Vorgeblättert

Leseprobe zu Anne Carson: Anthropologie des Wassers. Teil 1

20.10.2014.
SEHR SCHMAL

Einführung in Nur ein Rausch



Wasser ist das Beste.
Pindar

Erinnert wird, was vergangen ist.
Aristoteles

Nein, so eine ist sie nicht.
Mein Vater

Sicher ist die Welt voll einfacher Wahrheiten, die man erhält, indem man klare Fragen stellt und sich die Antworten notiert. »Wer ist diese Frau da?«, hörte ich eines Nachts meinen Vater meine Mutter fragen, als ich die Treppe zur Küche herunterkam. Ich brauchte einen Moment, bis ich verstand, dass er mich meinte - nicht, weil ich damals noch nicht gewusst hätte, dass er den Verstand verlor, was längst offensichtlich war, sondern weil er »Frau« sagte.
     Ich war nie »Frau« für ihn gewesen. Auf halber Treppe hielt ich inne. Erinnerte mich an eine Nacht, als ich zwölf oder dreizehn war. Damals kam ich dieselbe Treppe herunter und hörte ihn in der Küche zu meiner Mutter sagen: »Nein, sie wird nicht so wie die!«, mit einer Art Glühen in der Stimme. Es war das letzte Mal, dass ich dieses Glühen hörte. Denn kurz darauf wurde ich zu meinem Schrecken doch »wie die« - im Sinne der chinesischen Redensart: »Früh eines Morgens war Blut im Wassertrog.«
Ich rede nicht gerne über Blut oder über Begehren. Das Wort »Frau« habe ich kaum je benutzt. Doch diese Dinge gehören zu den Naturtatsachen unseres Lebens, und ich nehme an, in unserem steten Ringen gegen das Vergessen müssen wir die Zeichen immer neu ausdeuten. Tatsächlich hat mein Vater mich die ganze Jugend über nicht sonderlich gemocht. Aber ich verstand, dass ich ihn weniger verärgerte, wenn ich kein erkennbares Geschlecht hatte. Wut erschöpfte ihn so. Ich machte meinen Körper hart und flach wie die Rüstung der Athene. Kein Geheimnis unter meiner Haut, keine verräterischen Tropfen auf der Schwelle. Und eines Tages fand ich heraus - eine Entdeckung, die ich im Übrigen den Entbehrungen des Pilgerns verdanke -, dass ich die Naturtatsache »Frau« ganz unterdrücken konnte. Ich tat es. Leider war er damals mit dem Kopf schon weit woanders.
     Lange Zeit lebte ich allein.
     Was mir dann geschah, sieht aus wie eine gewöhnliche Liebesgeschichte, kaum verschieden davon, nur besser dokumentiert. Liebe ist, wie du weißt, ein erschütterndes Ereignis. Ich wählte einen anthropologischen Zugang.
     Noch heute fällt es mir schwer einzugestehen, wie sehr die Liebe mich umwarf. Lange hatte ich mich vor allem Unverhofften geschützt, jetzt plötzlich war ich ein Rad, das bergab rollt, ein Licht, das auf eine Wand geworfen wird, Papier, das in einen Graben geweht wird. Ich war außer mir, meiner Sprache und Gewohnheiten. So konnte er bei seinem ersten Besuch direkt ins hintere Zimmer gehen und beim Zurückkommen sagen: »Du hast ein sehr schmales Bett.« Einfach so. Ich musste lachen. Ich kannte ihn kaum. Ich wollte ihm sagen: Wo ich herkomme, sprechen die Menschen nicht über Betten, außer über Kinderund Krankenbetten. Hab ich dann doch nicht. Verliebte sind schrecklich. Man kann zusehen, wie sie einander behungern wie prähistorische Wölfe; man kann zusehen, wie etwas zwischen ihnen, vielleicht eine Wurzel oder eine Seele, 60um sein Leben kämpft, es flackert auf, dann erschlagen sie es. Die Verschiedenheit schlägt ihnen die Knochen aus. Knochen können so zart sein. »Ja, es ist sehr schmal«, sagte ich. Und just in diesem Moment fühlte ich, wie etwas die Innenseiten meiner Beine herabrann. Ich hatte dreizehn Jahre nicht geblutet.
     Liebe ist eine Geschichte, die sich von selbst erzählt - zum Glück. Ich mag Romantik nicht und habe kein Talent für poetische Ergüsse - aber in der Zeit, als ich verliebt war, füllte ich zu meiner Verwunderung ganze Hefte mit Daten. Da war etwas, das ich mir erklären musste. Ich brach auf wie in ein fremdes Land, notierte Verhaltensweisen, transkribierte Idiome und jagte wie ein Anthropologe nach seltenen, unerforschten Verwandtschaftsbezeichnungen und ihrem Gebrauch. Aber das Verwandtschaftliche zuckte wie ein Froschschenkel und lag dann reglos da. Ich erfuhr, dass die Verwandtschaft zwischen einem Mann und einer Frau dramatisch, umfassend und großartig sein kann und lauter verschiedene Sprachen besitzt. Die bloß keine Stimme finden. Ergibt das Sinn?
     Eines Nachts - in dem Winter, als sich meinem Vater der Kopf zu trüben begann - saß ich am Küchentisch und packte Weihnachtsgeschenke ein. Ich sah ihn vorsichtig mit nach vorn gestreckten Armen die Treppe herunterkommen. Sprache und Stimme lagen entzweit in seinen Händen, und als er anfing zu sprechen, fielen sie zu Boden und kullerten auseinander wie Glockenschwengel. »Was ist mir passiert, mir dir dem wem? Da war ein Reh. Nein, das meine. Wie viele gab? Nein. Wie? Was hast du mit den Dings gemacht, die schmierten, nicht schmierten, woher wohl? Du hattest ein Konto, und eins flog auf. Nicht so. Nein? Ich. Nein. Wie? Wie?« Unvermittelt setzte er sich auf die unterste Stufe und sah mich an, ohne die geringste Ahnung, wer um alles in der Welt ich war oder wie er mit mir hierher gekommen war oder was als Nächstes passieren könnte. Nie habe ich ein so nacktes Menschenwesen gesehen. Sein Gesicht das Gesicht eines Vogelkükens, in junges Abendgrün gehüllt, von wildem Schrecken gerupft.
     Manchmal gelangst du genau dort an eine Kante, wo sie abbricht.
     Der Mann, der mein Bett schmal nannte, war ein ruhiger Mensch, aber er stellte gute Fragen. »Sicher liebst du mich auf deine Weise«, sagte ich eines Nachts zu ihm, als wir, kurz bevor es hell wurde, in dem schmalen Bett lagen. »Wie sollte ich dich denn sonst lieben, etwa auf deine Weise?«, fragte er. Ich denke immer noch darüber nach.
     Mann ist dies und Frau ist das, Männer tun dies und Frauen anderes, eine Frau will eines und ein Mann etwas anderes, und in all den Jahrhunderten hat offensichtlich niemand herausgefunden, wie das gehen soll. »Jeden Tag kam er vom Feld heim und schmiss seinen schmierigen alten Hut auf mein sauberes Tischtuch, von dem wir essen wollten - Schweißband runter vom Tisch!«, sagt meine Mutter, immer noch wütend, und wie lange ist er schon tot? Jahre.


NUR EIN RAUSCH

Über die Verschiedenheit von
Frauen und Männern. Ein Versuch

China City, Indiana
Um drei Uhr früh rattern wir unter einem goldenen Sichelmond durch die Geisterfelder von Indiana, Nebel schlägt in handgroßen Schwaden gegen die Windschutzscheibe, und während Ray Charles im Radio singt, sinniere ich, dass die Verschiedenheit von Frauen und Männern ein Ozean ist, endlos. Du kannst das gegenüberliegende Ufer erreichen, so du Buße tust, sagt eine alte chinesische Weisheit. You turned my night into day, you made my dreams come true, singt Ray Charles, you thrill you. Du, mein Rausch. Wir sind seit dem Morgen unterwegs, seit den klargrünen Hügeln Virginias, seit dem Gebirgspass, wo einst, in einer tintenschwarzen Nacht des Jahres 1863, General Jackson von seinen eigenen Leuten erschossen wurde. Kreuzfeuer. Nach einem Kreuzfeuer gibt es kaum etwas zu sagen. Was bedeutet Liebe für dich?, ist eine Frage, die zu stellen mir nicht gelingt, dunkle Rauschmeilen geistern vorüber und Mutter Erde dreht sich langsam Richtung mittsommerlichem Meteoritenschwarm. Wenn ich im Dunkeln die Kontur seines Gesichtes ansehe, dämmert mir etwas. Du. Rausch. Du.


Indiana, Route 40
Letzte Nacht, als wir in einem Unwetter durch West Virginia fuhren, dachte ich über das Konkubinat nach. Stunde um Stunde ging es in Schleifen bergab, Berg um Berg hinunter und drum herum, durch Grubenstädte, die im Blitz schroff und weiß auf­ flackerten, wie die Draufsicht auf einen einzigen riesigen Unfall. Manchmal durften bis zu dreihundert Mädchen aus der einfachen Bevölkerung Pekings auf einmal in die Verbotene Stadt, erklärte er mir. Alle zwischen neun und vierzehn. Die kaiserliches Eigentum wurden. Die, obwohl sie für Flitter gehalten wurden, weiter betörend dufteten. Hinten, auf der Rückbank, Wörterbücher und Tonbänder mit Sprachaufnahmen. Er ist Anthropologe, ein Chinaforscher, und er will auf dieser Reise durch Amerika sein klassisches Chinesisch aufbessern. Eine Sprache, die, soweit ich das beurteilen kann, ausschließlich aus Weisheit besteht. Zum Beispiel: In der Liebe bekommen Frauen, was sie wollen, Männer, was sie brauchen. Mag sein. Wir waren seit gut einem Jahr zusammen, und ich wollte nur, dass das Ziehen aufhört. Etwas zog und zog. Es zog an meinen Armen. Zog an meinen Augen. An meinen Lungen. Zog an dem Schweiß auf meinen Waden. Es zog Nachts, zog den ganzen Tag, ließ nicht nach, verglühte nicht, brannte nicht, eiterte nicht, materialisierte sich nicht, was zählt schon ziehen? »Es ist nur Liebe«, sagte er, lachte und knöpfte meine Kleider auf. Unser Fleisch nannte er »diesen Luxus«. »Kein Luxus hält ewig«, sagte ich, und er darauf: »Wir haben sowieso nicht viel Zeit.« Liebe machte ihn so glücklich, dass ich ihn den Kaiser von China nannte. An manchen Stellen versickerte der Luxus und ich wartete umsonst. Ich sah etwas aufblitzen, verlor es wieder.


Lachine, Quebec
Vor gut einem Jahr war er in der Tür meines Büros erschienen. An einem donnerverdrießlichen Herbstnachmittag, ich hatte alle Lichter an. Hatte, glaube ich, zuvor ein Mal auf einem Fest mit ihm gesprochen. Er kam herein. Lächelte. Setzte sich. Redete über chinesische Kunst. Die Tür hinter ihm stand offen, der Flur leerte sich, Dunkelheit begann. Es wird eine Weile dauern, bis ich mich an diese kratzige Stimme gewöhnt habe, dachte ich. Irgendwann sagte ich, ich müsse nach Hause. Er stand auf. Lächelte. Ging. Zwei Tage später war er wieder da. Schloss die Tür hinter sich. Ging um meinen Schreibtisch. Lächelte. Diese kratzige Stimme. »Ich bin nur vorbeigekommen, um dich aufzuküssen«, sagte er. Ich musste lachen, was genau bringt eine Frau zum Lachen? »Dich aufküssen«, was für ein skurriler Ausdruck. Er traf mich wie ein Lichtteilchen aus dem All. Ein Jahr später lachte ich wieder, als er vorschlug, wir sollten mit dem Wagen quer durch Amerika bis nach Los Angeles fahren und unterwegs in Naturschutzgebieten zelten. Sprache lebt in der Erneuerung, ich bin dabei. Nimm Worte mit zweierlei Maß und drück sie zusammen wie Wundlippen. Kaiser, Konkubine, Feuer, Papier. Liebe, über alle Maßen, und überhaupt.


Oriole, Indiana
In der granitschwarzen Regennacht Indianas höre ich das Rauschen der uralten Bäume, der Klangstrom räubert vorbei. Ergreift mich. Ich liege mit vor der Brust verschränkten Armen auf dem Rücken, was mir beim Denken helfen soll, der Kaiser schläft neben mir. Die Nacht über kauern die Waldvögel eng beisammen; am Morgen ist nicht mehr klar, wer der Feind war. Durch ein Loch im Zeltdach tropft es auf meine Stirn, Punkte auf einer Liste. Ich bin schlecht im Feuermachen. Schlecht im Zelteinpacken. Schlecht im Autofahren. Schlecht mit Ästen, mit Schlangen. Schlecht im Kaffeekochen. Schlecht an der Wäscheleine. Schlecht mit Messern. Schlecht im Wasserholen. Im Auspacken und Einpacken. Und schlecht im Suchen von Kurzwellensendern. Die Anthropologie des Zeltens ist ein Thema für Hartgesottene. Man kann sie mindestens bis zum Sommer des Jahres 1553 zurückverfolgen, als der Hades-Kaiser von China seinen ganzen Hof, samt dreihundert Palastdamen, auf 1110 Tragen lud und in die Gegend des Tao-Flusses reiste, um die Landschaft zu erkunden. Er teilte mit seiner damaligen Gefährtin, der vierzigjährigen Lady Cheng, die Freude am Gedruckten - allein fast 100 Tragen mit Gedichten, Essays, Heilkunstbüchern, Dramen, Kriminalgeschichten und Pornografie. Von des Kaisers eigenem Pinsel existieren vier kalligrafische Blätter darüber, was eine Frau zu einer Frau macht, wann sie ihre Lippen öffnet und ihre Augen schließt. Eine wunderschöne Papierrolle, im trockenen Stil der Zeit gehalten.
     Dämmerung. Der Kaiser dreht sich im Schlafsack. Schlägt die Augen auf. Lächelt und sagt leise »Fick mich«. Schlecht in der Kunst, Ratten zu erschlagen, aus Angst, die Jadeschale daneben zu treffen, so eine chinesische Weisheit. Lady Cheng liebte die Kartografie.


Lachine, Quebec
Begehren und begehrt werden, was könnte einfacher sein? Eine Frau kann keine einfache Geschichte erzählen, sagte mein Vater gern. Nun, so sieht es auf dem Video aus. Das Begehren reist dort in das stockdunkle Land einer fremden Seele, an jenen Ort, wo gerade die Klippe abbricht. Kaltes Licht, Mondlicht, fällt darauf.
     Es war gerade Vollmond, als ich vor einem Jahr das erste Mal zu ihm nach Hause ging. Ich trug ein graues, durchgeknöpftes Kleid und aß Hühnchen, ohne ihm zu sagen, dass ich noch nie zuvor im Haus eines Mannes gewesen war. Danach reinigte er jeden Topf sorgfältig. Stand am Becken und spülte jeden Topf. Stand dort und trocknete jeden Topf. Und sagte, sich umdrehend. »Ich mag dieses Kleid.« (Warum?) »Weil man es auf so viele Arten ausziehen kann.«
     Wer sich für einen Schatz hält, wird bald davon geschieden, so eine chinesische Weisheit. Was macht das Leben zu einem Leben, zu mehr als einer einfachen Geschichte? Ruhelos gleiten spitze Teile die Mauer entlang.

zu Teil 2