Vorgeblättert

Leseprobe zu Cesarina Vighy: Mein letzter Sommer. Teil 3

09.08.2010.
Er begann sich umzusehen und merkte, dass es eine Menge Mädchen gab, alle hübscher als seine Frau und, wenn auch ein wenig töricht oder ohne Latein- und Bridgekenntnisse, alle mit besserem Charakter als sie.
     Von einer tiefreligiösen Mutter erzogen, hatte er zwar deren Glaubensgrundsätze und Verhaltensregeln abgelehnt, aber die Moral übernommen: Auch wenn es sich um eine Megäre handelte, Betrug blieb Betrug. Betrug des Herzens selbstverständlich, denn wie jeder Mann seiner Generation, vom ungehobeltsten bis zum empfindsamsten, hatte er seine sexuelle Initiation im Freudenhaus erlebt.
     Zwischen den Beinen hastiger Professioneller, die nach der Uhr arbeiteten, hatte er gelernt, die Frauen in Kategorie A und Kategorie B einzuteilen, wobei die famosen moralischen Grundsätze weniger zählten als null.
     Von Liebe verstand er gar nichts, und die Meister des Skep-tizismus, denen er als Heranwachsender gehuldigt hatte, kamen ihm in diesem Punkt nicht zu Hilfe, im Gegenteil.
     Doch bald entdeckte er, dass es bei den Frauen noch eine Kategorie C gab: kleine Schneiderinnen, Sekretärinnen, Verkäuferinnen, Töchter von Handwerkern oder Druckern, die arbeiteten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, mit einem Stolz und einer Frische, die man nicht mit Geld belohnen konnte, sondern mit kleinen Geschenken, zärtlichen Worten und vor allem Aufmerksamkeit.
     Ihre Lebensgeschichten anzuhören, die immer ähnlich und immer anders waren, darin bestand seine Erziehung der Gefühle, und aus Gerechtigkeitssinn platzierte er sie dann in Kategorie B, während C den Prostituierten vorbehalten blieb.
     Er hätte schon eher darauf kommen können, ja, denn er war Sozialist: Seine Kleinstadt hatte er schließlich verlassen müssen, weil die Faschisten ihn aufs Korn genommen hatten, und dass sie ihm nicht den Schädel einschlugen, lag nur daran, dass er an jenem Tag einen Strohhut trug, der statt des Schädels dran glauben musste.
     Bevor sie ihm Rizinusöl verabreichten, baute ihm der Rek-tor der Schule, an der er arbeitete, während er sein Studium abschloss, goldene Brücken und begründete sein zukünftiges Glück, indem er ihn, um ihn loszuwerden, einflussreichen Freunden in der bedeutenden Stadt wärmstens empfahl. Es stimmt zwar, dass diese Freunde den Mut verloren, als sie ihn vor sich sahen, schmächtig, mit Brille und noch so jung, doch kehrte er mit einem schlagfertigen "Felix culpa!" die Situation um und errang sich ihre Achtung. So viel zählte es damals, Latein zu können.
     Kurzum: Sozialist, aber naiv, hatte er seine scheinbar vorurteilslose Gattin mit einer der "kurzhaarigen Schwestern", den revolutionären Russinnen Pascolis, verwechselt.
     Unterdessen hatte es Pina (doch nennen wir sie an dieser Stelle wieder mit ihrem schönen Namen Nives) in die gleiche Stadt verschlagen. Sie konnte alles, also nichts, und deshalb blieb ihr nur übrig, als Dienstmädchen zu gehen, obwohl sie im Alter gelernt hat, diese Arbeit, wenn sie davon erzählte, mit der Bezeichnung "Babysitter" zu adeln. Übrigens log sie nicht: Kinder gab es mehr als genug in jenem Haushalt, doch die machten ihr keine Angst, da sie durch ihre Geschwister daran gewöhnt war. Was sie störte, ja geradezu anekelte, war der Hausherr, der es, wenn sie zufällig allein blieben, verstand, die vulgärsten Ausdrücke zu finden, um ihr seine Wertschätzung zu zeigen. Eines Abends, als ihr ein Taschentuch aus der Schürzentasche fiel, machte er eine anzügliche Bemerkung über dieses unschuldige Stück Stoff, das in nichts auf Menstruation hindeutete. Nives fühlte sich beleidigt und packte umgehend ihre Sachen.
     Sie suchte einen Vater, aber nicht von der Sorte: einen freundlichen, zärtlichen Mann, der älter war als sie und ihr etwas beibringen konnte.
     Wie durch ein Wunder fand sie ihn. Von außen gesehen war die Begegnung nicht sonderlich romantisch: Sie ereignete sich weder auf einem Campiello im Mondschein noch auf einer Brücke über einem Kanal noch auf einem Boot in der Lagune, sondern in einem Schuhladen. Der junge Rechtsanwalt tätigte als Erster einen Kauf, und der Verkäufer, der ihn kannte, überreichte ihm zeremoniell einen Schuhlöffel aus Horn. Nives, die ein Paar weniger teure Sandalen erwarb, bekam nichts dazu und beklagte sich darüber. Galant (inzwischen hatte er ein Auge für schöne Mädchen) schenkte der junge Rechtsanwalt ihr seinen kleinen Hornschuhlöffel (der bald zu einer gebührend in Silber gefassten Reliquie wurde).
     Gemeinsam verließen die beiden den Laden, und so begann eine Liebesgeschichte, die mehr als vierzig Jahre dauern sollte und Faschismus, Krieg, Widerstand, Nachkriegszeit, Illusionen und Enttäuschungen überstand: eine Kurzfassung der Geschichte Italiens.
     Ehrlich gesagt, kümmerte die Kurzfassung Nives herzlich wenig.
     Was ihr zu schaffen machte (zwar wusste sie es nicht, aber auch das gehörte zur Geschichte Italiens), war die Scheinheiligkeit, die Sitte dieses Landes, die es ihr nicht gestattete zu sein, was sie war - eine "ehrbare Frau"; ich meine die Unmöglichkeit der Scheidung.
     Deshalb oder auch deshalb rang sie lange mit sich, bevor sie "nachgab", wie es in den Liebesromanen von Liala heißt.
     Der junge Rechtsanwalt wiederum hielt es zwar schon lange nicht mehr aus, hatte aber nicht nur das Problem der Auseinandersetzung mit seiner "Domina": Abgesehen von der Arbeit (bei der die "geheiligten Prinzipien" sehr viel zählten), hatte es in seiner Familie schon einmal einen erotisch-sentimentalen Skandal gegeben. Seine hübscheste Schwester - blauschwarz schimmerndes Haar -, die ihn in der Kindheit zum Weinen brachte, indem sie ihm die Grabinschrift aus Pinocchio vorlas ("Hier ruht die Fee mit dem blauen Haar, gestorben aus Kummer, weil sie verlassen wurde von ihrem kleinen Bruder"), war von zu Hause ausgerissen, um in Südamerika bei einem schon verheirateten Professor zu landen.
     Das geschah vor dem Ersten Weltkrieg, und die Ehre der Familie war ruiniert, vor allem die Mutter mit ihrer zwanghaften Religiosität litt sehr darunter. Und als die verlorene Tochter dann nach Jahren, mittlerweile rechtmäßige Gattin und Mutter, zu einem Besuch zurückkam (der Bruder, der sie bei ihrer Landung in Genua abholte, erinnerte sich, wie peinlich es ihm war, sie so stark geschminkt zu sehen), zog die Mutter, bevor sie sie ins Haus ließ, ein Schühchen aus schlug ihr mit dem Absatz auf den Kopf.
     Und er, der so gutmütig war und niemanden kränken wollte, sollte nun noch einmal solch eine Opernszene aufführen?
     Doch schließlich kam der Tag, an dem Nives "nachgab", und es war süß, unglaublich süß. Ein Ausflug nach Triest, am 7. des Monats, Zimmer 7 (Magie?), Spaziergang auf der Uferpromenade, österreich-ungarisches Cafe, sein Zartgefühl, da er sich nicht schämte zu weinen, als er entdeckte, dass sie Jungfrau war.
     Bei der Rückkehr waren sie ein Herz und eine Seele: Sie hatte endlich einen Vater gefunden, er eine schöne, auf schlichte Art intelligente Frau (im Lauf der Jahre hörte er sogar auf ihre vorsichtigen juristischen Ratschläge), die noch dazu kochen konnte. Oft bereitete sie ihm für den Abend ein Päckchen vor, damit er etwas Gutes zu essen hatte, und seine Frau, die genau begriffen hatte, woher die Leckereien stammten, aß ihm die Hälfte weg.
     Gleichzeitig war die vorurteilsfreie Gattin, der Bubikopf mit Rohrstöckchen, die Erfinderin der bösen Streiche, schon dabei, den allerschlimmsten auszuhecken: ihre Verwandlung von einer Verächterin der traditionellen Bindungen in eine eifrige Verfechterin des Sakraments der Ehe.
     Nives? Weihnachtsfeiern mit der Nachbarin aus dem unteren Stockwerk, die einsamen Silvesterabende brauchen wir gar nicht zu erwähnen, geschweige denn zu erzählen: die sind all solchen Liebesgeschichten gemeinsam. Das ehemals moderne Ehepaar hatte jedoch noch eine Gepflogenheit, die nicht in allen Schichten so verbreitet war wie heute: Kreuzfahrten, auf denen es äußerst schwierig war, mit der Außenwelt zu kommunizieren, lange Reisen, zu lang für ein Mädchen, das allein zu Hause wartete.
     Während der längsten dieser Reisen bekam Nives die ganze Zeit kein Lebenszeichen, und eines Nachts, als sie immer wieder Ravels Bolero hörte, beschwörend sinnliche Musik, bekannt als Unglücksbote, dachte sie, dass ihr Rechtsanwalt wohl tot sei. Er war nicht tot, diesmal hatte der unheilbringende Bolero nicht funktioniert.
     Vor der Abreise, am 31. August, hatten sie sich so heftig geliebt, dass es nicht so theatralisch schlecht ausgehen konnte.
     In der Tat, am 31. Mai des folgenden Jahres, dieses eine Mal ausnahmsweise ganz pünktlich, wurde ich geboren, das meistgeliebte Kind der Welt.
                                                   *

Mit freundlicher Genehmigung von Hoffmann und Campe

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