ihrer Suche nach Ausdruck und geistiger Integration mit etwas, das größer ist als sie. Eine dieser fünf Personen ist ein Taubstummer, John Singer - und um ihn rotiert das ganze Buch. Wegen ihrer Einsamkeit sehen die anderen vier Leute in dem Stummen eine gewisse mystische Überlegenheit, und er wird gewissermaßen zu ihrem Ideal. Durch sein Gebrechen ist sein äußerer Charakter unbestimmt und unbegrenzt, so daß seine Freunde alle die Eigenschaften in ihn hineinzulegen vermögen, die ihren Wünschen entsprechen. Jeder dieser vier Menschen leitet seine Auffassung des Stummen von seinen eigenen Wünschen ab. Singer kann von den Lippen ablesen und versteht, was man zu ihm sagt. In seinem ewigen Schweigen liegt etwas Unwiderstehliches. Jede dieser Personen macht den Stummen zum Bewahrer seiner persönlichsten Gefühle und Gedanken.
Diese Situation zwischen den vier Menschen und dem Stummen ist beinahe die genaue Parallele in der Beziehung zwischen Singer und seinem taubstummen Freund, Antonapoulos. Singer ist der einzige Mensch, der Antonapoulos Würde und eine gewisse Weisheit beimessen konnte. Singers Liebe zu Antonapoulos zieht sich durch das ganze Buch, von der ersten Seite bis zum endgültigen Schluß. Kein Teil von Singer bleibt von seiner Liebe unberührt, und als sie getrennt werden, wird sein Leben sinnlos, und er wartet nur auf den Moment, wo er wieder mit seinem Freund zusammen sein kann. Doch die vier Menschen, die sich zu Singers Freunden zählen, wissen bis kurz vor Schluß des Buches überhaupt nichts von Antonapoulos. Die Ironie dieser Situation wird langsam und unaufhörlich immer sichtbarer, je weiter die Geschichte fortschreitet.
Als Antonapoulos schließlich an der Brightschen Krankheit (Nierenschrumpfung) stirbt, dreht Singer, von Einsamkeit und Verzweiflung überwältigt, den Gashahn auf und begeht Selbstmord.** Da erst dämmert es den vier anderen Charakteren langsam, wer der wahre Singer war.
In dieser zentralen Idee findet man die Art und den Ton einer Legende. Alle Stellen, die direkt mit Singer zu tun haben, sind im einfachen Stil einer Parabel geschrieben.
Bevor die Gründe, wie es zu dieser Situation kam, völlig verständlich werden, ist es notwendig, jede der Hauptfiguren mit einigen Einzelheiten kennenzulernen. Doch die Typen können ohne die sie betreffenden Geschehnisse, in die sie verwickelt sind, nicht umfassend geschildert werden. Fast alle Geschehnisse im Buch entspringen unmittelbar den Charakteren. In den Seiten dieses Buches wird jede Person in ihren stärksten und typischsten Handlungen gezeigt. 
Es versteht sich natürlich, daß keine dieser persönlichen Charakterschilderungen in der didaktischen Weise beschrieben werden, wie das hier geschieht. Sie werden nach und nach in die aufeinanderfolgenden Szenen eingefügt - und erst am Schluß, wenn man die Gesamtheit dieser Implikationen überblickt, werden die wirklichen Charaktere mit all ihren tieferen Aspekten verständlich. (1)

Am nächsten Tag fing ich dann mit dem Buch selbst an: "Es gab in der Stadt zwei Taubstumme, die man stets beisammen sah." Etwa ein Jahr lang arbeitete ich beständig daran, und als meine Lehrerin, Sylvia Chatfield Bates von der Universität New York, bei der ich ein Semester lang kreatives Schreiben studiert hatte, mir schrieb, Houghton Mifflin habe einen Wettbewerb für einen Erstlingsroman ausgeschrieben, fertigte ich ein detailliertes Arbeitsexpose zu Der Stumme an und reichte es zusammen mit den etwa 100 Seiten ein, die ich bereits fertig hatte. Dieses Expose war mir eine moralische Stütze, obwohl ich mich nie zuvor so eng an ein Expose gehalten hatte und es auch später nie wieder tat. Es findet sich im Anhang. Zwar gewann es den Preis nicht, aber Houghton Mifflin bot mir einen Vertrag an, was in meinen Augen fast genauso gut war, und ich machte mit dem Schreiben weiter.
Zwischenzeitlich hatte ich mich 1937, in meinem neunzehnten Lebensjahr, in Reeves McCullers verliebt und ihn geheiratet. Zu meinen Eltern sagte ich, ich würde ihn erst heiraten, wenn ich vorher Sex mit ihm gehabt hätte, denn wie sollte ich sonst wissen, ob mir das Verheiratetsein gefallen würde oder nicht? Ich hatte das Gefühl, das meinen Eltern gestehen zu müssen. Ich sagte, die Ehe sei ein Versprechen & wie bei anderen Versprechen wolle ich Reeves nichts versprechen, bis ich mir absolut sicher sei, ob ich den Sex mit ihm mochte. Isadora Duncan & Lady Chatterley zu lesen war eine Sache, aber die persönliche Erfahrung war etwas völlig anderes. Außerdem waren in allen Büchern nur kleine Sternchen zu finden, wenn es zu den Dingen kam, die man wirklich wissen wollte. Als ich meine Mutter fragte, was es mit dem Sex auf sich hätte, zog sie mich hinter die Stechpalme & sagte mit ihrer umwerfenden Schlichtheit: "Sex, mein Schatz, findet da statt, wo man sich draufsetzt." Folglich war ich gezwungen, Handbücher über Sex zu lesen, was die ganze Sache nicht nur extrem langweilig, sondern auch unglaubhaft erscheinen ließ.
Ich sagte meinen Eltern, ich hätte die Absicht, Reeves zu besuchen, der den Winter über in Goldens Bridge lebte. Sie respektierten meine Offenheit und ließen mich trotz ihrer Bedenken fahren.
Die sexuelle Erfahrung war nicht wie bei D.H. Lawrence. Keine grandiosen Explosionen oder bunten Lichter, aber sie gab mir die Chance, Reeves besser kennen- und wirklich lieben zu lernen. Wir feierten mit Rose-Champagner und Tomaten, obwohl keine Tomatenzeit war. Ich erzählte Reeves auch von Der Stumme, meinem Arbeitstitel für Das Herz ist ein einsamer Jäger, und er war genauso begeistert wie ich. Es würde eine Ehe der Liebe und des Schreibens für uns beide werden. Übrigens hatte die Zeitschrift Story Magazine schon 1936, als ich noch in Sylvia Bates' Kurs war, meine erste Kurzgeschichte veröffentlicht, die Wunderkind (2) hieß. (Es ist schwer, sich das Prestige & die Bedeutung vorzustellen, die Story damals für junge Autoren hatte.) Reeves fand auch das großartig und meinte, er selbst würde auch gerne Schriftsteller werden. Wir heirateten am 20. September 1937, und ich machte mit der Arbeit an Der Stumme weiter.
Nach einer kurzen Serie von Kursen in N.Y. - Philosophie, Psychologie, etc., fand Reeves einen Job in North Carolina, und wir zogen nach Charlotte.
Mein Leben folgte einem Muster, an das ich mich immer gehalten habe. Arbeit und Liebe.
Ich brauchte zwei Jahre zum Schreiben von Der Stumme, wie mein erster Titel lautete, der später vom Verlag in Das Herz ist ein einsamer Jäger umgeändert wurde, ein Titel, der mir sehr gefiel, und es waren sehr glückliche Jahre für mich. (3) Ich arbeitete intensiv und liebte intensiv. Als Herz 1939 fertig war, fing ich augenblicklich mit einer anderen Arbeit an, nämlich Spiegelbild im goldnen Auge.

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* Die vorliegende Ausgabe der unvollendeten Autobiographie von Carson McCullers beruht auf zwei Typoskripten der Arbeit im Besitz des Harry Ransom Humanities Research Center an der Universität Texas in Austin. Bei den Vorbereitungen wurde größter Wert darauf gelegt, Carson McCullers' Absichten zu folgen, soweit diese erkennbar waren. (Der editorische Apparat der verbesserten und korrigierten Stellen ist in der Originalausgabe nachzusehen. Anm..d.Verlags)
** Im Roman erschießt sich Singer.
(1) Der vollständige Text des Exposes zu "Der Stumme" findet sich im Anhang.
(2)
Wunderkind, Story, Band IX, Nummer 53, Dezember 1936
(3) Robert Linscott, McCullers' Lektor bei Houghton Mifflin, schlug den Titel
The Heart Is a Lonely Hunter vor. Er entstammt dem Gedicht The Lonely Hunter von Fiona MacLeod, dem Pseudonym von William Sharp.

Teil 2