Vorgeblättert

Ian Buruma: Chinas Rebellen. Teil 2

24.08.2004.
Li Lu war 1989 als der agilste Adjutant Chais noch wenige Tage vor dem Militäreinsatz nicht zur Räumung des Platzes bereit gewesen, obwohl andere Studentenführer, darunter Wang Dan, Wu’er Kaixi und Chai selbst, durch Abstimmung beschlossen hatten, die Menge zum Aufgeben zu drängen. Chai hatte sich dann wegen Li Lu unter Tränen umentschieden. Als einige bekannte Pekinger Intellektuelle den Studenten rieten, eine blutige Auseinandersetzung zu vermeiden, brandmarkte Li Lu sie als "staatliche Agenten". Ebenso wie Chai war Li 1989 ganz plötzlich auf der Szene erschienen, doch hatte dieser Provinzler aus Nanjing binnen weniger Tage nach seiner Ankunft in Peking bereits mit allen maßgeblichen Studentenführern gesprochen. Von der Partnerschaft mit Chai profitierten beide: Sie diente ihm als urbane Mentorin, er ihr als zuverlässiger Berater.
Li Lus Büro lag im 26. Stock eines Gebäudes in der Madison Avenue. Ich wartete draußen, da er gerade telefonierte. Dann hörte ich eine rauhe Stimme rufen: "He, Bill, sag bitte mein Mittagessen mit Dick am Dienstag ab." Nur ein leichtes Rollen, eher der Tonfall als ein Akzent, ließ erkennen, daß der Sprecher nicht amerikanischer Herkunft war. Ich überflog die Bücher auf den Regalen: Steuertips, Wei Jingshengs Briefe aus dem Gefängnis, Wirtschaftsmagazine, blätterte dann meine gesammelten Zeitungsausschnitte durch, darunter ein Porträt aus dem New York Times Magazine und verschiedene Artikel aus der Washington Post. Einer zitierte Li Lus Bemerkung, der Börsenboom in den USA erinnere ihn an den multiplen Orgasmus bei Frauen. Ich wußte, daß er an der Columbia University den Magister in Betriebswirtschaft und einen juristischen Titel erworben hatte und schon wenige Monate nach der Flucht auf dem Seeweg ein geschätzter Gast bei Präsidenten, Senatoren und TV-Talkmastern war. Dann trat er plötzlich im dunklen Flanellanzug aus dem Büro und hielt mir, hinter einer Hornbrille lächelnd, seine ausgestreckte Hand entgegen. "Was darf es sein - Coke, Evian, Kaffee …?" Ich wählte Wasser. "Heiß oder kalt? Nun, Sie sind Europäer, und ihr Burschen trinkt es ja immer warm, stimmt’s?" Und das war jemand, der 1989 noch kaum Englisch sprach.
Das erste, was an Chai Ling, Li Lu und vielen anderen ihrer Generation auffällt, ist ihre Redegewandtheit, die vielleicht von Intelligenz, zumindest aber von einer außergewöhnlichen Anpassungsfähigkeit zeugt. Möglicherweise hat sie auch etwas mit ihrer Herkunft zu tun, sind sie doch in einer Gesellschaft aufgewachsen, in deren politischem Alltag nur der Jargon zählt. Offenbar hatten die hölzernen Phrasen des Parteichinesischen die alten konfuzianischen Klischees mit verheerenden Folgen verdrängt, die Sprache ihres Sinnes entleert. So lernt man "richtiges Denken" auswendig, sagt etwas ohne jede Rücksicht darauf, ob irgend jemand es glaubt. Doch die Orthodoxie kann sich plötzlich ändern, je nachdem wer in der Hierarchie gerade oben oder unten steht. Was gestern noch schwarz schien, kann heute schon weiß sein, und darüber sollte man möglichst stets Bescheid wissen. Das kann zu großer rhetorischer Flexibilität führen oder das Talent fördern, um des Überlebens willen zu lügen. Jedenfalls gebiert es Zynismus, so daß man niemandem zutraut, Ansichten ohne - gewöhnlich finstere - Hintergedanken zu vertreten. Und da Staatsbeamte ebenso wie ihre Gegner Politik oft moralisierend betrachten, gelten unorthodoxe oder einfach von der eigenen Überzeugung abweichende Meinungen als Ausdruck schlechten Charakters.
Das mag ein Grund sein, warum Chai Ling und Li Lu in der chinesischen Diaspora verhaßt sind. Ihre Verwandlung von idealistischen jungen Patrioten in aufstrebende Amerikaner wirkt zu durchsichtig eigennützig. Schmeicheleien von Ausländern wecken außerdem Neid, der ebenfalls Haß gebären kann. Einer meiner chinesischen Freunde, der dem kommunistischen Regime keineswegs nahesteht, verunglimpfte Chai Ling und Li Lu als "Abtrünnige". Ein bekannter chinesischer Schriftsteller bezeichnete sie als "Extremisten" und "Musterschüler Mao Zedongs", da sie die brutalen Einstellungen der Roten Garden teilten. Von mehreren Seiten hörte ich, die einstigen Studentenführer hätten "ihre Karrieren mit dem Blut der Tian’anmen- Opfer geschmiert".
Nach 1989 stand die Rhetorik im Zentrum der schärfsten Tian’ anmen-Kontroverse. So legten die Filmemacher Carma Hinton und Richard Gordon 1995 ihre Dokumentation The Gate of Heavenly Peace als eine Polemik gegen die "radikalen" Studentenführer an, allen voran Chai Ling. Durch geschickten Einsatz von Archivmaterial und Kommentierung suggerierten sie, die extremsten Studenten hätten sich im Handstreich der Demonstrationen bemächtigt: Gerade das radikale Verhalten von Chai Ling und Konsorten habe als Spiegelbild des Extremismus der Kommunistischen Partei die Hardliner in der Regierung provoziert, derart brutal zurückzuschlagen. Als Hauptbeleg dafür diente das berüchtigte Interview mit Chai in dem Pekinger Hotelzimmer wenige Tage vor dem Gemetzel, mit der umstrittenen Aussage, "daß wir in Wirklichkeit auf ein Blutbad hoffen ". Chai behauptet, und ihre Verteidiger bestätigen, daß jenes "hoffen" im Chinesischen je nach Kontext auch "erwarten" bedeuten kann, doch ihre Kritiker bezeichnen sie als Lügnerin. Chai warf den Regisseuren vor, "sich zu ihrem persönlichen Vorteil bei der [chinesischen] Regierung lieb Kind gemacht" und den Film "nur um des schnöden Mammons willen verhökert" zu haben.(3) Es ging also gar nicht mehr darum, die Wahrheit aufzuklären, da wechselseitige Denunziationen die Debatte abwürgten.
Das Gift der Denunziation wirkt in jeder Diktatur des Dogmatismus, und auch die Paranoia ist kein typisch chinesisches Wahnsystem - politische Exilanten bekämpfen einander ungeachtet der jeweiligen Herkunft, fallen, ihres gemeinsamen Feindes beraubt, übereinander her. So fand ich bei meinen Gesprächen mit chinesischen Exilanten und Aktivisten fast keinen, der an den anderen ein gutes Haar ließ. Bei egal welchem Namen bekam man zu hören, der Betreffende sei ein Lügner, Agent der Regierung, Spion, Opportunist, Gangster, Extremist und durch Sex, Macht oder beides korrumpiert. Oft fühlte ich mich an einen ehemaligen japanischen Sträfling erinnert, dem zufolge das meistbenutzte Wort in Japans Gefängnissen "Lügner" war. Im Klima der Denunziation könne keiner keinem trauen: "X wird nächste Woche entlassen." - "Lügner!" "Am Geburtstag des Kaisers gibt’s eine Sonderration Fleisch." - "Lügner!" "Heute ist schönes Wetter." - "Lügner!"
Gegenseitiges Mißtrauen ist jedoch nicht nur eine Exilantenkrankheit, sondern offenbart auch eine tiefere Wunde der chinesischen Zivilisation. Wo man den alltäglichen Überlebenskampf nur mit Lügen besteht, setzt sich allerorten der Zynismus durch, so daß die Verleumdung zum Hauptinstrument der Unterdrückung wird. Das Lügengeflecht durchzieht die Gesellschaft von oben her, und Lebenskünstler stellen sich perfekt darauf ein. Sie wissen, welche Themen es zu meiden gilt, wie man Unwissenheit vortäuscht, öffentlich das eine und privat etwas ganz anderes sagt. Die Chinesen betonen meist von sich aus, was für ein "scheinheiliges" Volk man sei. Oft wirken sie dabei verzweifelt und verlegen, manchmal aber auch auf perverse Weise stolz, als zeuge gewohnheitsmäßige Doppelzüngigkeit von höchster Kultiviertheit. "Wir sind ja so ein kompliziertes Volk", hört man immer wieder. "Unsere Kultur ist dermaßen kompliziert, daß ihr Ausländer uns niemals verstehen könnt", so als wären "die Ausländer" ein wenig zu naiv in ihrem ernsthaften Bemühen um Wahrhaftigkeit.
Selbstverständlich ist diese Kultur der Doppelzüngigkeit älter als Marxismus-Leninismus und Maoismus. Das von einer Kaste hochgebildeter Schreiber oder Beamtengelehrter formulierte und behördlich durchgesetzte "richtige Denken" ist ein Grundzug aller ostasiatischen Staaten, die ihre Macht mit konfuzianischen Dogmen rechtfertigen. Eines dieser Dogmen besagt, daß "Harmonie" und "Eintracht" auf Kosten individueller Freiheit die chinesische Kultur prägen und den eigentlichen Kern des "Chinesentums" bilden. Im ausgeprägt orthodoxen Nordkorea erlebt diese Denkungsart eine groteske Perversion. Doch insgesamt hat sich in Korea, China und Vietnam der Kommunismus lediglich den schlimmsten Aspekten der älteren Traditionen angepaßt.
Doch wäre es verfehlt, dafür Konfuzius selbst verantwortlich zu machen, denn der Weise betonte oft, daß kultivierte Menschen die Wahrheit sagen müßten, auch wenn sie den Herrschenden noch so unangenehm sei. Als Warnung vor der Tyrannei zitierte er den Fall eines despotischen Königs, der die Loyalität seiner Untertanen prüfte, indem er auf einen Hirsch zeigte und sagte, das sei ein Pferd. Selbstverständlich scheuten sich die Untertanen, ihm zu widersprechen. So war den Chinesen schon vor mehr als zweitausend Jahren bekannt, daß Lügen die Politik verderben. Eine gute Regierung, so predigte Konfuzius, könne nur da entstehen, wo man die Wahrheit sagen und Dinge beim Namen nennen dürfe.
Dennoch halten die Japaner, die offener reden können als die meisten anderen Ostasiaten, die Spannung zwischen öffentlicher Wahrheit (tatemae) und persönlichen Motiven (honne) nach wie vor für die Grundlage ihres Sozialverhaltens. Da sie Wörtern immer mißtrauen und echte Motive selten offenbaren, verklären Japaner und Chinesen die Tugend der Aufrichtigkeit. Ein ehrlicher Mensch müsse nicht immer die Wahrheit sagen, solange er reine Absichten habe. Auch das pervertieren kommunistische Regime: Politische Häftlinge sollen die offiziellen Dogmen nicht nur nachbeten, sondern sich ehrlich dazu bekennen, das heißt noch die letzten Vorbehalte in sich ausmerzen. Wie jene Christen im Japan des 17. Jahrhunderts müssen Abweichler ihren Irrtum durch tätige Reue berichtigen, also anstatt Bildnisse der Jungfrau Maria zu zertrampeln unter Mao "Reaktionäre" denunzieren - und seien es die eigenen Eltern oder besten Freunde. Einer der Gründe dafür, daß 1989, besonders nach den Hungerstreiks im Mai, so viele gewöhnliche Bürger die Studenten unterstützten, lag darin, daß deren Bekenntnis zum Märtyrertum und zur Aufopferung für die Nation als die höchste Form der Aufrichtigkeit galt.

Im Winter 1998 flog ich nach Taizhong im Zentrum Taiwans, um in dieser großen, häßlichen, schrill geschäftsmäßigen Stadt Wu’er Kaixi zu treffen, den beredtesten, weitschweifigsten und charmantesten der Studentenführer. Wer könnte die Bilder vergessen, als er im Mai 1989 nach dem ersten Hungerstreik, soeben vom Krankenbett auferstanden und noch im Schlafanzug, wie ein großes Baby an seiner Sauerstoffflasche nuckelte und Premier Li Peng in der Großen Halle des Volkes mit dem Finger drohte - eine absurde Anspielung auf die "Kampfsitzungen" der Kulturrevolution, bei denen Studenten ihre Oberen oft zu Tode gefoltert hatten. Doch besaß der Student diesmal keine Macht, und wenn jemand Gewalt anwandte, dann der Obere. Trotz des Fastens hatte sich Wu’er in Peking die sanften Züge des Jugendidols bewahrt, im Exil jedoch stark zugenommen. Seine ersten Jahre in den USA sind legendär - Alkoholexzesse wie ein Rockstar, Zaster ohne Ende, Mädchen, Partys und sündhaft teure Maßanzüge. Talentsucher lockten, und aus Hollywood ein Vertrag, sich selbst in einem Film über Tian’anmen zu spielen. Nach den wenigen fetten Jahren kam der Absturz. Die Geldquellen versiegten. Exilorganisationen mieden ihn. Bei öffentlichen Debatten fiel er fast zu pathetisch in Ohnmacht. Ähnlich wie im Fall anderer Studentenführer, mit Ausnahme Wang Dans, der noch in einem chinesischen Gefängnis saß, hatte der Ruf Wu’er Kaixis als seriöser Freiheitskämpfer stark gelitten.
Inzwischen war Wu’er mit der Tochter eines wohlhabenden taiwanischen Geschäftsmannes verheiratet und betreute in Taizhong als Diskjockey eine nächtliche Radiosendung. Wir trafen uns in einem amerikanischen Schnellimbiß. Im Hintergrund erklang leise ein rührseliger taiwanischer Schlager. Wu’er bestellte sich einen Clubsandwich. Er trug ein graues T-Shirt, das über seinem üppigen Bauch spannte. Sein Gesicht war füllig geworden, so daß er mit den seelenvollen Kulleraugen und dem roten Schmollmund aussah wie ein dunkles Pausbäckchen. Er hantierte an einem Handy herum. Ein US-Senator werde nach Taipeh kommen, und Wu’er rechne jeden Augenblick mit einer Einladung zum Dinner, deshalb sei er aufgeregt. Doch der Anruf blieb aus.
Trotz seines gepflegten und etwas verzärtelten Äußeren hatte Wu’er nach wie vor den Charme eines geborenen Causeurs, eines Menschen, der sich gerne in der Öffentlichkeit bewegt. Man merkte sofort, warum ihm die Massen in Peking von dem Moment an zuhörten, als er auf eine Mauer kletterte und sie aufforderte, den Diktatoren zu trotzen. Wu’er ist lustig und aufgeschlossen und spricht fast ebenso fehlerfrei Amerikanisch wie Chai Ling und Li Lu: "Diese ersten drei, vier Jahre in den USA? Ojemine! Man hätte mich in eine Anstalt stecken sollen." Die Erfahrung des Exils, des Lebens in einem freien Land habe ihn einfach überwältigt, so daß er mindestens vier Jahre brauchte, um wieder ganz zu sich zu kommen und klar zu denken. Am schwersten sei es ihm gefallen, sich mit den verlorenen Illusionen abzufinden.
Wu’er gehört den Uighuren an, der islamischen Minderheit im äußersten Westen Chinas, und sieht mehr levantinisch als chinesisch aus. Obwohl sein Vater ein strammer kommunistischer Kader war, aß die Familie kein Schweinefleisch und bewahrte sich etwas vom islamischen Ethos. Wu’er sei mit einem ausgeprägten Empfinden für richtig und falsch aufgewachsen, im Unterschied zu den Han-Chinesen mit ihren nicht individuellen, sondern kollektivistischen Werten, weshalb sie um der Harmonie und der "Gesichtswahrung" willen fröhlich lögen. Die idealistische oder, wie Wu’er sagte, die "Tian’anmen- Generation" sei in den letzten Zügen des Maoismus herangereift. Schon mit acht Jahren habe er nichts anderes im Kopf gehabt. Doch Maos Tod, die Verhaftung der Viererbande - seiner Witwe Jiang Qing und Konsorten - und die Öffnung Chinas nach Westen habe dem allen ein Ende gemacht. Statt dessen habe der neue Staatschef Deng Xiaoping die Menschen angespornt, nach Wohlstand zu streben. Korruption und Kriminalität blühten. "Alles, was wir mit eigenen Augen sahen, stand im eklatanten Gegensatz zu unserem Schulwissen." Die offizielle Rhetorik schlug wilde Kapriolen, und die hölzernen Phrasen der Behörden entsprachen fast nie der Wirklichkeit. Die unter chinesischen Intellektuellen so gut wie einmütige Erkenntnis, betrogen worden zu sein, nährte das Rebellentum der Tian’anmen-Generation. Doch nach Wu’ers Auffassung verband sich ihr Haß auf die Herrschenden mit einer "alten ethischen Tradition Chinas, sich für die Nation verantwortlich zu fühlen. Wir glaubten, China retten zu können."
Das Massaker vom 4. Juni machte auch diesen Traum zunichte, und infolgedessen, so erklärte Wu’er, hätten die Menschen ihre Enttäuschung unter einer dicken Kruste Zynismus begraben. "Es ist schwer, den Idealismus abzutöten", sagte er. "Doch Uncle Sam half mir dabei, indem er einen extremen Pragmatismus belohnte. Das beste Mittel gegen Idealismus ist die Greencard."
Ich hatte es zuvor schon gehört, und nicht allein von Chinesen: das Sinndefizit der westlichen Lebensweise, das Hohle des amerikanischen Materialismus und so weiter. Mangelnde geistige und moralische Werte bildeten also eindeutig Fragen, die Wu’er stark beschäftigten. In seinen Äußerungen verbanden sich Spiritualität, Idealismus und Politik zu einer Art jugendbewegter Angst wie schon seinerzeit 1989, als Wu’er in Jeans und Cowboystiefeln auftrat, gewöhnlich mit einer Verehrerin an der Hand, und verkündete, daß ihn als Künstler die Politik eigentlich nicht interessiere. Für ihn wurde die Politik zu einer Art Selbstbestätigung, die sich manchmal in Brocken seiner liebsten Songtexte äußerte. "Ich liebe mich", lautete eine seiner Strophen, "also sage ich, daß ich gut bin und verdiene, glücklich zu sein. Ich möchte für mich leben, bin Wu’er Kaixi und kein anderer. " Das war meilenweit vom maoistischen Idealismus entfernt. Und doch konnten seine Kommentare zu Taiwan fast maoistisch klingen.
Wu’er deutete aus dem Fenster der Imbißstube. "Sehen Sie sich das an", stöhnte er. Draußen liefen zwei junge Mädchen in Miniröcken und bauchfreien Tops vorüber. "Sehen Sie sich das an", wiederholte er mit noch stiererem Blick. "Da erkennt man alles." Die Empörung wirkte selbst bei dem einstigen Playboy der westlichen Welt echt. Man stelle sich vor, klagte er: Taiwanische Mädchen, "gerade erst sechzehn", würden in Bars anschaffen gehen, nur um sich Klamotten mit modischen Designernamen kaufen zu können. Dabei schüttelte er ungläubig den Kopf.
Die Taiwaner waren die glücklichsten Chinesen, sagte er, nämlich frei. Doch das alles endete "in einem Zusammenbruch der moralischen Werte". Die Moral der Uighuren dagegen ähnele der christlichen. Die westliche Philosophie beruhe, ebenso wie der Islam, auf Individualismus. Doch die Chinesen - dabei ging er gleichsam auf Distanz - verstünden gut und böse nicht auf der Basis des Individualismus, sondern müßten diese Einstellung erst noch lernen. Nicht, daß Wu’er in China selbst viel über diese Dinge nachgedacht hätte: "Diese Gedanken kamen mir erst nach den verrückten Jahren in Amerika", und da er sich jetzt als "Medienkünstler" begreife, wolle er sie in China durchsetzen, den Idealismus von 1989 wiederbeleben, "große Träume" verwirklichen, die Pressefreiheit fördern, eine "liberale Zivilgesellschaft" aufbauen. Er strebe eine eigene Radiosendung in China an - nein, etwas viel Größeres -, er wolle sich sein eigenes "Medienimperium" schaffen.

Die Rettung Chinas ist ein altes konfuzianistisches Vorhaben und das zu Rettende oft ein nicht geographisch, sondern kulturell gefaßtes, also utopisches Ideal. Daher legt man bei Regenten sehr hohe Tugendmaßstäbe an, und wenn das öffentliche Leben solche Tugenden vermissen läßt, so sind vorbildliche Gelehrte moralisch verpflichtet, sie wiederherzustellen. Selbst ohne tiefere Kenntnis der Tradition behaupten die ehemaligen Studentenführer, ebenso unter ihrem Einfluß zu stehen wie ehemals ihre revolutionären Eltern. So erklärte mir zum Beispiel Li Lu, der frühere Stellvertreter Chai Lings: "Wir glaubten, China retten zu können, weil wir gebildet sind. Das ist zwar lächerlich, zugleich aber auch großartig. Ähnlich wie mein Vater waren wir typische Konfuzianer."
Anders als Wu’er hat Li Lu Intellektuelle in der Familie. Sein Großvater hatte in den zwanziger Jahren an der Columbia University promoviert und in seiner Dissertation die konfuzianische Philosophie mit dem Liberalismus John Deweys verglichen, und starb dann während der Kulturrevolution als Advokat der individuellen Freiheit im Gefängnis. Li Lus Vater hatte in der Sowjetunion Naturwissenschaften studiert, und als guter Kommunist glaubte er an die Rettung Chinas durch eine Revolution. Dennoch galt auch er als Klassenfeind und hatte lange Jahre in Arbeitslagern verbracht, aber nach wie vor beschwor er seinen Sohn in New York, "sich als Chinese zu fühlen, sich für China einzusetzen und sich ja nicht von einem fremden Land täuschen zu lassen".
Auch Chai Ling schwärmt hochgesinnt von der Rettung Chinas, empfindet aber gleichzeitig ihr amerikanisches Exil als eine Erlösung und Befreiung von dieser Last. Die Einzelheiten ihrer Flucht von 1990 bleiben ungeklärt, jedenfalls kam sie eines Tages mit dem Zug in Hongkong an. Gerüchte wissen von einer operativen Veränderung des berühmten Gesichts, der Mitwirkung von Gangstern, Bauern und sogar Polizisten, um Chai in einer Kiste außer Landes zu schmuggeln, aber verbürgt ist gar nichts. Chai selbst hüllt sich in Schweigen. Statt dessen erzählte sie mir nur von ihren frühen Exiljahren, als sie fast völlig zurückgezogen in Princeton lebte, klagte über das harte Los, als Ikone behandelt zu werden, obwohl sie doch nur "mit dem Ganzen abschließen" wollte. Nach Tian’anmen, sagte sie, "mußten wir uns selbst fremd werden und etwas uns Unmögliches tun, nämlich eine Lösung für die alten Probleme Chinas finden". In Wirklichkeit habe sie "nur darum kämpfen wollen, sie selbst zu sein", dann aber gar nicht lange gebraucht, um festzustellen, daß sie "die geborene Unternehmerin" war.
Während ich diese frohe Kunde in Cambridge hörte, gingen mir Bilder von einer ganz anderen Chai durch den Kopf - die im amerikanischen Fernsehen über die Zukunft Chinas referierte, über ihre Nominierung für den Friedensnobelpreis 1990 sprach, 1992 in New York als "Göttin der Demokratie" posierte, um gegen den Besuch von Premier Li Peng zu protestieren. Und doch glaubte ich ihr, daß sie es als befreiend erlebte, Englisch zu lernen, sich mit Amerikanern zu unterhalten, Einkaufsbummel in Cambridge und Boston zu machen, einfach "herumzuhängen" und sich treiben zu lassen. Die mit Li Lu und Wu’er Kaixi geteilte Neigung, ihre Selbstfindung in gefühlsbetont schwülstiger Manier zu beschreiben, ist keine erst im Zuge der Amerikanisierung erworbene Affektiertheit, sondern eine Marotte der Tian’anmen-Generation. Im Gerede über demokratische Grundrechte und den romantischen chinesischen Patriotismus hallten starke, oft ziemlich krude Parolen aus den europäischen, japanischen und amerikanischen Revolten der 68er nach: "l’imagination au pouvoir", "sex and drugs and rock ’n’ roll" oder "My G-g-g-generation!" Diese Prahlerei und Großspurigkeit - Wu’er Kaixis Dünkel von 1989, besser als Lech Walesa zu sein und auf einer Ebene mit Gandhi zu stehen, oder später Li Lus These, Tian’anmen habe die Bombe platzen lassen, die zum Untergang der Sowjetunion führte - zeugten von ihrem naiven, unausgegorenen Individualismus. Sie wollten frei sein und selbst über sich bestimmen, unbehelligt vom kollektivistischen Druck Chinas mit seiner korrupten, repressiven Politik. Die meisten standen bereits unter dem Einfluß Amerikas, lange bevor sie dort ankamen.
Als Tochter eines Arztehepaares in der Provinz Shandong hatte Chai Ling eine harte, aber für diese Schicht und Generation nicht untypische Kindheit. Oft mußte sie allein ihre Geschwister hüten, wenn die Eltern zu Bauern in entlegene Dörfer fuhren. Schon früh entwickelte sie eine Aversion gegen Politik, die einen allzuoft zwang, an manchmal regelrecht wahnsinnigen und fast immer demütigenden Kampagnen teilzunehmen. Die Politik war auch schuld daran, daß man sie so häufig mit ihren Geschwistern allein ließ. Nach dem Tod Mao Zedongs im Jahr 1976, Chais früheste Erinnerung an ein politisches Ereignis, sei ihr ein Stein vom Herzen gefallen. Die Lehrer hätten sie aufgefordert zu weinen, doch ihr war nach Lachen zumute. An die Bewegung der "Demokratiemauer", die zwei Jahre später mit Wei Jingsheng begann, erinnert sie sich kaum noch. Mit nur wenigen Ausnahmen hatten die Studenten von 1989, die mit Deng Xiaopings Parole "Das Streben nach Reichtum ist rühmlich" aufgewachsen waren, kaum etwas von Wei gehört. Es war eben eine andere Zeit - und eine ganz andere Generation.
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(3) Zitiert nach Geremie Barme, In the Red. On Contemporary Chinese
Culture,
New York: Columbia University Press 1999.

Teil 3