Vorgeblättert

Leseprobe zu Ben Hecht: Von Chicago nach Hollywood. Teil 1

17.08.2009.
S. 55 ff

Vorhang auf zur Premiere

Ich begann meine Arbeit als Filmautor bei den Paramount Pictures Inc., über die die Herren Zukor, Lasky und Schulberg präsidierten. Sie okkupierten die drei Vatikan-Suiten im Mitteltrakt eines langen, weißverputzten Gebäudes, das aussah wie ein bayerisches Badehaus. Es steht heute noch, aber nur Geister halten sich dort noch auf.
An meinem vierten Tag bei Paramount zitierte mich Bernard Fineman in sein Büro; ich bekam meinen ersten Auftrag und meine Ohren wurden zum ersten Mal von einer 'Produzenten'-Idee für einen neuen Film befallen.
      "Eines Morgens", legte Fineman los, "rasiert sich ein großer Industrieller. Die Klinge rutscht ihm aus und er schneidet sich ins Kinn, woraufhin er seinen Butler losschickt, Tonerde zu holen, um den Blutstrom zu stoppen. Durch einen Verkehrsstau wird der Butler aufgehalten, und der große Industrielle muss eine Viertelstunde in seinem Onyx-Badezimmer wutschäumend auf seine Tonerde warten."
In dem Drehbuch, das ich schreiben sollte, wollte Fineman alle möglichen Dinge aufgezeigt haben, die diese viertelstündige Verspätung in der Weltgeschichte bewirken sollte. Von den vielen Details, die er anführte, erinnere ich mich nur noch daran, dass irgendetwas mit der Perlenfischerei schiefging und das Ganze damit endete, dass die Geliebte des Industriellen das Weite sucht, seine riesigen Unternehmungen zusammenbrechen und seine Frau wieder zu ihm zurückkehrt, um mit ihm ein neues Leben aufzubauen.
Ich erzähle diesen Plot, weil meine Abneigung dagegen meine Karriere als erfolgreicher Drehbuchschreiber in Gang setzte. Ich hatte bis dahin kaum ein Dutzend Filme gesehen, aber alles, was man über den Film wissen musste, hatte ich in meinen vier Tagen in Hollywood gelernt.
     "Eines musst du dir merken", hatte Manky gleich am ersten Tag zu mir gesagt: "In einem Roman kann der Held zehn Mädchen vernaschen und zum guten Schluss eine Jungfrau heiraten. In einem Film ist das nicht erlaubt. Der Held, wie auch die Heldin, müssen jungfräulich sein. Der Bösewicht kann so viele Mädchen verführen, wie er will, sich nach Herzenslust vergnügen, beschwindeln und betrügen, zu Reichtum kommen und seine Dienerschaft verhauen. Aber zum Schluss muss er sterben. Und wenn er, die Kugel im Kopf, zu Boden sinkt, dann ist es ratsam, dass du ihn nach dem Gobelin an der Bibliothekswand greifen lässt, die er bei seinem Fall mit sich reißt und die sich wie ein symbolisches Leichentuch über ihn breitet. Das hat außerdem den Vorteil, dass der Schauspieler, den Kopf sicher unter dem Wandschmuck, nicht die ganze Zeit, während er als toter Mann gefilmt wird, den Atem anhalten muss."
Mir kam eine Idee. Mir schien es am einfachsten, all die Helden und Heldinnen fallenzulassen und einen Film zu schreiben, in dem nur Bösewichte und Schurken vorkamen. Dann brauchte ich wenigstens keine Lügen zu erzählen.
     Statt also einen Film über einen Industriellen zu schreiben, der sich ins Kinn schneidet, erfand ich einen über einen Chicagoer Gangster namens Feathers McCoy und sein Liebchen. Als Zeitungsmann hatte ich gelernt, dass alle netten, anständigen Leute - das Publikum - Verbrechergeschichten lieben und genauso gern von ihren Liebeshändeln hören wie von ihren Schandtaten. Mein Film, der auf dieser simplen Erkenntnis beruhte, wurde unter dem Titel Underworld produziert. Es war der erste Gangsterfilm, der die Kinofans verblenden sollte, und es gab keine Lügen darin außer dem halben Dutzend sentimentaler Anklänge, auf denen der Regisseur, Josef von Sternberg, bestanden hatte, beispielsweise dem folgenden: Mein Hauptbösewicht, Bull Wee, kommt mit einem Koffer voller Geld aus der Bank, die er gerade ausgeraubt hat, und während er in der Menschenmenge auf der Straße untertaucht, nimmt er sich die Zeit, einen blinden Bettler zu bemerken und ihm eine Münze zu geben, ehe er sich daranmacht, endgültig zu verschwinden.
     Aber nicht von Sternberg half mir, dieses Drehbuch zu verfassen, sondern der Regisseur Arthur Rossen. Art Rossen war der erste von vielen Regisseuren, mit denen ich während der folgenden Jahre glückliche Tage verbringen sollte - zumindest in der Klausur eines luxuriösen Hotelzimmers, wo wir zusammen an den Plots bastelten. Art Rossen war einer der besten von ihnen, aber abgesehen von wenigen alptraumartigen Ausnahmen schätzte ich sie alle. Sie gehörten zu der neuen Gattung von Geschichtenerzählern, die das Kino verlangt und die bis zum heutigen Tage die einzigen authentischen Talente darstellen, die Hollywood hervorgebracht hat.
     Die Paramount-Bonzen, alle vier, eingeschlossen Ex-Preisboxer Mr. Zukor, hörten sich meinen Vortrag von Underworld an. Das Drehbuch war achtzehn Seiten lang und voller melancholischer sandburgscher Sätze. Die Bosse waren tief bewegt. Ich bekam einen Zehntausend-Dollar-Scheck als Prämie für die Arbeit von einer Woche.


Die Studiobesitzer

Es gab nur eine einzige Regel in der Filmfabrik: Mach einen Film, der bei der Testvorführung gut ankommt, und Hollywood liegt dir zu Füßen. Du darfst so dumm sein, wie du willst, so ungehobelt und respektlos wie Panurg - landest du einen Knüller, verbeugen sich die Bosse vor dir, wenn du an ihnen vorübergehst. Die Mehrzahl der Studiobosse waren handfeste Burschen, deren neuerworbenem Glanz noch der Geruch von Schrottplätzen, Tankstellen und anderen vergangenen dunklen Geschäften anhaftete. Aber alle 'Vision', die in einen Film einging, war die ihre. Und ihr visionäres Auge sah nur einen Fakt: je niedriger das Niveau eines Unterhaltungsprodukts, desto mehr Menschen werden es annehmen.
     Zwei Generationen von Kinobesuchern wurde so allabendlich bestätigt, dass eine Frau, die ihren Mann betrügt (oder umgekehrt), im Leben nie wahres Glück findet. Dass Sex ohne eine Schwiegermutter oder einen Gummibaum in der Nähe verwerflich ist und dass eine Frau, die sich zum reinen Vergnügen einen Liebhaber nimmt, schließlich als Hure oder Waschfrau endet. Ein Mann, der sich seiner Ellbogen bedient, um im Leben voranzukommen, wird sein Leben in Elend und Armut beschließen und seine eigenen Kinder werden sich von ihm abwenden. Ein rechtschaffener Mann dagegen wird jedes Zugunglück und jeden Kugelhagel überleben und zu guter Letzt das Mädchen gewinnen, das er liebt. Ferner erfährt der Kinogänger, dass selbst der gefürchtetste und brillanteste Halunke die Waffen streckt, hat er es mit kleinen Kindern, Gemeindepfarrern und Jungfrauen mit großen Brüsten zu tun, dass Ungerechtigkeit eine Menge Ärger verursachen kann, sich aber spätestens bei Spule neun wieder aus der Stadt geschlichen hat und dass es keine Arbeits-, politischen, häuslichen oder sexuellen Probleme gibt, die nicht durch ein schlichtes christliches Motto oder einen flotten amerikanischen Spruch aus der Welt geschafft werden könnten.
     Praktisch seit ihrem Beginn lag die Filmindustrie in den Händen desselben Dutzends. Dieses Dutzend an der Spitze des Kinos hatte keine Ahnung, wie ein Film entsteht, aber es bestimmte, welche Sorte Filme gemacht wurden - kommerzielle.

Im Hofstaat eines Studiobesitzers kritisiert niemand, niemand äußert Zweifel. Und niemand wagt es, von Kunst zu sprechen. Denn im Auge des Besitzers ist Kunst das Synonym für Bankrott. Ein Künstler ist ein Saboteur, der so schnell von der Gehaltsliste des Unternehmens gestrichen werden muss wie ein Kommunist mit einem Pamphlet.
     Sowie sich drei oder mehr Untergebene zu Füßen eines Studiobesitzers versammeln, bekommen sie seine Lieblingsansprache zu hören: "Ich bin ein Mann des Showgeschäfts", verkündet er. "Und solange ich im Geschäft bin, braucht ihr kleinen Genies euch alle keine Sorgen zu machen. Ihr habt einen Job - und dicke Gehälter."
     Der Besitzer eines Filmstudios weiß nicht mehr vom Filmemachen als ein Pilger vom fernen Mekka. Sein einziges Ziel als Besitzer ist es, dafür zu sorgen, dass seine Filme Profit machen. Sonst verlangt er nichts von ihnen. "Was das Publikum will", verkündet er, "ist solide Unterhaltung. Und um Himmels willen, Ben, versuch bloß nicht, all deine Ideen in unseren Film zu bringen. Du willst doch mithelfen, einen erfolgreichen Film zu machen, nicht wahr ? Einen Film, an dem die Menschen ihre Freude haben ? Na siehst du - dann beleidige nicht die Werte, an die sie glauben. Helf ihnen einzusehen, wie wundervoll das Leben ist und was für ein feiner Kerl dieser Held von dir, damit sich alle freuen können, dass er zum Senator gewählt wurde."

Teil 2