Vorgeblättert

Dragan Velikic: Lichter der Berührung. Teil 2

07.02.2005.
3.

Die Anordnung der Karten auf dem Tisch war unverändert: Die Herzdame näherte sich gefährlich dem König, und die Aufeinanderfolge dreier Wochen eröffnete die Möglichkeit einer Reise. Die ungewöhnliche, von Prophetenhand geformte Blume wird den Protagonisten ebenso überleben wie den, der die Geschichte beginnt.

Nichts ist endgültig außer der lackierten Holzkiste, der eine Menschengruppe von der Kapelle zur Grabstätte folgt. Der frische Erdhügel bedeckt eine erloschene Welt wie der Einband eines alten Buches.

Das also ist der Tod, der mich nicht sonderlich trifft, dachte Tibor, während er langsam, an der Spitze des Zuges, dem Wa­gen folgte. Der Sarg ruhte auf einer Plüschdecke, eingerahmt von einem Metallgitter. Die Speichenräder aus dunklem Holz hinterließen auf dem feinen Kies eine deutlich sichtbare Spur. Tibor spürte Ritas schlanke Finger auf seinem Arm. Die Hitze des Junitages veranlasste einige Schweißperlen, seine Wirbelsäule hinabzurinnen und sich in der weichen Baumwollwäsche zu verlieren.

Vor sieben Tagen, als sie bei Andrej waren, hatten sie dessen Nachbarn Dmitrij gerufen, einen Russen aus Taschkent. Dmitrij lebte schon zwei Jahre mit seiner Familie in Wien. Von Beruf Opernsänger und in Erwartung eines ständigen Engagements, legte er häufig auf dem Küchentisch die Karten.

Die Blume, die Dmitrij aus den Karten geformt hatte, zeigte an jenem Abend in der oberen rechten Ecke das Zeichen eines Todes, der Tibor nicht wesentlich beunruhigen sollte.

Am folgenden Tag starb Ritas Großmutter, Martha Coppeans, die offiziell älteste Bürgerin Wiens.
Mit hundert und sieben Jahren lässt sich gar nicht sterben, dachte Tibor. Nur ein letzter Atemhauch, der nicht einmal den Spiegel trübt.

Als man die Grabstätte der Familie Coppeans auf dem Wiener Zentralfriedhof erreicht hatte, bildete der Trauer­zug einen Halbkreis um die breite Marmortafel, in die schon eine Porzellanfotografie von Martha Coppeans eingelassen war, ein Gesicht, angehalten irgendwo auf der Mitte des Wegs, möglichst nah dem früh verstorbenen Ehegemahl. Denn rechts von Martha lächelte Hans Coppeans, dessen kurzes Leben im fernen Jahr 1915 zu Ende gegangen war, in der Uni­form eines österreichisch-ungarischen Marineoffiziers.

Tibors Gedanken waren indes auf die Person gerichtet, die der Russe in der unteren rechten Ecke der Kartenrose entdeckt hatte. Schon zwei Tage lang ließ er in Gedanken die Gesichter seiner Patientinnen Revue passieren, rief er sich die Intonation ihrer Stimmen ins Gedächtnis, wenn sie erleichtert vom Behandlungsstuhl aufstanden und sich mit einer Serviette den Mund abtupften.

In der Stille der Juniglut waren die Worte des Bezirksvorstehers zu vernehmen, er vertrat den Bezirk, in dem Martha die letzten sechsunddreißig Jahre gewohnt hatte. Im Laufe ihres langen Lebens, seit jener Zeit, als sie mit dem Zusammenbruch der Monarchie nach Wien gelangt war, hatte sie häufig die Wohnung gewechselt, um schließlich in der Stille Hietzings anzukommen.

Von der glühenden Hitze ermattet, durchlief Tibor in Gedanken alle dreiundzwanzig Wiener Bezirke, der Reihe nach, wie sie sich in konzentrischen Kreisen um den Kern der ­Innenstadt legen. Für einen Augenblick verweilte er, sich auf den Namen des 11., Simmering, besinnend, in Favoriten, und beendete seinen Spaziergang schließlich in Liesing.

Der Sarg wurde in der Gruft versenkt. Verwandte und nahe Freunde traten hinzu, um ein Schäufelchen voll Erde hinabzuwerfen, auch Tibor und Rita, wobei Tibors Augen dem Klümpchen folgten, das bis zur Mitte des lackierten Sarg­deckels rollte. Er rief sich das blasse, versteinerte Gesicht von Martha Coppeans ins Gedächtnis, die wässrigen, grünen Augen, deren Zelluloid vom Lauf eines ganzen Jahrhunderts überflutet worden war. Nun war ihr Gedächtnis endgültig erloschen, verschwunden waren Tausende von Namen, Szenerien und schweren Düften, das Labyrinth von Straßen und blinden Durchgängen einer befestigten Stadt. Tibor sah den langen, öden Strand, die Reihe der Badekabinen, die verschlossenen Türen. In den letzten Jahren, in der Isolation ­jenes weit zurückliegenden Segments ihres Lebens, das sich zu Beginn des Jahrhunderts in ihrer Geburtsstadt abgespielt hatte, hatte Martha, wenn sie mit ihren Hausgenossen sprach, diese bei anderen Namen genannt. Häufig war dabei von einem gewissen Beppo und dem Badestrand Val di Cane die Rede gewesen.

Von Ritas Fingern an der Schulter berührt, fand sich Tibor durch die Bewegung, mit der sie ihn zur Seite rief, für einen Augenblick in Unruhe versetzt. Er fühlte ein jähes Verlangen. Seit dem ersten Begräbnis, an dem er als Zwölfjähriger in Subotica teilgenommen hatte, weckte die feierliche Stille eines solchen Geleits seine Sinnlichkeit. Sein Blick glitt über die breiten Hüften der Frauen in Schwarz. Eine Beerdigung ist stets der heimliche Triumph der Lebenden, ein Augenblick, der das künftige Opfer auswählt, ein Aug in Auge mit der unabsehbaren Welt der Toten. Das Verlangen nach dem weiblichen Körper holte Tibor auch später wieder ein, als er im weißen Mantel des Assistenten neben dem Behandlungsstuhl des Zahnarztes stand. Er folgte den Händen, deren verkrampfte Finger sich in die weiche Armlehne gruben oder entspannt auf dem Oberschenkel ruhten.

Bevor man sich zum Ausgang begab, ließ Tibor seine Augen über die Gesichter der Anwesenden gleiten. Die Person, die der Russe aus Taschkent angekündigt hatte, stand vermutlich in der Nähe des Grabes.

Auf der monotonen Fahrt in die Stadt sah Tibor das hagere Gesicht von Martha Coppeans vor sich, die jetzt in Frieden ruhte, im 11. Wiener Bezirk, da, wo alle einmal ankommen, und er fragte sich, ob in einem derart langen Leben nicht etwas Vulgäres lag, von jenem Augenblick an, da man das zentrale Gemach des Alters so um die achtzig durchschritt. Und wie mochte das Leben erst später aussehen, in den düsteren Räumen, in denen Apparaturen für ein präzis bemessenes Quantum an Licht, Feuchtigkeit und Wärme sorgen wie in botanischen Gärten oder Museen, wo präparierte Tiere ihr falsches Leben leben, mit Glasaugen die fernen Landschaften ihrer Herkunft herbeisehnend, Landschaften, auf Karten verzeichnet, die an der Wand hängen, daneben die Metallplättchen mit dem lateinischen Namen, dem Vorkommen, der Gattung und der Art.

Nachdem er sich von Rita und ihren Eltern verabschiedet hatte, stieg Tibor am Schwedenplatz aus dem Taxi und begab sich zu Fuß zur Praxis in der Ungargasse. Auf seinem Weg durch die Straßen den schmalen Gürtel nachmittäg­lichen Schattens wählend, meditierte er über die Kategorie der Zeit. Er sah den öden Strand vor sich, die Reihe der Badekabinen, die parallelen Lebenslinien, die sich auf angefaulten Bohlen berührten. Marthas hundert und sieben Jahre würden sich in blassen Umrissen im Leben ihrer Nächsten wiederfinden, um schon in der nachfolgenden Generation vollständig aus jeder Erinnerung zu verschwinden. Denn Rita und Tibor hatten keine Kinder. Das, was nach dem Tod triumphierte, waren die Zähne. Für einen winzigen Moment schien die Konfiguration ihres Gebisses vor ihm auf, Ober- und Unterkiefer. Abgesehen von den partiellen Prothesen, hatte sich der Schmelz ihrer Zähne in ungewöhnlicher Qualität erhalten, es waren Zähne, die selbst das Grab überleben würden, in dem sie lag.

Tibors Familienname Toth ließ ihn gewissermaßen unberührbar erscheinen, so als ob er und der Tod eine geheime Übereinkunft getroffen hätten. So lange er lebte, würde er dessen Macht rühmen, und dieses miteinander Vertrautsein, so glaubte er, würde sein Leben verlängern.

Als Tibor vor dem Gebäude aus der Zeit der Sezession angelangt war, in dem er wohnte und eine Etage höher eine Praxis besaß, tauchte er mit Erleichterung in die Kühle des marmornen Eingangs. Zu Fuß erklomm er die zweite Etage, wo sich die Praxis befand, die Fingerkuppen seiner Linken glitten über die Spirale des Messinggeländers.


4.

Die griechischen Tragiker lehren, dass wir erst mit dem letzten Atemzug eines Sterbenden über das Quantum Glück urteilen können, das sein Leben erfüllte.

Obwohl der Tod von Ritas Großmutter ihn nicht sonderlich berührte, suchte Tibor angesichts der Abfolge von Mund­höhlen seiner Patienten an diesem Nachmittag nach einer Spur in der eisigen Ruhe des entschlafenen Gesichts von Martha Coppeans. Das Ende der Saison war definitiv, die letzte Kabine am Strand geschlossen, nur ein Möwenschrei drang noch in die Stille über der grauen Wasserfläche und der Klang der Schritte, mit denen ein einsamer Spaziergänger die nassen Bohlen der langen Brücke vermaß.

Während er behutsam ein Medikament in den "Sechser links unten" von Frau Gauß einspritzte, verfolgte Tibor von seiner Plattform aus die lange Waggonkomposition eines Zuges. Es war weder der nachmittägliche Ingeborg Bachmann in Richtung Salzburg noch der Joseph Haydn nach Hamburg, vielmehr ein Zug namens Martha Coppeans unterwegs zu dem Ort, der ihr in ihrer Sterbestunde als letzter erschienen war. Tibor drückte sanft die weiße Masse auf die Krone von Frau Gauß und sah die stille Hermesstraße in Hietzing vor sich, jene Nacht, in der er mit Rita aufgebrochen war, um ihre Eltern und Großmutter Martha kennen zu lernen. Das war im Herbst vierundsiebzig gewesen; damals war er zum ersten Mal nach Wien gekommen.

Teil 3