Vorgeblättert

Leseprobe zu Christopher Hitchens: The Hitch. Teil 3

19.09.2011.
[Im Oktober 1981 kauft sich Hitchens ein One-Way-Ticket nach New York und beginnt, für die Zeitschrift The Nation zu arbeiten. Perlentaucher]

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Ein Grund für mein abwechslungsreiches Nachtleben in New York war meine Freundschaft mit Brian und Keith McNally, den englischen Brüdern, die das Odeon-Restaurant eröffnet hatten (für immer in einem gewissen Zeitgeist eingefangen, da seine Leuchtreklame auf dem Umschlag von Jay McInerneys Roman Bright Lights, Big City prangt). So, wie man sich McInerney kaum noch ohne diese luminöse Illustration vorstellen kann, schien es plötzlich, als könne man sich auch das Innere dieses Ladens nicht mehr ohne die McNallys vorstellen. Ich empfand unbeholfenen Stolz, weil ich mich schon mit ihnen angefreundet hatte, bevor sie so begehrt waren. Es gab eine Zeit, in der Keith, einer dieser beiden ziemlich unterschiedlichen Londoner East Enders, den stets zuvorkommenden maître d’ hôtel und der andere, Brian, eher die Kombination aus Barmann und - wenn es wirklich darauf ankam - Rausschmeißer gaben. Beide waren vollendete Autodidakten. Keith konzentrierte sich auf die Ästhetik und das Theatralische (er wurde als die Entdeckung des englischen Dramatikers Alan Bennett und des englischen Theaterregisseurs Jonathan Miller verehrt), wohingegen Brian mehr von Geschichte und Ideologie fasziniert war. Ohne dass wir es je ausgesprochen und deshalb zuviel daraus gemacht hätten, war uns doch allen dreien bewusst, dass wir uns in England wohl nie begegnet wären, jedenfalls nicht unter so günstigen sozialen Bedingungen.

Es war Brian, der mich eines sehr frühen morgens weckte und gegen die »fuckin’ diabolical liberty« zu wettern begann - in einem Cockney-Ton, der direkt einer filmischen Version der Londoner Ealing Studios zur Blitzkriegzeit entsprungen schien. Nachdem sich meine Verwirrung gelegt hatte, stellte sich heraus, dass er den argentinischen Einmarsch auf die Falkland-Inseln meinte. Weit weg von daheim, und ziemlich weit weg davon, Thatcheristen zu sein, waren wir uns doch völlig einig, dass man unter gar keinen Umständen hinnehmen könne, von einem Trupp Braunhemden aus Buenos Aires so herumgeschubst zu werden.

Diese Aggression, auf die mich meine noch sehr wache Erinnerung an Argentinien vorzubereiten geholfen hatte, wurde der Anlass zu einem faszinierenden Kräftemessen der Protagonisten beiderseits des Atlantiks. Mir schien auf der Hand zu liegen, dass die Militärjunta niemals britisches Territorium anzugreifen gewagt hätte, hätte sie nicht irgendein »grünes Licht« aus Washington bekommen. Tatsächlich wurde denn auch sofort berichtet, dass Jeanne Kirkpatrick, Reagans UN-Botschafterin und eine führende Apologetin antikommunistischer Diktaturen, die Argentinier just am Abend der Invasion mit ihrer Anwesenheit bei einem diplomatischen Empfang beehrt hatte. Und General Alexander Haig, Ronald Reagans eitler und grotesker Außenminister, lief wie üblich mit geschwollenem Kamm und verrückt nach allem herum, das militaristisch, sadistisch und nach ganzen Kerlen in Uniform aussah. Doch die Zusicherungen, die man Haigs Gegenparts in Buenos Aires gegeben hatte, hatten allesamt auf der Annahme beruht, dass die Briten niemals um einen felsigen Archipel am falschen Ende der Welt kämpfen würden. Schlagartig wurde mir bewusst, und das aus Gründen, die, glaube ich, wenig bis gar nichts mit meinem Blut und Erbe zu tun hatten - obwohl sich das durchaus als ein Hemmschuh für meine Entwicklung zum Amerikaner erweisen sollte -, dass ich nicht in der Lage wäre, die Scham zu ertragen, falls sich diese Annahme bestätigen würde.

Von meinen neuen Kohorten aus dem Umfeld von The Nation wurde eine Expedition der britischen Kriegsmarine zum Zweck der Rückeroberung dieser Inseln meist mit Heiterkeit und Unglaube begrüßt. Das kann doch wohl nicht euer Ernst sein? Die Stimmung in der britischen Öffentlichkeit würde doch beim Eintreffen des ersten »Body Bags« kippen (ein Begriff, dem ich mit jedem Jahr überdrüssiger wurde). Zuerst versuchte ich opportunistisch, dieser Denkweise Rechnung zu tragen und ihr auf halbem Wege entgegenzukommen, ich schrieb sogar einen Leitartikel, in dem ich dem »Rule Britannia«-Hurrapatriotismus höhnte, der die Show zu Hause gerade zu verderben drohte. Meine Wangen röten sich noch immer ein wenig, wenn ich daran denke. Aber dann rief mich Alexander Chancellor aus London an, der Herausgeber des Spectator. Sein Washingtoner Korrespondent, ein ansonsten reizender Mensch, habe Probleme, die ganze Sache ernst zu nehmen, und einen Artikel geschickt, der »offen gestanden etwas schnodderig ist«. Würde es mir etwas ausmachen, in die Hauptstadt zu eilen und festzustellen, ob ich dort eine Weile lang die Stellung halten könnte? Ich zögerte nicht. Der vorgebliche Toryismus des Spectator war mir egal, denn unter Chancellor hatte das Blatt meinen alten Stall, den New Statesman, längst abgehängt, indem er einige von dessen besten Talenten rekrutiert hatte. Allein schon gefragt zu werden war eine Ehre. Bald saß ich im Shuttle, um meinen allerersten richtigen Einsatz in Washington anzutreten.

Es war eine fantastische Einführung in die schon erwähnten Dichotomien von »Klasse« und »Empire«. Auf der einen Seite gab es den allerhässlichsten Teil des neuen amerikanischen Imperiums, vertreten durch die Haig-Kirkpatrick-Allianz der uniformierten Drangsalierer und blutsaugerischen Pseudointellektuellen am Rockzipfel der Macht. Sie waren die Sprachrohre der argentinischen Folterknechte und fungierten auch als die Hüter und Ausbilder dieses mörderischen Packs, welches - was sie längst, wir aber noch nicht wussten - die Welt bald als nicaraguanische Contras kennenlernen sollte. (Es zählt wirklich zu den Ironien der Geschichte, dass ausgerechnet Mrs. Thatchers Kampflust die Neokonservativen ihres Lieblingserfüllungsgehilfen beraubte, indem sich der damals noch unbekannte Oliver North nun gezwungen sah, die Contras in Nicaragua mit den Erlösen aus Waffenlieferungen an das iranische Mullah-Regime zu finanzieren, und sie somit letztlich fast die Präsidentschaft ihres vielgeliebten »Ronnie« zerstört hätte.) Auf der Gegenseite stand der traditionellste, scheinbar längst überholte, aber gewissermaßen nobelste Teil des alten Britischen Empires, dessen nahezu ideale Verkörperung in diesem Fall Sir Nicholas »Nico« Henderson war, welcher in der weiträumigen Botschafterresidenz logierte, die Sir Edwin Lutyens (der Architekt von Neu Delhi) am großen Westbogen der Massachusetts Avenue entworfen hatte.

Ich wage zu behaupten, dass Sir Nicholas, wie so viele Figuren aus dem britischen Auswärtigen Amt, seine Zweifel bezüglich der Weisheit hatte, die Royal Navy so weit weg von ihrem Heimathafen zu schicken, nur um zu verdeutlichen, dass es hier um ein etwas dubioses Prinzip ging. Aber ich kann bezeugen, dass er nur ungefähr drei Tage brauchte, um den unheimlichen argentinischen Botschafter geradewegs des Hofes zu verweisen und aus der anständigen Gesellschaft von Georgetown zu verjagen. Seit einer tuberkulösen Schulterinfektion in seiner Jugend hatte »Nico« Schwierigkeiten, sich am Morgen anzukleiden - er war immer gut gekleidet, nur eben einen Hauch zerzaust, weshalb man sein Aussehen in diesem Stadium seines Lebens auch schon als das eines »verfallenden Landsitzes « beschrieben hatte. Er nahm das nicht krumm. Im Gegenteil, er verstand es zweifellos sehr gut zu nutzen, dass seichte Charaktere ihn gerne unterschätzten. Durch wohl dosiertes »Leaking« gelang es ihm, la Kirkpatrick und ihre Bündnispartner ziemlich unappetitlich aussehen zu lassen. Und nachdem er ein paar Strippenzieher zusammengetrommelt hatte, konnte er Caspar Weinberger dazu bewegen, das Verteidigungsministerium auf die britische Seite der Waagschale wechseln zu lassen. Weinberger scherte mich ebenso wenig wie dieser amerikanische Churchill-Kult, den er aus meiner Sicht repräsentierte, aber das eigentliche Ziel des Ganzen stand für mich völlig außer Frage: unter allen Umständen musste verhindert werden, dass die Vereinigten Staaten noch einen dieser schmutzigen lateinamerikanischen Caudillos retten konnten. Am Ende schlug sich Reagan gegen Haig und Kirkpatrick auf die Seite von Weinberger und Thatcher, und Argentinien wurde wie der kleine britische Archipel, den es zu stehlen versucht hatte, befreit. Es hätte für mich keine bessere Einführung in das Washington der Machtkämpfe geben können.

Er mochte in diesem Fall ja das Richtige getan haben, aber ich konnte Ronald Reagan trotzdem nicht leiden, und niemand hätte mich damals überzeugen können, ihn zu mögen. Selbst heute noch, wenn ich durch die etwas rosarote Brille seines historischen Kompromisses mit Gorbatschow zurückblicke, kann ich mich noch leicht erinnern, weshalb ich ihn damals so widerwärtig fand (aus solchen Gründen sollte das Gedächtnis immer bestrebt sein, nicht allzu viele Linsenanpassungen an der Brille vorzunehmen). Da gab es zum einen seine himmelschreiend banale Art zu lügen. Er konnte die Kamera mit einem folkloristischen Grinsen fixieren, das ich immer enervierend fand, ihm vom Korps der Pressekriecher aber den Namen »The Great Communicator« einbrachte, um dann die schallendsten Unwahrheiten von sich zu geben. (»Südafrika stand uns bei jedem großen Krieg zur Seite, den wir jemals kämpften«, verteidigte er ein Regime, dessen Parteiführung von den Briten wegen ihrer Sympathien für die Nazis während des Zweiten Weltkriegs hinter Gittern gesetzt worden war. »Die russische Sprache enthält kein Wort für ›Freiheit‹«, lautete eine andere verblüffende Erklärung - wer weiß, von wem er das hatte, oder kann sich etwa jemand vorstellen, dass der amerikanische Präsident über einen Stab verfügt, in dem niemand von der Existenz des noblen Wortes swoboda weiß? Bei zwei verschiedenen Anlässen behauptete der Mann, der die Sicherheit der Studiogelände von Los Angeles niemals verlassen hatte, an der Befreiung von NS-Konzentrationslagern teilgenommen zu haben. Es konnte wirklich besorgniserregend werden.) Bei Pressekonferenzen, von Nahem betrachtet, sah die Kruste der Leutseligkeit schuppig aus: Einmal stand ich nur ein paar Fuß von seinem echsenartigen Gesicht entfernt, als ihm eine Frage gestellt wurde, die ihm nicht passte - es ging um den Diebstahl von Präsident Carters Briefingunterlagen durch Agenten der Reagan-Kampagne während des Wahlkampfs von 1980 -, und war ziemlich erschüttert von dieser senil hintertriebenen Tücke in seinem Blick, als er es damit entschuldigte, dass auch die New York Times im Fall der Pentagon- Papiere gestohlenes Eigentum akzeptiert habe. Niemand hätte weniger überrascht sein können als ich, als sich später herausstellte, dass er an Alzheimer litt. Ich glaube, man wird eines Tages zugeben, dass ein Teil seiner Familie und ein, zwei seiner Ärzte das bereits während seiner ersten Amtszeit zu vermuten begonnen hatten.

Immer wieder wurde der Führer der Freien Welt in Gesellschaft von protestantischen »Endzeit«-Fundamentalisten und so wortgetreuen Bibelauslegern wie Jerry Falwell und Pat Robertson fotografiert - festgebundene Ballons, die mit Habgier und Zynismus aufgeblasen waren und von Martin Amis einmal als »Schwindler Chaucer’schen Ausmaßes« bezeichnet wurden. Der Präsident fand immer Zeit, mit solchen Typen über die Erfüllung uralter »Prophezeiungen « und die bevorstehende Apokalypse zu plappern. Er salbaderte sogar, dass eine höchstrichterliche Feststellung des Wahrheitsgehalts der Evolutionstheorie noch ausstünde. Er war mit einer Frau verheiratet, die eigens einen Astrologen im Weißen Haus beschäftigte. Er erklärte, dass die Abraham-Lincoln-Brigade im Spanischen Bürgerkrieg auf der »falschen Seite« gekämpft habe, was logischerweise hieß, dass die »richtige« Seite die francoistische gewesen sei. (Nachdem Anfang der Achtzigerjahre der letzte Versuch eines faschistischen Putsches in Spanien unternommen worden war, wurde die Reagan-Administration in der Person des Strangelove’schen Freaks Alexander Haig um einen Kommentar gebeten. Verblüfft antwortete er, dass der bewaffnete Angriff auf die gewählten spanischen Volksvertreter eine rein interne Angelegenheit Spaniens sei.) Mit Haig an der Seite erteilte Reagan 1982 Menachem Begin und Ariel Sharon die Erlaubnis, in den Libanon einzumarschieren und nach Beirut einzufallen, um die maronitische Phalange-Miliz dort dann die Drecksarbeit machen zu lassen. Kanzler Helmut Kohl erfreute er mit einem Besuch auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS liegen, und als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, erklärte er auch noch, dass die deutschen Soldaten »ebenso Opfer« des NS-Regimes gewesen seien wie die Zivilisten, die sie eigenhändig abgeschlachtet hatten. Er machte dämliche, alarmierende Witze vor offenen Mikrofonen über einen Präventivschlag gegen die UdSSR, und er begnadigte die FBI-Beamten Felt und Miller, die wegen Einbrüchen und illegalen Abhörmaßnahmen bei Mitgliedern der Antikriegsbewegung gefeuert und verurteilt worden waren. Eine wirklich feine Ironie bei dieser Sache war, dass einer dieser beiden Männer (Mark Felt), wie ich erfahren sollte, eben jener »Deep Throat« gewesen war, dessen Torpedos die Administration des zuvor gewählten republikanischen Präsidenten auf Grund geschossen hatten.

Meine Einführung in die Bundesstadt war so fesselnd, dass ich kaum zögerte, als Victor Navasky und Kai Bird mich fragten, ob ich in Erwägung ziehen würde, auf Dauer für The Nation dorthin zu ziehen. Am Tag meiner Abreise nach Washington spendierte Victor mir einen Farewell-Lunch in einem Restaurant nahe der Pennsylvania Station. Seit einer unvergänglichen Kolumne von Calvin Trillin, in der dieser festgehalten hatte, dass er für einen Lohn »irgendwo zwischen den beiden niedrigsten Zahlen« von Victor eingestellt worden sei, galt Navasky als »gewieft und knauserig«. Nun, Victor mochte vielleicht mit dem Geld des Magazins knausern, aber mit dem eigenen ging er immer sehr großzügig um, und so war dies denn auch ein ziemlich anständiger Snack. Mich hatte er auf andere Weise gewieft überzeugt, Richtung Süden umzuziehen: er hatte nebenbei bemerkt, dass The Nation seit I. F. Stone keinen neuen regulären Kolumnisten mehr in Washington eingestellt hatte, und dieser Name war Magie in den Ohren aller radikalen Sechziger und früherer Journalistengenerationen. Stone hatte ein eigenes investigativ polemisches Wochenblatt herausgegeben, in dem er Kriegstreiber und die Befürworter der Rassentrennung an den Pranger stellte, und es tatsächlich geschafft, als ein unabhängiger Produzent von gedruckten Worten mit einem Blatt, das unter niemandes Fittichen stand, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das herrliche Leben des Pamphletisten! Ich fühlte mich so geschmeichelt und begeistert von diesem latenten Vergleich, dass ich prompt in die Trillin-Falle tappte und vergaß, nach der exakten Höhe des Gehalts zu fragen, und dann, ja dann war es etwas zu spät …

Ich sah schon vor mir, wie ich zurückschlagen würde auf die Reaganistas in ihrer eigenen Hauptstadt, und das auch noch in solch herausragender Gesellschaft wie der von Izzy Stone (er hatte versprochen, einen Empfang zu meinen Ehren zu geben, sobald ich eingetroffen war). Trotzdem spürte ich einen kleinen Stich bei dem Gedanken, Manhattan aufgeben zu müssen, und der wurde sofort zu einem schmerzlichen Stechen, als ich auf dem Weg zum Ausgang des Restaurants einen verlockenden Blick auf Susan Sontag erhaschte, die gerade mit Roger Straus lunchte. Ich hatte Susan damals schon etwas kennengelernt. Sie war eine souveräne Figur in der kleinen Welt all derjenigen, die das Feld der Ideen beackerten. Sie hatte keinen Boss, dafür aber einen vorzüglichen Verleger, der auch ein Freund war und es als eine Ehre empfand, alles zu drucken, was sie schrieb. So gesehen war mein »Schmerz« natürlich auch Neid: Susan, so politisch sie auch war, brauchte nicht dieses so stark politisierte Leben zu führen, auf das ich mich nun eingelassen hatte.

Ein Washingtoner zu werden bedeutet, sich für einen sehr eigenartigen Weg entschieden zu haben, Amerikaner zu werden. Zuerst fühlte es sich an, als sei ich in eine dieser Werkssiedlungen gezogen, in denen selbst nie etwas hergestellt wird. Der typische »Look« des Bewohners war der eines Anwalts (fast ununterscheidbar, im Falle von Männern wie Frauen, von dem des Parlamentsassistenten). Mangel an Chic war ein Thema. Auf den Straßen von New York wurde der Sehsinn ständig von einer Fiesta an Ablenkungen bombardiert und manchmal regelrecht gefoltert, in meiner neuen Heimatstadt stellte ich fest, dass ich praktisch die gesamte Connecticut Avenue ablaufen konnte, ohne mich auch nur einmal versucht zu sehen, mich für einen zweiten Blick umdrehen zu wollen. Umso besser, vielleicht, denn zum ersten Mal in meinem Arbeitsleben ging ich in kein Büro, wo geistesverwandte Schreiberlinge saßen, sondern arbeitete zu Hause und musste deshalb eine rigide Disziplin für jeden Tag und jede Woche entwickeln.

Bei meiner Suche nach einem kostengünstigen Platz zum Leben entdeckte ich schnell, dass es krasse Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Stadtvierteln gab, und dass diese Diskrepanzen selbst nicht weniger krass demarkiert waren. 1982, auch einige Jahre später noch, konnte man immer noch die Narben und Brandwunden aus der Zeit der Aufstände von 1968 sehen, sie zogen sich von Downtown im Osten über die Distrikte hinter der bereits verfallenen und still gelegten Union Station bis zum Stadtteil Capitol Hill hin. Dass D. C. so klein ist, war ein Schock, der mir überhaupt erst bewusst machte, wie nahe dieser gerechtfertigte Aufruhr dem Weißen Haus und der Kuppel des Capitol gekommen war. Nachdem ich kurzzeitig bei einem Freund aus Simbabwe untergekommen war, der bei der Weltbank arbeitete, und anschließend bei einem britischen Korrespondenten von einigem Ruf, wurde mir klar, dass ich mir ihre grünen Viertel im Nordwesten nicht leisten konnte und vielleicht auch nicht sollte. Ich fand ein Reihenhaus im Nordosten von Capitol Hill. Wenn ich mich spät abends vom Dupont Circle nach Hause chauffieren lassen wollte, ließ mich so mancher in Afrika geborener Taxifahrer gar nicht erst einsteigen (mit der schlecht zu kritisierenden - jedenfalls nicht von mir ihnen gegenüber - Begründung, dass es »a black area« sei). Ich war seither nie wieder in der Lage, das Wort »Gentrifikation« spöttisch zu verwenden: die unbestreitbare Wahrheit ist, dass sie fast immer ein gutes Zeichen ist.

Andere Viertel begannen, sich in schnellerem Tempo zu beleben. Dupont Circle selbst wurde durch die Zuwanderung wohlhabender schwuler Paare umgekrempelt, die dort Häuser renovierten und Cafes oder Spezialitätenläden eröffneten. In Adams-Morgan, dem kleinen Quartier Latin Washingtons, gab es viel Musik und einen ethnischen Mix, der vom Äthiopier bis zum Salvadoreno reichte, wobei jedoch keine Gruppe ungebührlich dominierte. Georgetown verfügte in jenen Tagen noch über seine großen Gastgeberinnen. Ich hatte mich mit Joan Bingham angefreundet, einer der absolut nettesten von ihnen. In diesem von Frauen beherrschten Kreis, der von jeher Bestandteil der angloamerikanischen »Sonderbeziehung« war und schließlich gemeinsam mit dieser im Schatten verschwand, fanden sich noch immer solche Grandes Dames wie Katharine Graham oder Susan Mary Allsop, Evangeline Bruce und Kay Halle. Aber was Oscar Wilde einmal über Frank Harris bemerkte, galt auch für mich: ich wurde in alle diese grandiosen Salons eingeladen - einmal.

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Mit freundlicher Genehmigung des Karl Blessing Verlages
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