Vorgeblättert

Jorge Edwards: Der Ursprung der Welt. Teil 2

21.02.2005.
Die Bewegung meiner Schultern, meiner Arme machten jeglichen Kommentar überflüssig. Du weißt es genauso gut wie ich, sollte sie besagen, ich werde mich nicht wiederholen!

Felipe sagte mit seiner rauchigen Branntwein- oder Whiskystimme, um genau zu sein, er hätte sich zum ersten Mal in seinem Leben in einer Situation befunden, die er mit einer ironischen Spitze, fast mit Humor, wenn auch ohne Freude, ohne die geringste Selbstgefälligkeit, als Drama bezeichnete.

"Ein Riesendrama!" rief er auf die chilenischste Art aus, die man sich auf dieser elenden Welt vorstellen kann. "Ich mußte mich zwischen einer Frau und der Flasche entscheiden, und wenn ich dir die Wahrheit sagen soll, die reine Wahrheit, dann denke ich, daß die Entscheidung für die Flasche gefallen ist."

"Üble Geschichte!" stieß ich aus.

"Und eine üble Diagnose, schätze ich", fügte er mit besorgtem Gesicht hinzu.

"Ganz übel!"

Wir setzten uns auf die Terrasse des Dôme, Diagnose hin, Diagnose her, und er trank seinen ersten mittäglichen Ballantine?s, mit den obligatorischen Eiswürfeln und dem symbolischen Schuss Perrier (wir erinnerten uns an Acario Cotapos, Cotapos für die Franzosen, der eine "Panimvide" bestellte. "Une Panimvide, s?il vous plaît!"), und ich eine Limonade oder besser gesagt einen klassischen citron presse. Eines meiner Geheimnisse, nicht sehr gehütet, denn ich posaune es überall aus, wie ein Missionar, auch wenn ich auf wenig Gegenliebe stoße, ist oder war? die Alkoholabstinenz, Mineralwasser und Limonade. Ich sage war, denn nach den Ereignissen der letzten Tage und der letzten Stunden frage ich mich, ob es eine Rückkehr zur Limonade, zu dem, was war und nicht mehr ist, gibt.

Ich glaube, wir haben über Bosnien-Herzegowina gesprochen, über die bestialischen Bilder, die wir mit unserem jeweiligen Frühstück herunterschlucken mußten, über die Barbarei, den Rassismus, der nach all den Kriegen, all den Kampagnen dagegen, so vielen Predigten und guten Absichten wieder Aufwind hatte, und über die beschämende Unfähigkeit der Vereinten Nationen, der europäischen Regierungen, des Weißen Hauses, von ihnen allen.

"Von uns allen", präzisierte Felipe, der an diesem Morgen nicht für Zugeständnisse zu haben war, der mit angespannten Nerven und schmerzender Leber sprach, und ich stimmte mit der Miene des militanten Kämpfers, des am Übel der Welt leidenden Seligen zu. Er bestellte seinen zweiten Ballantine?s und als man ihm den Whisky servierte, großzügiger bemessen als der erste, da er Stammgast dieser Terrasse war, ein sozusagen historischer Kunde, der sie noch aus den Zeiten vor der Restaurierung kannte, den Zeiten von Giacometti, Alejo Carpentier und Negro Ulloa, kam er wieder darauf zurück.

"Was mich am meisten nervt", sagte er, "ist, daß mein eigener Verfall mit dem Verfall von allem anderen einhergeht, von den Städten, die wir geliebt, von den Kulturen, die wir bewundert haben. Als die Berliner Mauer vor wenigen Jahren fiel, bin ich herumgehüpft und habe über die Fanatiker, die Polizisten, die Heuchler und all die miesen Kerle gelacht, die uns das Leben unmöglich gemacht hatten, aber jetzt, nach dieser momentanen Euphorie, fühle ich mich niedergeschlagen, deprimiert. Beschissen!"

Ich hatte mit ihm schon mehr als einmal über die depressionsfördernde Wirkung des Alkohols gesprochen. Ich habe nichts erreicht, obwohl ich auf ihn eingeredet habe wie auf ein totes Pferd. Aber ich bin nun mal hartnäckig. Vielleicht liegt das am Beruf oder sogar in der Natur des Arztes. Er führt einen hartnäckigen Kampf, wogegen? Gegen die Zeit? Den Tod? Ich zog es vor, ihm nichts zu sagen, um ihn nicht noch mehr herunterzuziehen. Und dabei war er derjenige, der Seneca las!

"Wie alt bist du, Felipillo?" fragte ich nach einer Weile. "Bist du schon sechzig?"

"Nein, noch nicht", erwiderte er und sah mich über seine heruntergerutschte Brille an, die er aufgesetzt hatte, um den Grund des Glases zu betrachten, als könnten die Formationen des geschmolzenen Eises zwischen den farblosen Whiskyresten ihm die Zukunft weissagen. Die Zukunft war schwarz, und er fügte hinzu, daß es nicht mehr weit hin war bis zu den fatalen Sechzigern.

"Eine Frage von Minuten!" sagte er lachend, und hielt die rechte Hand vor den geöffneten Mund, der Puls war jetzt stabiler.

"Du bist noch ein junger Spund, aber du bist schon lange kein kleines Kind mehr, wenn du mir die Bemerkung erlaubst, und es wäre angebracht anzufangen, dir die Dinge bewußt zu machen."

"Ich glaube, damit habe ich schon angefangen", antwortete er betreten und legte die nervösen, knochigen und trotz der roten Adern feinen Hände übereinander auf den Tisch und sah mich schräg an. "Vor einer ganzen Weile!"

"Nun denn", sagte ich in meinem unvermeidlichen Predigtton und redete daher, als befänden wir uns in einer Klosterschule: "Das heißt, du kannst nicht einfach so auf Gedeih und Verderb vor dich hinleben. Du mußt ein geregeltes Leben führen, Junge, eine Linie finden!"

"Das hat mir schon eine Wahrsagerin während der Aufstände im Mai 68 gesagt, vor mehr als einem Vierteljahrhundert!"

"Du mußt abnehmen, mindestens acht oder zehn Kilo und diesen beschämenden Bauch loswerden, jeden Tag Sport treiben ?"

"Mir hat man beigebracht, Sport sei für Rindviecher", sagte Felipe und faßte an seinen Bauch.

"Du mußt das Cholesterin kontrollieren, den Zucker, den Harnstoff und den allgemeinen Zustand der Leber untersuchen lassen, der kritisch sein dürfte, und die Prostata. Wann hat man zum letzten Mal deine Prostata untersucht, wenn sie überhaupt je untersucht wurde? Und du mußt Diät halten, nicht nur für zwei oder drei Wochen, das nützt nichts, für den Rest deines Lebens. Ein einziges Glas Wein zum Mittagessen, eins zum Abendessen, und Finger weg von Fett, Süßigkeiten, Dickmachern ?"

"Wie furchtbar!" jammerte Felipe mit rauher theatralischer Stimme und raufte sich die Haare, Felipe Diaz wie er leibt und lebt, und dann rief er demonstrativ den Kellner, einen großen, knochigen, dürren, jüngeren Kerl.

"Weil heute Freitag ist, mon cher, nehme ich noch einen dritten ?"

"Tout de suite, Monsieur", antwortete er und dann beugte er sich zu uns herunter und verriet uns mit verwegener Miene eine geheime Kabbala oder den Teil einer Barphilosophie. Seiner festen Überzeugung nach sollte man Aperitifs, vor allem wenn es sich um starke Sachen handelt, wie Whisky on the rocks oder sehr trockene Martinis nur in ungleicher Anzahl trinken: einen, drei, fünf, sieben ? Verstehen Sie, Messieurs?

Mir war klar, das waren geistige Ergüsse von Betrunkenen, von Säufern und in diesem speziellen Fall von einem Nutznießer von Alkoholexzessen, und ich fragte mich, ob ich nicht auf jämmerliche Weise meine Zeit verlor. Mehr noch, ich fragte mich, ob mein Beruf als Allgemeinmediziner und Psychologe nicht letztlich immer vollkommene Zeitverschwendung gewesen war, da die Menschen undurchschaubar und fremd blieben und sich nicht helfen oder reduzieren ließen. Das Bild der nackten Frau auf dem Bild kreiste wieder durch meinen Kopf, als wäre es wirklicher, gültiger als alles andere, und ich stellte mir Felipe vor, damals, noch bevor ich die unkontrollierten Reaktionen Silvias vor seiner Leiche gesehen hatte, und ich stelle ihn mir jetzt erst recht nach dieser Episode vor, wie er ihre Beine auseinanderschiebt und sie in dieselbe Position bringt. Was für ein Unsinn! Aber er lächelte, wieder dem leichtfertigen, erhabenen Felipe Diaz ähnelnd, wie ich ihn kenne, und nicht dem, den ich vor einer halben Stunde an der mythischen Ecke getroffen hatte, und gab dem Kellner vollkommen recht, als wäre er nicht ein einfacher Kellner, sondern ein Erleuchteter, ein Guru. Ich konnte nur noch mit den Achseln zucken, wütend, obwohl ich noch nicht wußte, was mich erwartete, und die Touristen vom Nachbartisch anstarren.

Teil 3