Vorgeblättert

Leseprobe zu Abbas Khider: Der falsche Inder, Teil 3

In den ersten Jahren meines dritten Lebensjahrzehnts floh ich vor dem unendlichen Feuer der Herrscher und vor der erbarmungslosen Bagdader Sonne. Mein Weg führte mich durch verschiedene Länder. Ich lebte einige Zeit in Afrika, hauptsächlich in Libyen, so dass sich viele Wörter der libyschen Umgangssprache mit meinen irakischen vermischten. Und das brachte auch schon das nächste Problem mit sich: Ich hielt mich eine Weile in Tripolis auf, wo ich einige Iraker in einem Cafe an der Strandpromenade traf. Als ich mich vorstellte, erwiderten sie empört: »Du willst uns wohl für dumm verkaufen? Du bist kein Iraker! Dein Aussehen passt nicht und deine Art zu reden auch nicht!« Als ich dann später nach Tunesien kam, war das ganz anders. In der Hauptstadt merkte ich vom ersten Tag an, dass mir die Frauen folgten wie Fliegen dem Marmeladenbrot. Im Zentrum, in der Bourguiba-Straße, schauten mir eine Menge Mädels kokett nach und riefen sich ungeniert zu: »Hey, schaut euch diesen hübschen Inder an!« Einen Monat lang hatte ich mit den schönsten Frauen in den Straßen von Tunis einen Riesenspaß. Ich gab mich als indischer Tourist aus, der einen Stadtführer suchte. So kam ich auch für eine Weile zu einer kurzen Liebe. Sie hieß Iman und betrachtete meine Haare als das achte Weltwunder.
     In Afrika hatte niemand ein Problem mit meinem Aussehen. Ich war nicht blond, und die Kinder kreisten nicht um mich herum und klatschten, wie bei europäischen Touristen. In Afrika war meine Hautfarbe ein Vorteil. Im Vergleich zu den Einheimischen betrachteten mich einige sogar als Weißen. Doch alles andere, das ganze Leben an sich, das war überhaupt nicht einfach, weshalb ich bald an eine große Reise Richtung Europa dachte. Die war jedoch nur auf illegalen Wegen möglich.

In Europa aber brachte mir mein Aussehen wieder mehr Schwierigkeiten ein. Es fing in Athen an. Zunächst hatte ich dort glücklicherweise noch keine großen Probleme. Ich musste kaum Angst haben, von der Polizei festgenommen zu werden. Es gab so viele Flüchtlinge im Land, dass man eine Unzahl von Gefängnissen benötigt hätte, um alle einzusperren. Trotzdem sammelte die Polizei ab und zu einige von ihnen ein, wohl um wenigstens den Anschein zu erwecken, das Flüchtlingsproblem in den Griff bekommen zu wollen. Einmal hatten sie dabei auch mich erwischt. Ich hockte ein paar Tage im Gefängnis, bis sie für mich einen Flüchtlingsausweis ausgestellt hatten.
     Doch am letzten Tag passierte etwas Tragisches: Ich musste aufs Klo. Ein Polizist begleitete mich dorthin. Als ich den Toilettenraum wieder verlassen wollte, versperrte er mir den Weg und begann, voller Wut auf mich einzudreschen. Ich begriff nicht, was los war, und fing aus Leibeskräften an zu schreien. Von diesem Lärm angezogen, rannten ein paar andere Polizisten herbei und retteten mich vor den Schlägen meines wild gewordenen Begleiters. Einige schimpften und stritten mit ihm. Es war ein Geschrei nach griechischer Art. Ich verstand zwar kein Wort, vermutete aber, sie seien zornig auf ihn, weil er auf mich losgegangen war. Plötzlich kauerte sich der wütende Polizist, der mich verprügelt hatte, auf den Boden, begann sich selbst ins Gesicht zu schlagen und wie ein Schlosshund zu heulen. Mir kam das alles absurd vor, und ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Ein blonder Polizist brachte mich in meine Zelle zurück. Dort saß ich nun, fertig mit der Welt und maßlos enttäuscht und traurig. Ich konnte nicht glauben, dass man auch in Europa grundlos von der Polizei getreten und geschlagen wurde. Das hätte ich mir nie vorstellen können. Was für eine böse Überraschung! Am Abend öffnete sich die Tür und ein Offizier in schmucker Uniform betrat meine Zelle. Er hatte massenweise Sterne und sonstige Abzeichen auf Brust und Schultern. Er sprach Englisch und erklärte, der wütende Polizist sei so außer sich geraten, weil er mich für einen pakistanischen Drogendealer gehalten habe, den die griechische Polizei seit längerer Zeit suchte. Der wütende Polizist habe seinen jüngeren Bruder verloren - Überdosis. Und weil er mich für diesen Drogendealer gehalten habe, sei die Wut in ihm hochgekommen, so dass er jegliche Kontrolle über sich verloren habe. Der Offizier zeigte mir das Foto des Dealers. Unglaublich! Das war wirklich kaum zu fassen! Er sah mir tatsächlich so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Ich war selbst verwirrt.
     Nach einer halben Stunde kehrte der inzwischen nicht mehr wütende Polizist zurück und zeigte mit dem Finger auf mich.
     »Are you from Iraq?«
     »Yes!«
     »Sorry!«
     Er schloss die Tür und ging. Nach fünfzehn Minuten kam ein anderer Polizist, gab mir einen Ausweis, begleitete mich zur Haupttür und sagte: »Go!«

Ich verließ Griechenland mitsamt seiner Polizei und floh nach Deutschland. Aber in Deutschland ging es genauso weiter wie in Griechenland, nur auf andere Art und Weise. Aufgrund der übereifrigen Dienstbeflissenheit der deutschen Polizei nahm meine illegale Reise ein jähes Ende. Und zwar mitten in Bayern. Eigentlich wollte ich weiter nach Schweden. Ich hatte von vielen Flüchtlingen gehört, man bekäme in Schweden eine staatliche Unterstützung, damit man die schwedische Sprache lernen und weiter an der Universität studieren könne. So etwas gebe es in Deutschland nicht. Als ich mit der Bahn von München nach Hamburg wollte und von dort über Dänemark nach Schweden, hielt der Zug im Bahnhof einer kleinen Stadt namens Ansbach, wo zwei bayerische Polizisten einstiegen. Sie fragten keinen der vielen blonden Reisenden nach ihrem Ausweis, sondern kamen direkt zu mir. Lag es an meiner indischen Erscheinung?
     »Passport!«
     Ich: »No!«
     Sie nahmen mich fest. Im Polizeirevier verursachte mein Aussehen wieder ein Drama. Die Beamten glaubten mir einfach nicht, dass ich ein Iraker sei. Sie hielten mich für einen Inder oder Pakistaner, der sich als Iraker ausgab, um sich eine Asylberechtigung zu erschleichen. Sozusagen ein Betrüger. Die Iraker hatten damals wegen der Diktatur in ihrer Heimat in Deutschland das Recht auf Asyl. Viele Bürger anderer Staaten aber nicht, wie zum Beispiel Inder oder Pakistaner. Es dauerte lange, bis ein Übersetzer und ein Nürnberger Richter zu mir kamen, um mich durch die verschiedensten Fragen zu testen. So wollten sie unter anderem von mir wissen, wie viele Kinos es im Bagdader Zentrum gäbe, und ich musste einige davon namentlich aufzählen. Die Antwort war für mich natürlich ein Kinderspiel, und meine irakische Herkunft konnte schnell bestätigt werden. Mein Ziel Schweden musste ich schließlich aber aufgeben. Die deutsche Polizei hatte meine Fingerabdrücke genommen und erklärte mir, diese würden nun an alle Asylländer weitergeleitet. Deshalb könne ich nun nirgendwo anders Asyl beantragen. Nur in Deutschland. Jeder Versuch, Deutschland zu verlassen, sei eine Straftat. Seitdem hocke ich also hier.
     Wenn es nur bei solchen Dingen bliebe, wäre das Leben wirklich erträglich. Es kam aber viel schlimmer. Viele Leute hier hatten einfach nur Angst vor mir. Ja, Angst! Ich habe niemanden verprügelt, noch habe ich mich über Nacht der Al-Qaida oder gar der CIA angeschlossen. Es begann mit dem 11. September 2001. Den in Europa lebenden Arabern verging nach diesem Tag das Lachen. Die Medien sprachen über nichts anderes als die Bösen aus Arabien. In dieser heißen Zeit flog ich für ein paar Tage von München nach Berlin. Die alte Dame auf dem Nebensitz, deren Akzent man unschwer entnehmen konnte, dass sie aus Bayern stammte, lächelte mich an:
     »Sind Sie Inder?«
     Ebenfalls lächelnd antwortete ich:
     »Nein, ich komme aus dem Irak.«
     Das Lächeln auf ihren Lippen erstarrte und verwandelte sich in eine angstverzerrte Grimasse. Dann wandte sie hastig ihren Blick von mir ab. Die gesamte restliche Flugzeit klebte sie farb- und tonlos neben mir im Sitz. Es schien, als hätte sie gerade den Leibhaftigen gesehen. Ein weiterer Ton von mir, und sie hätte wohl augenblicklich einen Herzinfarkt erlitten!

Wenn ich mich nun daran zurückerinnere, welche Namen man mir zwischen Ost und West wegen meines Aussehens nachgerufen hat, dann scheint das irgendwie alles mit Indien zu tun zu haben. Indien, wo ich in meinem ganzen Leben noch nie war und das ich überhaupt nicht kenne. Die Araber nannten mich den »irakischen Inder«, die Europäer nur »Inder«. Es ist sicherlich erträglich, Zigeuner, Iraker, Inder oder gar ein Außerirdischer zu sein, wieso auch nicht! Aber es ist unerträglich, dass ich bis heute nicht genau weiß, wer ich wirklich bin. Ich weiß nur, ich bin »von vielen Sonnen der Erde gebrannt und gesalzen«, wie meine bayerische Geliebte Sara immer behauptet, und ich glaube ihr.
     Inzwischen ist mir aber eingefallen, dass es doch eine konkrete Beziehung zwischen mir und Indien geben könnte, nämlich meine Großmutter. Und das hat einen historischen Hintergrund: Als die Engländer zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in den Irak kamen, waren sie gleichzeitig Besatzungsmacht in Indien. Demzufolge brachten sie eine Menge indischer Soldaten mit, die im Süden unseres Landes mit seinen ausgedehnten Palmenwäldern ihr Lager aufschlugen. Wer weiß, vielleicht ist meine aus dem Südirak stammende Großmutter einst einem solchen Soldaten im Wald begegnet. Und demzufolge bin ich vielleicht das Produkt der Vereinigung zweier englischer Kolonien.

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