Vorgeblättert

Leseprobe zu Efraim Karsh: Imperalismus im Namen Allahs. Teil 1

15.02.2007.
Einleitung


     "Mir wurde aufgetragen, alle Männer so lange zu bekämpfen, bis sie sagen: 'Es gibt keine Gottheit außer Gott.'"
Abschiedsbotschaft des Propheten Muhammad, März 632

     "Ich will mich dann auf dieses Meer begeben und sie bis auf ihre fernen Inseln verfolgen, bis keiner auf der Erdoberfläche übrig ist, der Gott nicht anerkennt." Saladin, Januar 1189

     "Wir werden unsere Revolution in die gesamte Welt exportieren ? bis der Ruf 'Es gibt keine Gottheit außer Gott und Muhammad ist der Gesandte Gottes' überall auf der Welt ertönt."
Ayatollah Ruhollah Khomeini, 1979

     "Mir wurde aufgetragen, die Menschen so lange zu bekämpfen, bis sie sagen, dass es keine Gottheit außer Gott gibt und Muhammad sein Prophet ist."
Osama bin Laden, November 2001


Die Frage, wo die tieferen "Wurzeln" der Anschläge vom 11. September 2001 liegen, hat zwei diametral entgegengesetzte Deutungsmuster hervorgerufen. Der ersten Denkschule zufolge waren die Angriffe die jüngste Salve im mehr als tausendjährigen "clash of civiliza tions" zwischen der Welt des Islam und derjenigen der Christenheit, die gewalttätige Reaktion einer tief frustrierten Kultur, die sich mit ihrem schon lange anhaltenden Niedergang nicht abfi nden will. "Jahrhundertelang war der Islam die größte Zivilisation auf Erden - die reichste, mächtigste, schöpferischste auf jedem bedeutenden Feld menschlichen Strebens", schrieb ein prominenter Vertreter dieser Sichtweise. "Doch dann veränderte sich alles, und statt die Christenheit zu erobern und zu beherrschen, wurden die Muslime nun von christlichen Mächten erobert und beherrscht. Der daraus resultierende Frust und Zorn auf das, was ihnen als Umkehrung eines ebenso natürlichen wie göttlichen Gesetzes erschien, ist über Jahrhunderte gewachsen und hat in unseren Tagen einen Höhepunkt erreicht."(1)

     Dem sei keineswegs so, behauptet dagegen eine Vielzahl von Wissenschaftlern, Journalisten, Schriftstellern und pensionierten Diplomaten. Die Anschläge seien eine fehlgeleitete, wenn auch nicht völlig unerklärliche Reaktion auf Amerikas arrogante und eigennützige Außenpolitik vonseiten einer extremistischen Randgruppe, deren gewalttätige Interpretation des Islam wenig mit dem tatsächlichen Geist und der tatsächlichen Lehre dieser Religion zu tun habe.(2) Nicht nur verbiete der Islam ausdrücklich das Massakrieren unschuldiger Zivilisten, sondern die Berufung auf den jihad im Kontext des 11. September verzerre diesen Begriff völlig, denn damit sei zuerst und vor allem ein inneres Ringen um persönliche Besserung gemeint und kein Heiliger Krieg, wie viele glauben. "Muslime hegten niemals Träume von der Eroberung der Welt", lautet ein typisches Argument dieser Denkrichtung. "Sie führten nichts gegen Europa im Schild, auch wenn die Europäer glaubten, dem sei so. Als die muslimische Herrschaft in Spanien etabliert war, erkannte man, dass sich das Imperium nicht endlos ausdehnen ließ."(3)

     Keine dieser Deutungen ist wirklich neu. In beiden spiegelt sich die auf dem Gebiet der Middle Eastern Studies seit dem frühen 20. Jahrhundert verbreitete Auffassung wider, die die Geschichte dieser Region in erster Linie als einen Ausläufer globaler Machtpolitik betrachtet und weniger als Prozess, der durch eine innere, eigenständige Dynamik vorangetrieben wird. Die Vorstellungen von Imperium und Imperialismus werden als weitgehend identisch mit den europäischen Mächten angesehen (zu denen sich dann im 20. Jahrhundert noch die USA gesellen), während der Nahe und Mittlere Osten in dieser Perspektive als das seit langem leidende Opfer dieser ausländischen Übergriffe erscheint. Einige datieren dieses Phänomen auf die Kreuzzüge zurück. Andere betrachten es als Folge des jähen Aufkommens westlicher Imperialmacht und Expansion während des langen 19. Jahrhunderts (1789-1923). Alle aber sind sich darin einig, dass der westliche Imperialismus die Hauptverantwortung für die endemische Malaise trägt, die den Nahen und Mittleren Osten bis heute plagt; das macht schon der Titel eines vor einiger Zeit erschienenen Buches von einem langjährigen Beobachter der Region deutlich: What Went Wrong? Western Impact and Muslim Responses (dt. Der Untergang des Morgenlandes. Warum die islamische Welt die Vormacht verlor).(4)

     Es gibt jedoch auch noch eine andere Sichtweise. Sie geht davon aus, dass es sich bei der Erfahrung des Nahen und Mittleren Ostens um den Höhepunkt seit langem bestehender indigener Entwicklungen, Leidenschaften und Verhaltensmuster handelt, und hier zuallererst der jahrtausendealten imperialen Tradition der Region. Äußere Einflüsse, so mächtig sie auch gewesen sein mögen, haben nur eine nachgeordnete Rolle gespielt; sie waren weder die treibende Kraft hinter der politischen Entwicklung des Nahen Ostens noch der Hauptgrund für seine notorische Unbeständigkeit.

     Entgegen der gängigen Sichtweise stammt die Institution des Imperiums nicht nur aus dem Nahen und Mittleren Osten (man denke beispielsweise an Ägypten, das assyrische Reich, Babylon, den Iran usw.), hier hat auch der imperiale Geist sein europäisches Pendant überlebt.(5) Als der Islam im frühen 7. Jahrhundert christlich-europäischer Zeitrechnung entstand, war der Nahe und Mittlere Osten zwischen den beiden großen rivalisierenden Imperien aufgeteilt: auf der einen Seite Byzanz als Nachfolger des Römischen Reiches mit seiner Hauptstadt Konstantinopel und auf der anderen Seite der Iran mit seiner Hauptstadt Ktesiphon (dort wo heute Bagdad liegt), der seit dem 3. Jahrhundert von der Dynastie der Sassaniden regiert wurde.(6) Die arabische Halbinsel, auf der der Islam entstand, lag zwar an den Rändern dieses bipolaren Systems, war jedoch tief in dessen Aktivitäten involviert. Die Iraner besaßen überall im Osten und Süden Arabiens Kolonien, in Nadschd und im Jemen, und ihr Einfluss reichte bis in den Hedschas, den nordwestlichen Teil der Halbinsel. Die Macht von Byzanz war überall im westlichen Arabien zu spüren, von der syrischen Wüste, wo es über Klientelkönigreiche verfügte, bis zum Jemen, wo die äthiopischen Verbündeten geherrscht hatten, ehe sie von den Iranern vertrieben wurden.(7)

     Aufgrund dieser umfassenden Durchdringung kam eine prominente Islamwissenschaftlerin zu dem Schluss, jede Untersuchung zum Aufstieg des Islam und zu den Ursachen seines spektakulären Erfolgs müsse mit dem Einfluss von Byzanz und Iran auf die arabische Welt beginnen. Das würde etwa bedeuten, dass man den Islam in seiner Entstehungsphase als "nativistische Bewegung [betrachtet] oder, anders ausgedrückt, als eine primitive Reaktion auf Fremdherrschaft, die von der gleichen Art ist wie die Reaktionen, welche die arabischen Eroberer selbst in Nordafrika und im Iran und später die europäischen Kolonisatoren überall in der Dritten Welt provozierten ?, wobei das Ziel der Bewegung die Vertreibung der jeweiligen Fremden ist". Ein muslimischer Führer des 7. Jahrhunderts erklärte im Hinblick auf die damaligen islamischen Eroberungen: "Andere Menschen haben uns niedergetrampelt, während wir auf niemandem herumgetrampelt sind. Dann sandte uns Gott einen Propheten aus unseren Reihen ? und eines seiner Versprechen war, dass wir diese Länder erobern und bezwingen würden."(8)

     Diese These trifft in vielerlei Hinsicht zu, doch übersieht sie den imperialistischen Impetus, der hinter diesen frühen islamischen Eroberungen steht. Besatzer aus der Heimat zu vertreiben ist ein Akt der Selbstbefreiung. Fremde Länder zu erobern und deren Bevölkerung zu unterjochen ist purer Imperialismus. Weder die nordafrikanischen Berber, die ihre islamischen Eroberer bekämpften, noch die Dritte-Welt-Bewegungen des 20. Jahrhunderts, die sich dem europäischen Kolonialismus widersetzten, wollten die Heimat ihrer Imperialherren erobern. Doch wie obiges Zitat deutlich macht, bat Muhammad seine Anhänger genau darum, als er 622 aus seiner Heimatstadt Mekka nach Medina gefl ohen und dort statt zu einem privaten Prediger zu einem politischen und militärischen Führer geworden war: nicht die fremde Besatzung abzuschütteln, sondern nach einer neuen weltweiten Ordnung zu streben, in der die gesamte Menschheit dem Islam anhängt oder zumindest unter dessen Herrschaft lebt.

     Indem er sich zum "Siegel der Propheten" stilisierte, das von Gott geschickt wurde, um der Menschheit dessen endgültige Botschaft zu übermitteln, erweiterte Muhammad den Islam von einem rein arabischen Glauben zu einer universellen Religion, die keine territorialen oder nationalen Grenzen kannte. Er etablierte zudem die Gemeinschaft der Gläubigen, die umma, als politischen Rahmen für die Ausübung dieser Religion in allen von ihr eroberten Gegenden; und er erfand den Begriff des jihad, des "Einsatzes auf dem Wege Gottes", als wichtigstes Vehikel zur Verbreitung des Islam. Muhammad führte diese Vorstellung kurz nach seiner Umsiedlung nach Medina ein, um seine lokalen Anhänger dazu zu bringen, die Karawanen aus Mekka zu überfallen; mit der Ausweitung seiner politischen Ambitionen entwickelte und erweiterte er dieses Konzept, bis es zu einem Aufruf zur Weltherrschaft wurde. So verkündete er seinen Gefolgsleuten in seiner Abschiedsbotschaft: "Mir wurde aufgetragen, alle Männer so lange zu bekämpfen, bis sie sagen: 'Es gibt keine Gottheit außer Gott.'"(9)

     Damit fügte sich Muhammad in das jahrtausendealte Vermächtnis des Nahen und Mittleren Ostens ein und stellte zugleich dessen Fortleben für viele weitere Jahrhunderte sicher. Vom ersten arabisch-islamischen Reich Mitte des 7. Jahrhunderts bis zu den Osmanen, dem letzten großen muslimischen Reich, ist die Geschichte des Islam die Geschichte vom Aufstieg und Fall universeller Imperien und - nicht weniger wichtig - imperialistischer Träume. Die Politik während dieses langen Zeitraums war gekennzeichnet durch einen fortwährenden Kampf; wenn schon nicht um die Weltherrschaft, so um regionale Dominanz, in dem die bestimmende Macht alle potenziellen Herausforderer zu unterwerfen und vorzugsweise ganz zu eliminieren suchte. Solche imperialistischen Bestrebungen blieben oftmals weitgehend unbefriedigt, denn dem entschlossenen Streben nach Absolutismus standen die ähnlich wirkmächtigen Kräfte der Fragmentierung und des Verfalls sowie mächtige externe Rivalen entgegen. Diese tiefe Kluft zwischen Größenwahnsinn und den zentrifugalen Kräften des Parochialismus und der lokalen Nationalismen vergrößerte sich in der Endphase des Osmanischen Reiches rapide; ihren Höhepunkt fand sie in dessen verheerender Entscheidung, auf der Seite der Verlierer in den Ersten Weltkrieg einzutreten, sowie in der Begründung eines imperialistischen Traums, der die Zeit der Osmanen überdauern sollte und die Politik des Islam und des Nahen Ostens bis zum heutigen Tag umtreibt.

     Dieses historische Entwicklungsmuster ist mit Sicherheit kein spezifi sch nahöstliches oder islamisches Phänomen. Auch andere Teile der Welt, insbesondere Europa, hatten ihren Anteil an imperialen Mächten und imperialistischer Expansion, und die universelle Vision des Christentums ist nicht weniger radikal als die des Islam. In einem grundlegenden Aspekt freilich haben sich die Welt des Christentums und die Welt des Islam unterschiedlich entwickelt. Der christliche Glauben gewann in einem äußerst langsamen und schmerzlichen Prozess ein bestehendes Reich für sich, und sein Universalismus war ursprünglich rein geistig gemeint und unterschied eindeutig zwischen Gott und Kaiser. Als die Kaiser von Byzanz das Christentum drei Jahrhunderte nach seiner Begründung als Instrument zur Untermauerung ihrer imperialen Ansprüche benutzten, verfügte es als Gegengewicht über eine kirchliche Institution, die dauerhaft Autorität über Willen und Handeln aller Gläubigen ausübte. Die Geburt des Islam war im Gegensatz dazu unaufl öslich mit der Schaffung eines Weltreichs verbunden, und sein Universalismus war von Natur aus imperialistisch. Er unterschied nicht zwischen weltlicher und religiöser Macht, beide waren in der Person Muhammads vereint, der seine Autorität unmittelbar von Gott bezog und gleichzeitig als staatliches und kirchliches Oberhaupt agierte. Aus diesem Grund konnte der Prophet seine politischen Ambitionen in eine Aura des Religiösen hüllen und die Energien des Islam zu einem "Instrument aggressiver Expansion bündeln, zu dem es als Gegengewicht keinen internen, gleich starken Organismus gab".(10)

     Während Jesus vom Reich Gottes sprach, benutzte Muhammad den Namen Gottes, um ein irdisches Reich zu errichten. Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte er damit, für die Einigung Arabiens unter seiner Herrschaft zu kämpfen. Wäre er nicht am 8. Juni 632 plötzlich gestorben, hätte er seine Herrschaft wahrscheinlich über die arabische Halbinsel hinaus ausgedehnt. Doch auch so war binnen eines Jahrzehnts nach Muhammads Tod in einem der weltgeschichtlich bemerkenswertesten Fälle von empire-building ein riesiges Reich entstanden, das unter dem Banner des Islam stand und sich vom Iran bis Ägypten und vom Jemen bis ins nördliche Syrien erstreckte. Lange nach dem Untergang des Osmanischen Reiches und der Abschaffung des Kalifats im Gefolge des Ersten Weltkriegs ist die enge Verbindung zwischen Religion, Politik und Gesellschaft in der muslimischen und arabischen Welt noch immer höchst lebendig.

     War die Christenheit langsamer als der Islam, als es darum ging, religiösen Universalismus mit politischem Imperialismus zu vermählen, so hat sie sich schneller von beiden Vorstellungen gelöst. Im 18. Jahrhundert hatte der Westen seinen religiösen Messianismus verloren. Abgesehen vom Dritten Reich gab er bis Mitte des 20. Jahrhunderts auch seine imperialen Ambitionen auf.(11) Der Islam hingegen hat sein imperialistisches Streben bis heute bewahrt.

Leseprobe Teil 2

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