Vorgeblättert

Carson McCullers. Die Autobiografie, Teil 2

Das Muster der Liebe hatte in meiner Kindheit begonnen. Ich vergötterte eine alte Dame, die immer wie ein mit Zitronenkraut gefülltes Duftkissen roch. Ich schlief bei ihr und kuschelte mich im Dunkeln an sie. Oft sagte sie: "Zieh dir den Stuhl bei, Liebchen, und sieh mal in der obersten Kommodenschublade nach", und dort fand ich dann irgendeine Leckerei. Ein kleines Törtchen, oder einmal, zu meinem Entzücken, ein paar Kumquats. Diese erste Liebe war meine Großmutter, die ich Mommy (4) nannte.
Ihr Leben war nicht sehr glücklich, trotzdem beklagte sie sich nie. Ihr Mann (5) war Alkoholiker gewesen und bis zu seinem Tod jahrelang von einem kräftigen Diener versorgt worden, der seinen plötzlichen Anfällen gewachsen war. Trotzdem hatte Mommy nichts gegen Alkohol. Einmal, gegen Ende ihrer letzten Krankheit, kamen ein paar Damen vom Frauenverband der christlichen Temperenzler vorbei. Sie waren so ernst, daß sie wie eine Delegation aussahen.
"Ich weiß, weswegen Sie hier sind", sagte Mommy. "Sie sind hier, um dafür zu sorgen, daß dieses Abzeichen, rot und golden, an meine Leiche geheftet wird, aber ich sage Ihnen, daß ich davon nichts wissen will. Ich entstamme einer langen Linie trinkender Männer. Mein Vater hat getrunken, und mein Schwiegersohn Lamar (6), der ein Heiliger ist, trinkt ebenfalls. Wie traurig es mich macht, dieses PLOP zu hören und zu wissen, daß sein ganzes Eigengebräu explodiert ist. Ich selbst trinke übrigens auch."
Die Damen sagten mit schockierter Stimme: "Das ist doch nicht Ihr Ernst, Mrs. Waters!"
"Doch, jeden Abend - Lamar macht mir einen Toddy, und wissen Sie was, ich genieße ihn."
"Also wirklich, Mrs. Waters!" sagte die Delegation fassungslos.
Als Daddy ins Zimmer kam, sagte Mommy aus reinem Mutwillen: "Ist es schon Zeit für meinen Toddy, Lamar? Ein Toddy wäre jetzt wirklich köstlich."
"Möchten die Damen vielleicht auch einen?" fragte Daddy.
Aber die Temperenzlerinnen hatten bereits entsetzt die Flucht ergriffen.
"Weißt du, Lamar, diese Temperenzler-Damen sind wirklich schrecklich engstirnig, auch wenn es wahrscheinlich ungezogen von mir ist, das zu sagen."
"Sehr ungezogen", sagte mein Daddy und schenkte ihr ihren Toddy ein.
Finanziell wurde sie von ihrem Schwiegervater und ihren Brüdern unterstützt. Ihre Brüder kamen jeden Tag zum Mittagessen zu ihr, aber sie mußte sie jedes Mal fragen, wenn sie Zirkuskarten für die Kinder kaufen wollte. Zu dieser Zeit und in dieser Gegend trauten die Männer den Frauen nun einmal keinen gesunden Menschenverstand zu. Deshalb bestellten sie selbst die Fässer mit Mehl, Pökelfleisch und andere Grundnahrungsmittel und ließen sie ihr ins Haus liefern. Sie bestellten auch Kinderkleider für sie, die ihr überhaupt nicht standen und sehr oft nicht einmal paßten. Aber sie wurde gut versorgt, vielleicht zu gut für ihren eigenen Geschmack.
Als Mommy im Sterben lag, wurden mein Bruder (7) , meine Schwester (8) und ich zu Tante Tieh (9) geschickt, wo es fünf Cousins und Cousinen gab. Es war herrlich, auf der riesigen Schlafveranda zu schlafen. Meine älteste Cousine (10) erzählte uns Märchen vom gläsernen Berg und Fabeln von Äsop, und wir schliefen glücklich und zufrieden ein. Tante Tieh hatte einen wundervollen Weingarten mit Fuchstrauben und viele Obstbäume. Immer stand Tupelo-Honig auf dem Frühstückstisch, und oft reife geschälte Feigen, über die wir frische, dicke Sahne gossen. Sonntags gab es Eiscreme, die ich schlagen durfte und natürlich durfte ich den Stößel ablecken. Ich begriff gar nicht richtig, was geschehen war, als der Gärtner mir sagte, meine Großmutter sei tot. Und dann fuhr Tante Tieh uns in dem alten Dodge zurück nach Hause.
Als ich dort den Kranz an der Tür sah, wußte ich, daß etwas Seltsames und Unheimliches passiert war. Ich warf mich im Flur auf den Fußboden und bekam ein paar Augenblicke später einen hysterischen Anfall. Als ich mich am Nachmittag wieder beruhigt hatte, wollte Mutter, daß ich meine Großmutter küßte, aber ich sagte mit fester Stimme: "Sie ist doch tot, oder, und tote Leute küßt man nicht. Küssen ist für lebendige Leute." Obwohl meine Großmutter tot ist, lebt ihr Geist immer noch bei mir, und ich hatte immer ein Bild von ihr an der Wand hängen. Eine schöne junge Witwe mit fünf Kindern.
Mutter (11) und Daddy liebte ich auch, aber Mommy war für mich immer etwas Besonderes. Ihr gehörte das Haus, in dem wir lebten, ein schmales Haus in der 13. Straße in Columbus, Georgia. Die Fußböden knarrten, wie es in alten Häusern nun mal ist. Mommy war die Besitzerin dieses Hauses und der beiden Häuser dahinter. In diesem Haus wurde ich geboren und dort verbrachte ich meine ganze frühe Kindheit. Meine Eltern und meine Großmutter ließen mich nicht mit den Nachbarskindern spielen, außer mit Helen Harvey, einem Mädchen, das gegenüber auf der anderen Straßenseite wohnte.

                                                   *

[fehlende Textstelle] (12) ... an Schönheit & Gesundheit, was meine Eltern eingedenk all der Anfälle, die ich gehabt hatte, in schallendes Gelächter ausbrechen ließ. Die Schule war in Ordnung, da das Lernen mir leichtfiel, & nachmittags setzte ich mich gleich ans Klavier. Mit Hausaufgaben verbrachte ich fast keine Zeit. Ich wurde jedes Mal versetzt, aber das war auch schon alles. Am liebsten kletterte ich auf einen Baum hinter dem Haus & saß in dem Baumhaus, das mein Bruder & ich gebaut hatten. Wir hatten uns ein ausgeklügeltes Signalsystem für die Köchin ausgedacht, die schrecklich nett war, eine Schnur an einen Korb band und uns Leckereien hochschickte. Jahre später zog ich mich, wenn ich Sorgen hatte, immer noch gern in dieses Baumhaus zurück.
Über die Highschool hatte ich schreckliche Dinge gehört. Zum Beispiel hieß es, wenn Miss Cheeves tot wäre, würde ihr Gehirn ins Museum des Smithsonian Institute geschickt werden, weil sie so klug war. Meine Mutter steckte mich in ein pinkfarbenes Wollkostüm & ich machte mich auf den Weg zu dieser beängstigenden Highschool. Sie war nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte. Ich wollte immer noch Konzertpianistin werden, deshalb zwangen meine Eltern mich nicht, jeden Tag hinzugehen. Ich ging nur oft genug, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Jetzt, Jahre später, sind die Highschool-Lehrer, die mich damals unterrichteten, völlig verblüfft darüber, daß jemand so Desinteressiertes wie ich eine erfolgreiche Schriftstellerin werden konnte. Tatsächlich ist es so, daß ich nicht an Schulen glaube, wohingegen ich sehr an eine umfassende musikalische Ausbildung glaube. Meine Eltern dachten genauso. Ich bin sicher, daß mir dadurch, daß ich so eine Einzelgängerin war, manche gesellschaftlichen Vorteile entgingen, aber das hat mich nie gestört
In der ersten Schulwoche wurde ich unten im Keller im wahrsten Sinn des Wortes von einem Mädchen gefangengenommen. Sie warf mich auf den Boden & sagte: "Sag dreimal ficken."
"Was heißt das?" fragte ich.
"Das braucht dich nicht zu interessieren, Unschuldslamm, sag es einfach."
Dabei drückte sie mein Gesicht auf den Zementfußboden, daß die Haut abschürfte.
"Also gut, ficken", sagte ich.
"Sag es dreimal."
"Ficken, ficken, ficken", sagte ich schnell, und sie ließ mich los.
Noch heute kann ich ihren widerlichen Atem und ihre schwitzigen Hände auf meinem Gesicht spüren. Als sie mich losließ, rannte ich auf der Stelle nach Hause, erzählte meinen Eltern aber nichts davon, weil ich wußte, daß es etwas Häßliches & Böses war.
"Was ist mit deinem Gesicht passiert?" fragte meine Mutter.
"Och, nur so eine Highschool-Sache", sagte ich. Es war das einzige Mal, daß mir etwas derart Dramatisches passierte, ansonsten war die Langeweile der Schule eine schreckliche Erfahrung. Als ich mit 17 meinen Abschluß machte, nahm ich nicht einmal an allen Zeremonien teil, sondern bat den Direktor, mein Zeugnis aufzuheben, bis mein Bruder es am nächsten Tag abholen würde.
Meine Kindheit war aber keineswegs einsam, denn 1922, als ich fünf Jahre alt war, kaufte mein Vater ein Klavier. Meine Tante Tieh hatte ein Klavier, und ich hatte es vorsichtig angefaßt und sogar ein paar Akkorde eingeübt. Als dann mein Klavier eintraf, setzte ich mich sofort hin und fing an zu spielen. Meinen Eltern kam das wie ein Wunder vor.
"Was spielst du denn da?" fragten sie mich.
"Eine Melodie, die ich mir ausgedacht habe", sagte ich. Dann ging ich zu Yes, We Have No Bananas über.
Sie entschieden, daß ich eine Musiklehrerin brauchte und baten Mrs. Kierce (13) , mich zweimal die Woche zu unterrichten.
Ich mochte den Unterricht nicht besonders und dachte mir nach wie vor lieber eigene Melodien aus. Mrs. Kierce war beeindruckt und schrieb die Melodien sehr gewissenhaft nieder. Ich hatte bei ihr Unterricht, bis ich etwa zehn Jahre später ein Konzert von Mrs. Tucker (14) hörte. Von da an hoffte ich, daß sie meine Lehrerin werden könnte. Ich sprach mit Mrs. Kierce darüber, und sie stimmte mir zu.
Das Stück, das ich meiner neuen Lehrerin vorspielte, war die Zweite Ungarische Rhapsodie. Später einmal sagte sie, es sei die schnellste, lauteste Ungarische Rhapsodie gewesen, die sie je gehört hätte, aber sie nahm mich als Schülerin an. Nicht nur als Schülerin - ich verbrachte jeden Samstag bei ihr zu Hause und sie machte mich mit Bach bekannt, den ich nie zuvor gehört hatte.
Für mich war Mrs. Tucker die Verkörperung von Bach, Mozart und aller anderen herrlichen Musik, die mit dreizehn meine ganze Seele umfangen hielt. Bei einem Rachmaninow-Konzert lernte ich meinen ersten erwachsenen Freund kennen.
Er war dreiundzwanzig und ich siebzehn, und wir konnten einfach über alles reden, nicht nur über Musik. Er machte mich mit den Werken von Karl Marx und Engels bekannt, was dazu führte, mein Gerechtigkeitsempfinden zu stärken. Während der Wirtschaftskrise hatte ich oft gesehen, wie Neger unsere Mülltonnen durchwühlten und ans Haus kamen, um zu betteln. Schon damals war mir klar, daß etwas Beängstigendes und Falsches in der Welt vorging, aber ich hatte nicht wirklich darüber nachgedacht.
Mein neuer Freund, Edwin Peacock, kam jeden Samstagnachmittag zu uns, und seine Besuche waren mir eine Freude. Ich war nicht in ihn "verliebt", vielmehr war es eine wirkliche Freundschaft, die mein ganzes Leben andauerte.

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(4) Lula Caroline Carson Waters (1858-1923), McCullers' Großmutter mütterlicherseits.
(5) Charles Thomas Waters (1860-1890).
(6) Lamar Smith (1889-1944), McCullers' Vater.
(7) Lamar Smith jun., McCullers' Bruder, geboren 13. Mai 1919.
(8) Margarita Gachet Smith, McCullers' Schwester, geboren am 2. August 1922.
(9) Martha Elba Waters Johnson (1885-1953), McCullers' Tante mütterlicherseits.
(10) Virginia Johnson, McCullers' Cousine, Tochter von Martha Elba Waters Johnson und C. Graham Johnson.
(11) Vera Marguerite Waters (1890-1955), McCullers' Mutter, im Familienkreis Bebe genannt.
(12) Die erste Zeile dieser Seite fehlt im Typoskript der Autobiographie.
(13) Mrs. Helen (Alice) Kendrick Kierce.
(14) Mrs. Mary Tucker, Frau von Albert Sidney Johnston Tucker, Colonel der U.S.-Armee.

Mit freundlicher Genehmigung des 
Schöffling Verlag

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