Vorgeblättert

Leseprobe zu Celeste Ng: Was ich euch nicht erzählte. Teil 2

19.05.2016.
     Marilyn betrachtete das Bild von Betty Crocker auf der Rückseite des Kochbuchs, die feinen grauen Strähnen an den Schläfen, das von der Stirn nach hinten gelockte Haar, als würden die gewölbten Augenbrauen es zurückschieben. Einen Moment lang ähnelte sie fast ein wenig ihrer Mutter. Gibt es etwas Erfüllenderes? Ihre Mutter hätte mit Sicherheit Nein, Nein, Nein gesagt. Sie dachte mit strengem, schmerzvollem Mitleid an ihre Mutter, die sich ein goldenes, nach Vanille duftendes Leben erhofft hatte und am Ende allein gewesen war, gefangen wie eine Fliege in diesem kleinen, traurigen, leeren Haus, diesem kleinen, traurigen, leeren Leben, die Tochter fort, und von ihr selbst nichts geblieben, nur diese mit Bleistift markierten Träume. War sie traurig? Sie war wütend. Erbost über das mickrige Leben ihrer Mutter. Das, dachte sie bitter und strich über das Kochbuch. Das ist alles, was ich brauche, um mich an sie zu erinnern. Das ist alles, was ich aufheben will.
     Am nächsten Morgen rief sie die vom Bestattungsunternehmer empfohlene Reinigungsfirma an. Die beiden Männer, die an der Tür erschienen, trugen blaue Uniformen wie Hausmeister. Sie waren glatt rasiert und zuvorkommend; sie sahen sie mitfühlend an, sagten aber nichts über ihren "Verlust". Tüchtig wie Möbelträger packten sie Puppen, Geschirr und Kleider in Kartons. Sie wickelten Möbelstücke in wattierte Decken und rollten sie zum Lastwagen. Wohin verschwand das alles, fragte sich Marilyn mit dem Kochbuch unterm Arm - die Matratzen, die Fotos, die leer geräumten Bücherregale? Dorthin, wo auch die Menschen landeten, wenn sie starben, wo alles landete: weiter, fort, aus dem Leben.
     Gegen Abend hatten die Männer das ganze Haus ausgeräumt. Einer tippte sich zum Abschied an die Mütze, der andere nickte ihr freundlich zu. Dann traten sie auf die Treppe, und der Motor wurde gestartet. Mit dem Kochbuch unterm Arm wanderte sie von Zimmer zu Zimmer und sah nach, ob auch nichts zurückgeblieben war, aber die Männer hatten gründlich gearbeitet. Ihr altes Zimmer war kaum wiederzuerkennen, nachdem die Bilder an den Wänden fort waren. Die einzigen Spuren ihrer früheren Anwesenheit waren die Löcher der Reißzwecken in der Tapete, und die konnte man nur sehen, wenn man wusste, wo man suchen musste. Es hätte das Haus einer Fremden sein können. Durch die offenen Vorhänge sah sie nichts, nur halbdunkle Scheiben und ihr Gesicht, das sich im Schimmer des Deckenlichts schwach spiegelte. Auf dem Weg nach draußen blieb sie im Wohnzimmer stehen, wo der Teppich von den Abdrücken von Stuhlbeinen gezeichnet war, und betrachtete den Kaminsims, jetzt eine klare Linie unter einem Stück kahler Wand.
     Als sie auf die Autobahn in Richtung Ohio und nach Hause fuhr, sah sie vor ihrem inneren Auge immer wieder die leeren Zimmer. Sie schluckte unbehaglich, schob die Bilder beiseite und drückte aufs Gas.
     Außerhalb von Charlottesville fielen Regentropfen auf die Scheiben. Auf halber Strecke durch West Virginia wurde der Regen stärker und überspülte die Windschutzscheibe. Marilyn fuhr auf den Seitenstreifen und schaltete den Motor aus; die Scheibenwischer blieben mitten im Wischen stehen, zwei Schrägstriche über dem Glas. Es war nach ein Uhr nachts, niemand war auf der Straße: keine Rücklichter am Horizont, keine Scheinwerfer im Rückspiegel, nur Felder erstreckten sich auf beiden Seiten. Sie schaltete die Lichter aus und lehnte sich an die Kopfstütze. Der Regen fühlte sich gut an, wie Tränen auf ihrem Körper.
     Sie dachte wieder an das leere Haus, ein Leben voll Besitztümer, nun für den Secondhand-Laden oder die Müllhalde bestimmt. Die Kleider ihrer Mutter am Körper einer Fremden, ihr Ehering am Finger einer Fremden. Nur das Kochbuch neben ihr auf dem Beifahrersitz hatte überlebt. Es war das Einzige, das aufzubewahren sich lohnte, redete Marilyn sich ein, der einzige Gegenstand im Haus mit Spuren von ihrer Mutter.
     In dem Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, als hätte jemand es laut ausgesprochen: Ihre Mutter war tot, und die einzige lohnenswerte Erinnerung an sie war, dass sie gekocht hatte. Marilyn dachte beklommen an ihr eigenes Leben, an die vielen Stunden, in denen sie Frühstück zubereitete, Abendessen servierte, Brote in saubere Papiertüten packte. Wie konnte man so viele Stunden damit verbringen, Erdnussbutter auf Brote zu schmieren? Wie konnte man so viele Stunden mit dem Zubereiten von Eiern verbringen? Spiegelei für James. Hart gekocht für Nath. Rührei für Lydia. Eine gute Hausfrau sollte wissen, wie man ein Ei in sechs einfachen Variationen auf den Teller bringt. War sie traurig? Ja. Sie war traurig. Wegen der Eier. Wegen allem.
     Sie entriegelte die Tür und trat auf die Straße.
     Der Lärm außerhalb des Autos war ohrenbetäubend: eine Million Murmeln schlugen auf eine Million Blechdächer, eine Million Radios rauschten gemeinsam auf derselben Nichtfrequenz. Als sie die Tür wieder schloss, war sie bereits tropfnass. Sie hob ihr Haar, beugte den Kopf vor und ließ den Regen in die unten liegenden Locken laufen. Die Tropfen legten sich auf ihre bloße Haut. Sie lehnte sich auf der abkühlenden Motorhaube zurück, breitete die Arme aus und gab sich dem prasselnden Regen hin.
     Niemals, schwor sie sich. So werde ich niemals enden.
     Unter ihrem Kopf hörte sie das Wasser wie auf Stahl trommeln. Es klang wie leiser Applaus, eine Million klatschende Hände. Sie öffnete den Mund und ließ den Regen hineintropfen, öffnete die Augen und versuchte, in den strömenden Regen zu sehen.
     Zurück im Auto, zog sie Bluse, Rock, Strümpfe und Schuhe aus. Auf dem Beifahrersitz neben dem Kochbuch gaben sie einen traurigen Haufen ab, wie eine schmelzende Eiscremekugel. Der Regen ließ nach, und als sie den Wagen in Bewegung setzte, war das Gaspedal steif unter ihren bloßen Füßen. Im Rückspiegel sah sie kurz ihr Spiegelbild, aber es war ihr nicht peinlich, sich so nackt und verletzlich zu sehen, vielmehr bewunderte sie den blassen Schimmer ihrer Haut vor dem Weiß ihres BH s.
     Niemals, dachte sie wieder. So werde ich niemals enden.
     Als sie in der Dunkelheit weiterfuhr, weinte ihr Haar in kleinen Bächen über ihren Rücken.

Zu Hause wusste James nicht, wie man Eier in irgendeiner Variation auf den Teller bringt. Jeden Morgen servierte er den Kindern Cornflakes zum Frühstück und schickte sie mit jeweils dreißig Cent fürs Mittagessen in die Schule. "Wann kommt Mom nach Hause?", fragte Nath jeden Abend und zerdrückte das Alutablett seines Fertiggerichts. Seine Mutter war seit einer Woche weg, und er sehnte sich nach hart gekochten Eiern. "Bald", antwortete James. Marilyn hatte die Nummer ihrer Mutter nicht zurückgelassen, aber die Leitung würde ohnehin bald abgeschaltet. "In den nächsten Tagen. Was wollen wir am Wochenende machen, hm?"
     Sie gingen zum Schwimmbad, um Brustschwimmen zu lernen. Lydia konnte noch nicht schwimmen, deshalb ließ er sie für den Nachmittag gegenüber bei Mrs. Allen. Die ganze Woche hatte er sich auf die Zeit mit seinem Sohn gefreut und sich sogar zurechtgelegt, was er sagen würde: Lass die Arme unter Wasser. Spreiz die Beine nach außen. So. James war in der Highschool ein guter Schwimmer gewesen, aber er hatte nie einen Pokal gewonnen; während die anderen in ein Auto stiegen und sich zur Feier des Tages Hamburger und Milchshakes gönnten, war er allein nach Hause gegangen. Er vermutete, dass Nath ebenfalls das Zeug zum Schwimmer hatte: Er war klein, aber drahtig und kräftig. Im letzten Sommerschwimmkurs hatte er Kraulen und Toter Mann gelernt; er konnte sogar schon unter Wasser einmal quer durchs Becken schwimmen. In der Highschool, stellte James sich vor, wäre Nath der Star des Schwimmteams, der Sammler von Pokalen, der Leiter der Staffel. Er würde nach den Wettkämpfen alle zum Diner fahren - oder wo immer Jugendliche in den fernen 1970ern hingingen.
     Als sie am Samstag ins Schwimmbad kamen, war das seichte Becken voller Kinder, die Marco Polo spielten; im tiefen Becken zogen ein paar ältere Männer ihre Bahnen. Noch war kein Platz für Brustschwimmstunden. James stupste seinen Sohn an. "Geh rein und spiel mit den anderen, bis das Becken leerer wird."
     "Muss ich?", fragte Nath und knetete den Rand seines Handtuchs. Das einzige andere Kind, das er kannte, war Jack, der damals seit einem Monat in ihrer Straße wohnte. Nath hasste ihn zwar noch nicht, aber er spürte schon, dass sie keine Freunde werden würden. Mit seinen sieben Jahren war Jack hoch aufgeschossen und schlaksig, sommersprossig und mutig, hatte vor nichts Angst. James, der die geheimen Spielregeln des Pausenhofs nicht kannte, ärgerte sich plötzlich über die Schüchternheit und Zurückhaltung seines Sohnes. Der selbstbewusste junge Mann in seiner Phantasie schrumpfte zu einem nervösen kleinen Jungen: dünn, klein und so nach vorn gebeugt, dass seine Brust sich nach innen wölbte. Er gab es nicht gern zu, aber Nath - die Beine über Kreuz und die Füße aufeinandergelegt - erinnerte ihn an sich selbst in diesem Alter.
     "Wir sind zum Schwimmen hergekommen", sagte James. "Mrs. Allen passt auf deine Schwester auf, nur damit du Brustschwimmen lernen kannst, Nathan. Vergeude also nicht unsere Zeit." Er riss seinem Sohn das Badetuch aus der Hand, führte ihn grob ans Wasser und blieb über ihm stehen, bis Nath hineinglitt. Dann schob er die auf der leeren Bank am Beckenrand abgelegte Schwimmflossen und -brillen beiseite und setzte sich. Das ist gut für ihn, dachte James. Er muss lernen, sich mit anderen anzufreunden.
     Nath machte einen Bogen um das Mädchen, das gerade Sucherin war, und hüpfte auf den Zehen, um den Kopf über Wasser zu halten. Es dauerte ein paar Minuten, bis James Jack erkannte, und als er es tat, empfand er leise Bewunderung. Jack war ein guter Schwimmer, im Wasser übermütig und sicher, strahlend und atemlos schlängelte er sich an den anderen vorbei. Vermutlich war er allein hierhergekommen, überlegte James; schon das ganze Frühjahr erzählte Vivian Allen hinter vorgehaltener Hand, dass Janet Wolff ihren Sohn allein ließ, wenn sie im Krankenhaus arbeitete. Vielleicht können wir ihn später mit nach Hause nehmen, dachte er. Er könnte bei uns bleiben und mit Nath spielen, bis seine Mutter mit ihrer Schicht fertig ist. Er wäre ein passender Freund für Nath, ein gutes Vorbild. Er stellte sich Nath und Jack unzertrennlich vor, wie sie hinten im Garten eine Reifenschaukel fabrizierten oder auf dem Fahrrad durchs Viertel rasten. Ihm selbst war es während seiner Schulzeit peinlich gewesen, Klassenkameraden nach Hause einzuladen, weil er befürchtete, sie würden seine Mutter aus der Essensschlange erkennen oder seinen Vater vom Putzen des Flurs. Außerdem hatten sie auch keinen Garten gehabt. Vielleicht würden sie Piraten spielen, Jack als Kapitän und Nath als Erster Offizier. Sheriff und Stellvertreter. Batman und Robin.
     Als James seine Aufmerksamkeit wieder dem Becken zuwandte, war Nath der Sucher. Aber etwas stimmte nicht. Die anderen Kinder entfernten sich. Stumm und mit unterdrücktem Kichern hievten sie sich aus dem Wasser auf die Fliesen. Die Augen geschlossen, watete Nath allein in der Mitte des Beckens umher und drehte sich in kleinen Kreisen mit den Händen tastend durchs Wasser. James hörte ihn rufen: Marco. Marco.
     Polo, riefen die anderen zurück. Sie umkreisten das Nichtschwimmerbecken und spritzten mit den Händen im Wasser; Nath folgte den Geräuschen und bewegte sich von einer Beckenseite zur anderen. Marco. Marco. Ein leidender Unterton lag in seiner Stimme.
     Es war nicht persönlich gemeint, redete James sich ein. Die Kinder spielten schon wer weiß wie lange; sie waren das Spiel einfach leid, erlaubten sich nur einen Scherz. Es hatte nichts mit Nath zu tun.
     Dann rief ein älteres Mädchen, vielleicht zehn oder elf: "Schlitzauge findet China nicht!", und die anderen Kinder lachten. Ein Stein sank in James' Magengrube. Nath blieb im Becken stehen, die ausgestreckten Arme auf der Wasseroberfläche, unsicher, wie er fortfahren sollte. Eine Hand öffnete und schloss sich stumm.

zu Teil 3