Vorgeblättert

Lajos Parti Nagy: Meines Helden Platz. Teil 1

03.02.2005.
(Seite 7 - 31)

Vor wenigen Minuten sind tausend weiße Vorschüler vom Heldenplatz in die Luft geschossen worden. Ihr entzücktes Gekreisch ist selbst durch das Stimmengewirr zu hören, von meinem Fenster aus sind sie schön zu sehen, wie sie fluoreszierend zwischen den beleuchteten, bauchigen Wolken verschwinden, um eine Minute oder eine halbe später wieder herunterzufallen, der eine schneller, der andere langsamer, je nachdem, ob sich sein Engelsfallschirm geöffnet hat oder nicht.Der Stromausfall ist gerade zu Ende gegangen, ich schreibe hastig, wer diese Sendung öffnet, wird verstehen, wieso. Es ist acht Uhr durch, abends, die Zeit läuft mir allmählich davon, morgen früh um acht wird mich aller Wahrscheinlichkeit nach eine gewisse Person besuchen, um mich mitsamt des Computers mitzunehmen und ausstopfen zu lassen, eventuell sogar zu häuten: einen ehemaligen Mitmenschen, ja Verbündeten, über den die Sprache des Blutes hinweggegangen ist. Ich habe also sehr wenig Zeit, eine einzige, angebrochene Nacht, spätestens Viertel vor acht morgen früh muß ich dieses verhinderte Skript-Konvolut zusammengestellt und per E-Mail versendet haben.

Was ich in den restlichen Minuten, die mir dann noch bleiben, tue, entscheide ich dann. Ich hätte große Lust, diese ganze traurige Sammlung bis zum allerletzten Zeichen zu löschen, sobald ich sie verschickt habe: Soll sich doch Gewisse Person ein Leben lang in Zweifeln martern, ob nicht vielleicht doch, trotz aller Vorsicht und Manipulation, eine "Originalfassung" irgendwo, bei irgendwem auftaucht; andererseits soll sie sich auch in der unstillbaren, von bodenloser Eitelkeit und Selbstliebe gespeisten Sehnsucht nach ebendieser gefürchteten Version verzehren. Und sie wird sich nicht ohne Grund winden, denn es gibt immer eine Kopie, ein zum Original zerfetztes Exemplar, das wir niemals aufhören zu fürchten, ebensowenig, wie uns danach zu sehnen.

Für die Zukunft also: Falls Sie, lieber Leser, diese Zeilen, zum Beispiel diesen Satz, sowie meine späteren Beobachtungen bezüglich Gewisser Person unter meinem Namen finden, ist jenes Buch identisch mit diesem Skript, welches ich heute nacht zusammenstelle. Falls nicht ... hier höre ich auf, denn falls Sie das hier nicht lesen, dann lesen Sie das hier nicht, und können demzufolge auch nicht wissen, daß es so etwas gab oder geben hätte können.

*

Anderthalb, zwei Jahre sind keine lange Zeit, dennoch scheint es mir, als würde sich die Vorgeschichte im Nichts oder wenigstens in einem erstarrten, milchigen Zwielicht verlieren. Es ist seltsam, aber jedesmal, wenn ich sie heraufbeschwöre, werde ich unsicher, mehr noch, mißtrauisch, so sehr, daß ich, im Interesse meiner Glaubwürdigkeit, nicht ausschließen darf, daß mir alles, was ich hier darlege beziehungsweise in unveränderter Form oder Formlosigkeit hierher kopiere, in einer Art langem Traum oder zumindest während eines Traumes widerfahren ist. Diese etwas effekthascherische Lösung wäre vor der Kulisse des wiederholten Knallens der Sektkorken und der Engelsraketen nicht gerade verwunderlich, nur eben eine Lüge. Gleichzeitig würde sie meine allerehrlichste, meine fast kindliche Sehnsucht ausdrücken, diese ganze Ereignisreihe, deren Ende ich mich mit tödlicher Geschwindigkeit nähere, möge nur ein "böser Traum" gewesen sein.Zweifellos war es das Haus, in dem ich damals eine Wohnung mietete, das die Kurhotels meiner wiederkehrenden Träume heraufbeschwor, jene nach Schreien und Engelsfedern riechenden Sanatorien, aus denen ich immer und immer wieder ohne Hoffnung, in Todesschweiß gebadet, floh. Zum Glück gelang es mir aber jedesmal, "im letzten Moment" aufzuwachen - als welkes, halbnacktes Fleisch um ein lange und grämlich schlagendes Herz herum.

Es war ein wahnwitzig überdimensioniertes, ansonsten aber ganz normales Mietshaus, auf den Briefkästen konnten Baseballschläger mitführende Passanten sogar die Namen von Berühmtheiten entziffern, während sie ihr schnelles Bedürfnis verrichteten. Außer dem vergangenen Glanz hatte das Haus eine attraktive Lage vorzuweisen, aus den Fenstern auf der Frontseite hatten alteingesessene wie gelegentliche Mieter einen direkten Blick auf das sogenannte Herz des Landes, was den Besuch gewisser junger Männer verständlich, ja sogar alltäglich machte, die sich nach anderen jungen Männern, vermeintlichen Musikern, erkundigten, genauer gesagt nach mittelgroßen, durchschnittlich aussehenden Instrumentenkoffern, und die mit Recht oder nicht mit all ihren Nervenfasern Zielfernrohrgewehre anstelle der Fagotts und Klarinetten vermuteten.

Hallende Flure mündeten in hallende Flure, und früher oder später führte jeder auf einen Dachboden oder ein Dach, auf verschiedene Dachböden und Dächer, so daß man das ganze Haus als ein in sich zurückgeknautschtes Dach bezeichnen konnte. Auf seinen selbstmörderischen Touren stieß der mutige Stromableser, bevor er aufgab, auf gepanzerte Büros, ausgetrocknete Frisörstudios und Redaktionen, auf eingestürzte Nebenräume und lange, geduldige Klingeln, hinter denen sich himmelstürmende Lustbarkeiten, Taufen und wilde Leichenschmäuse verbargen. Ansonsten herrschte Stille, und auch der Lift, dieser traurige Adamsapfel, fuhr nur selten und trocken auf und ab.

Aber: Ich schwatze hier nur, verschwende meine Zeit mit Kleinigkeiten, dabei ist es schon neun Uhr durch. So entschlossen ich auch bin, scheinbar fürchte ich mich vegetativ, mich mitten hineinzubegeben. Am liebsten würde ich wie ein Kind immer nur vor mich hin sprechen, all das gibt es nicht, es ist nicht da, nicht da, nicht da, es ist nur ein Spiel - aber zum Sprüchemachen ist nun endgültig keine Zeit mehr.

Niemand konnte mir sagen, seit wann und zu welchen Zwecken meine Nachbarn, von denen auf diesen Seiten noch ausführlich die Rede sein wird, den Dachboden nebenan benutzten. Anfangs nahm ich sie, ähnlich den anderen Mietern, wohlerzogen und heuchlerisch nicht zur Kenntnis, obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht anders konnte als sie zu belauern wie der Falter die nächtliche Lampe. Oder der Hase die sich nähernden Autoscheinwerfer, so daß es nur dem blinden Zufall zu verdanken ist, wenn das massive und brüllende Gebilde nicht geradewegs auf ihn zuhält, sondern an ihm vorbeizieht und ihn lediglich umwirft und aufwirbelt.

Die ominösen Nachbarn führten ein lautes und großes Haus, zu jeder Tages- und Nachtzeit strömten scharenweise Besucher herbei, manche in Adleranoraks, in Daunenmänteln, andere in Bomberjacken, mit grünen Fußwikkeln und Baseballmützen. Es waren ausnahmslos sportliche, elegante Exemplare, manchmal fürchtete ich, das Dach könnte unter der Last ihrer Geländewagen einstürzen. Oder das Schwimmbassin könnte hinunterrutschen, denn sie spielten gerne und leidenschaftlich Wasserball.

Wenn nach diesen sogenannten "Gruppenmeetings mit Kulturprogramm" zu nächtlicher Stunde noch eine Schießerei ausbrach und die Gegend von heftigen Maschinengewehrduellen aus dem Schlaf gerissen wurde, sprang jedesmal einer von ihnen, mutmaßlich das Familienoberhaupt, ans Fenster und warf theatralisch einen laufenden Fernsehapparat auf die Straße hinaus. Während er die Mutter sämtlicher Besucher brüllend als Nesthure beschimpfte sowie sie selbst als nichtsnutzige Galgenvögel mit ihren Schmalspurwichservideos, unter denen kein einziges anständiges, vorzeigbares Programm zu finden sei, nur Schießereien und Gewalt, was er ab nun nicht mehr bereit sei zu ertragen. Warum man denn nicht lieber Scheikoski höre. An diesem Punkt schlug meist der Fernseher unten auf; ein großer Knall, dann Stille.

Solche Intermezzi waren keine Seltenheit, ich würde sie trotzdem nicht als alltäglich bezeichnen wollen. Auf einen lauthalsen Frühling folgte ohnehin ein ereignisloser Frühsommer, wochenlang waren nur Weinen, Instrumentenklappern und leises Wehklagen zu hören, wie in einer Fleischfabrik oder einer Privatklinik. Unzweifelhaft gingen viele weißbekittelte Typen bei ihnen ein und aus, und auch der Nachbar selbst schien so etwas wie ein Fleischer oder ein OP-Assistent aus dem Militärkrankenhaus zu sein, jedenfalls soweit ich das im Vorbeihuschen hinter dem Milchglasfenster erkennen konnte.

Zu Herbstbeginn "nahmen sie ihren alten Lebensstil wieder auf", denn auch wenn inzwischen viele ausgezogen waren, waren genug hiergeblieben für "Bisniß und drekkige Politik", wie es unser armer Hausmeister formulierte, bevor er im Februar in einer psychiatrischen Anstalt in den Bergen verschwand. Er hatte angeblich an einem einzigen Wochenende neunzehn frische Leichen im Liftschacht gezählt sowie eine große Menge Straußen- und Pinguinklein.

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Obwohl ich das ständige Beben und Balzen, das leidenschaftliche gesellschaftliche und Privatleben meiner Nachbarn schon gut kannte mit ihnen selbst geredet hatte ich noch nicht einmal auf der oberflächlichen, nachbarschaftlichen Ebene, es gab dafür auch keine Gelegenheit, Lift und Treppenhaus benutzten sie nur äußerst selten. Die seltsame Atmosphäre, die daunenwarme Luft, die ihnen hinterherwirbelte, war viel faßbarer als sie selbst. Unter anderem war ich deswegen so überrascht, als an einem Herbstabend meine Nachbarin höchstpersönlich bei mir klingelte, mit einigen bamstigen Neffen und einem Servierwagen an der Seite.

Sie leierte ihren Namen herunter und bat um Sorrylein für die Störung. Ach wo, sagte ich, wo denken Sie hin? Sie stören doch nicht. Ich war überrascht, wie ruhig ich war, als würde ich fliegen oder tauchen, meine Stimme klang offen, leger, griffig: Verfügen Sie über mich, sagte ich zum Persönchen, wie kann ich behilflich sein? Es war erst kurz nach Mitternacht, durch das gebrochene Fenster des Treppenhauses zog in einem breiten Streifen milchiger Nebel herein, auf dem Dach loderten Fackeln, und von weither klang immer wieder verhallend Nationtechno.

Die Sache sei die, sagte meine Nachbarin und wurde rot, also es ginge darum, daß sie fragen möchte, weil sie stecken gerade mitten in einer besonderen und sehr kniffligen & Brütung, und nachts sind sämtliche Scheißmarkengeschäfte geschlossen, ob ich nicht ganz zufällig die Mikrowelle ausleihen könnte, es muß auch kein Turbo sein. Wenige Tage, und ich bekomme sie total desinfiziert zurück, selbstverständlich ausschließlich für eine ordentliche Ausleihgebühr, ich solle ruhig sagen, was es mache, beziehungsweise wieviel, aber wenn ich wolle, kaufe sie mir das Gerät auch auf der Stelle für den Neupreis ab, die Familie gehe schließlich vor. Allerdings möchte sie mich bitten, dem Ihrigen nichts davon zu sagen, dieser habe genug um die Ohren mit der Welttaubenschaft, warum ihn auch noch damit belasten, Sie verstehen mich.

Teil 2