Vorgeblättert

Lajos Parti Nagy: Meines Helden Platz. Teil 3

03.02.2005.
Direkt gelauscht habe ich nicht, das würde ich so nicht sagen. Das heißt, es war nicht direkt erforderlich, das Ohr oder ein Diktaphon an die Wand zu pressen, meine Nachbarn waren ziemlich laut, und wenn mich das eine oder andere interessantere Satzfragment oder die Wortwahl aufhorchen ließen, reichte es, das Radio oder den Fernseher leiser zu stellen, und schon konnte man alles hören, vom leisesten Gurren bis zum kleinsten Aneinanderstoßen der Kropfsteine.

Denke ich heute an diesen Herbst und den frühen Winter zurück, fällt mir überhaupt nicht nebenbei ein, daß ich die Stimmen, obwohl die Tubitzas nebenan wohnten, immer ein wenig von oben her hörte und seltsamerweise auch noch gestreut, mit Echo, als kämen sie aus einer Kuppel oder einem in den Himmel gebohrten Brunnen. Neurochirurgen und Radiotechniker wissen genau, was ich meine, wenn ich sage, meine Nachbarn sprachen reichlich "von unter Wasser".

Was natürlich - und nicht zum ersten Mal - die Frage bezüglich des Status meiner Erlebnisse aufwerfen könnte, aber ich werfe sie trotzdem weiterhin nicht auf. Ich will keine Zeit verplempern; damals interessierte es mich nicht, und heute bin ich nicht mehr in der Lage zu entscheiden, über was oder wen mein weinerlicher, ungehaltener Nachbar eines Spätnachts folgendes sagte: "Na und, was denn?, was, verfickte Taubenscheiße, ist schon groß passiert? Drei Penner saßen auf dem Budapester Freiheitsplatz, Blick zum TV. Sie waren groß wie sie eben groß waren. Was zum abgelutschten Fummel soll daran Gefährdung gewesen sein?"

Darauf folgte jenseits der Wand ein verworrenes und meinen Notizen zufolge "nicht rekonstruierbares" Telefonat, mein Nachbar kirrte, bulikte, klopfte wild auf den Hörer, brüllte Sachen wie "der Zentralrat kann mich mal an der Kloake lecken", dann, nach einer kleinen Pause, "in dem Fall solltest du auch nicht vergessen, mit wem du redest, Kumpelfreundchen!". Schließlich sagte er überraschend leise und ruhig zu seinem Streitpartner: "Ist gut, Kollege Morgenistzahltag, ich hab verstanden, aber einverstanden bin ich nicht", und knallte den Hörer auf.

Über die anderen Hausbewohner äußere ich mich nicht, aber was mich anbelangt, ich konnte lange nicht einschlafen, denn mein Nachbar entledigte sich der aufgestauten Spannung außerordentlich lange und frustfröhlich. Zuerst ließen sie mit dem zwischenzeitlich herbeigeströmten Freundeskreis einfach nur die Sau raus, brüllten unter Synthesizerbegleitung fünfzigmal ihren Marsch mit den Titel "Die bufti Gene", anschließend kneteten sie schuhgroße Schneemänner, schmissen sie in den Luftraum der Straße hinaus und versuchten, sie aus verschiedenen Waffen zu treffen.

Gegen halb vier in der Früh hörten sie mit der Ballerei auf, und zwar von sich aus, mehr noch, sozusagen ausgesprochen aus Kulanz, denn umsonst war vorher die Streife gekommen, die Adlerboys konnten den Polizisten eine gültige Erlaubnis für Zielschießen mit Schalldämpfer vorlegen. Aber sei s drum, sagten sie, wenn es den großohrigen Mitbewohnern gegen den Strich geht, wollen sie hier mal nicht einen auf radikal machen. Ehrenhalber ließen sie auch den diensthabenden Streifenpolizisten "Den Genen was verbieten kann man nicht" mitsingen und begaben sich zur Ruhe.

*

Vielleicht lag es am Schnee, am ersten Schnee, der sich einer verhuschten Malerbrigade gleich seit dem Morgen durch Budapest arbeitete, am nächsten Tag jedenfalls schrieb ich, inspiriert vom Telefonat meines Nachbarn, die folgende Glosse und ließ sie in einer mir nahestehenden Wochenzeitung abdrucken, derselben, auf deren Hof vor kurzem unbekannte Täter Handgranaten geworfen haben:

Drei Obdachlose saßen am Budapester Freiheitsplatz, ihr Blick hing am TV.

An der Ecke vor der amerikanischen Botschaft traten wie gewohnt Polizisten mit Maschinengewehren auf der Stelle, pusteten in den Plastikkaffeebecher vor ihrem Mund und starrten in den Himmel, in des Herrgotts verrieselten, traurigen Bildschirm. Die Erscheinung wurde das erste Mal um 9:30 Uhr von Polizeiobermeisterin Henrietta Kis registriert, und zwar dergestalt, daß sie, diesmal in einer Angelegenheit privater Natur, einen Blick in den Bombenprüfspiegel warf. Mit Freude stellte sie fest, daß das Auge, mit dem sie vorgestern nacht gegen den Punchball im Schlafquartier gelaufen war, schön verheilte. Warum nicht Punchball, zumindest sagte sie das ihren Kollegen, sie sei im Wohnheim dagegengelaufen, als sie unterwegs zum Waschraum war, na klar, warum nicht, wenn sie nötig mußte? - die Wahrheit hätte sowieso keiner geglaubt.

Sie untersuchte mit hoch hinaufgekniffenem Lid die winzige, mittelmäßig blutige Sülze und sah mit Wohlgefallen, daß sich die Häßlichkeit verzogen hatte, und was noch da war, hätte sie sich ebensogut an einem Discosamstagnachmittag aufschminken können, obwohl nur ein geschminktes Auge immer verdächtig ist. Mit einem Wort, sie war zufrieden und hätte sich gerne länger betrachtet, aber ihre wohltuende Beobachtung verzwergte nun im wahrsten Sinne des Wortes vor dem Schauspiel, das sich ihr bot.

Ohne ihre Kameraden durch Zuruf zu informieren, drehte sich das mittelgroße, kurzbeinige Geschöpf um und steckte sich eine Zigarette an, dank der gesprungenen Lippe heute erst die vierte. Sie schüttelte das Streichholz aus und kniff sich heimlich in den Unterarm; vergebens. Sie holte ein paarmal leise tief Luft und fragte schließlich flüsternd ihre beiden wortkargen Kollegen, ob die Kameraden dort drüben nicht auch etwas Außergewöhnliches sähen? Diese ließen blaß den ausgekühlten Kaffee in den Bechern glucksen, und ihre offenen Münder verrieten alles. Doch, verflixtundzugenäht, ehrlich gesagt, sehen sie es auch, sie dachten bloß bis jetzt, daß ... daß sie nicht richtig sehen, daß sie vom Schnee geblendet sind. Aber scheinbar sind sie nicht geblendet, sondern hier ist etwas oberfaul.

Sie repetierten die Maschinengewehre und gingen in den Kniestand, so wie sie es gelernt hatten.

"Es könnt noch sein, daß es so Reklamedinger sind", sagte der eine. "Heißluftballons, zum Beispiel, man bläst sie so großförmig auf, und dann trinken sie Nescafe oder so. Instantsuppe."

"Das hätte man aber anmelden müssen, weil das ist eine Luftraumaktivität", sagte der andere. Sie froren am Knie, außerdem wirkten sie vollkommen lächerlich an diesem stillen Vormittag, im Schneefall. Insbesondere da diese dort drüben ruhig vor dem sowjetischen Kriegsdenkmal auf der Bank saßen.

Es verging etwas Zeit, bis man einige Fragen des Sprachgebrauchs geklärt hatte. Was es denn sei, was sie da sähen und mit was für Worten sie es offiziell beschreiben könnten. Schließlich erhielt die Entdeckerin, Obermeisterin Henrietta Kis, den Befehl, über Funk die Zentrale anzurufen.

"Obdachlose", meldete sie. "Drei obdachlose Bürger." "Na und, Goldstück", sagte eine nervöse, schlüpfrige Stimme, "na und?"

"Die Sache ist nur so, daß sie zirka so groß sind wie die Botschaft. Oder die, wie heißt die noch gleich, die Nationalbank ... Zumindest im Sitzen. ... Ja, im Sitzen, glauben Sie mir, da steht eine riesige Bank, das heißt, sie ist mitgewachsen, völlig maßstabsgerecht ..."

Henrietta Kis hätte gerne weiter erklärt, aber die Zentrale unterbrach sie, der Diensthabende wollte einen "gewissen Lajos" sprechen.

"Ihr habt schon wieder zugelassen, daß sie trinkt", brüllte die Stimme ins Ohr des blassen Polizisten.

"Melde, wir haben sie überhaupt nicht gelassen, und diese Dingse sind wirklich hier", sagte der Polizist. "Und wir bitten um Befehl oder Maßnahmen, aber am besten wäre ein Kommandowagen, wenn der rauskommen könnte."

An dieser Stelle tönte sehr Häßliches aus dem Walkietalkie, und die Zentrale unterbrach die Verbindung. Dabei ist "Kommandowagen" so ein schönes, weiches winterliches Wort, wie Maronibraterei oder Ohrenschmalz. Wie Schlittenglocken.

"Die da drin sagen, wir sind besoffen", teilte Gewisser Lajos trocken mit und stand auf. "Aber was für Maßnahmen es geben soll, das haben die Scheißer nicht gesagt. Ausweiskontrolle, zum Beispiel. Oder in wem seinen Zuständigkeitsbereich das jetzt gehört."

Hinter den Fenstern der Botschaft standen attraktive Männer mit intelligenten Gesichtern, Blitze blitzten, handtellergroße Kameras surrten. Goldfarbene Frauen setzten braune, rote und gelbe Kinder auf die Fensterbank, bis, als geschehe es auf Kommando, alle auf einmal verschwanden und sämtliche Rolläden heruntergelassen wurden.

Teil 4