Vorgeblättert

Leseprobe zu Emmanuel Carrère: Limonow. Teil 2

13.08.2012.
Ich brauchte eine ganze Weile, um seine Spur wiederzufinden und über Sascha Iwanow, einen Moskauer Verleger, an seine Handynummer zu gelangen. Und als ich die Nummer besaß, brauchte ich nochmals eine Weile, bis ich sie wählte. Ich zögerte, welchen Ton ich anschlagen sollte, nicht nur ihm gegenüber, sondern auch für mich selbst: War ich ein alter Freund oder ein argwöhnischer Ermittler? Sollte ich Russisch oder Französisch sprechen? Ihn duzen oder siezen? Ich erinnere mich an diese Unschlüssigkeit, doch seltsamerweise nicht an meinen ersten Satz, als er gleich nach dem ersten Klingelzeichen und noch vor dem zweiten Rufton abhob. Wahrscheinlich nannte ich meinen Namen, und ohne nur eine Sekunde zu zögern antwortete er: "Ah, Emmanuel. Wie geht's?" Überrumpelt nuschelte ich: "Gut". Wir kannten uns nicht näher und hatten uns seit fünfzehn Jahren nicht gesehen, ich glaubte ihn erinnern zu müssen, wer ich sei. Doch im selben Augenblick fuhr er fort: "Sie waren letztes Jahr bei der Versammlung am Dubrowka-Theater, nicht?"
Ich war sprachlos. Aus hundert Meter Entfernung hatte ich ihn lange angestarrt, doch unsere Blicke hatten sich nur einen kurzen Moment lang gekreuzt, und seinerseits hatte nichts, weder ein Innehalten noch ein Wimpernzucken, darauf hingedeutet, dass er mich erkannt hatte. Als ich mich später von meiner Verblüffung erholt hatte, dachte ich, Sascha Iwanow, unser Verleger-Freund, habe ihm vielleicht meinen Anruf angekündigt gehabt, aber ich hatte Sascha Iwanow nichts von meiner Teilnahme an der Dubrowka-Veranstaltung erzählt, das Rätsel blieb also ungelöst. In der Folgezeit wurde mir klar, dass es sich nicht um ein Rätsel handelte, sondern dass Limonow ein ungeheures Gedächtnis besaß und eine nicht weniger ungeheure Selbstkontrolle. Ich sagte ihm, dass ich einen längeren Artikel über ihn schreiben wolle, und er willigte umstandslos ein, sich zwei Wochen lang von mir begleiten zu lassen - "außer wenn sie mich wieder einlochen", fügte er hinzu.


3

Zwei junge, kahlrasierte Muskelprotze in Jeans, schwarzen Bomberjacken und Springerstiefeln holen mich ab, um mich zu ihrem Chef zu bringen. In einem schwarzen Wolga mit getönten Scheiben fahren wir durch Moskau, und ich rechne schon beinahe damit, dass sie mir die Augen verbinden, doch nein, meine Schutzengel begnügen sich damit, eilig den Hof des Wohnhauses, dann das Treppenhaus und schließlich den Treppenabsatz zu inspizieren, der zu einer kleinen, dunklen Wohnung führt, die wie eine Hausbesetzerbleibe eingerichtet ist und wo sich zwei weitere Skins mit Zigarettenrauchen die Zeit totschlagen. Eduard pendelt zwischen drei oder vier Wohnsitzen in Moskau, erklärt mir einer der beiden, und er wechselt sie so oft wie möglich, verbietet sich wiederkehrende Uhrzeiten und tut niemals einen Schritt ohne Bodyguards - Mitgliedern seiner Partei.
Meine Reportage fängt gut an, sage ich mir, während man mich warten lässt: geheime Verstecke, ein Leben im Untergrund, all das ist äußerst romantisch. Es fällt mir nur schwer, mich zwischen zwei Versionen von Romantik zu entscheiden: Terrorismus oder Widerstandsnetz, Carlos oder Jean Moulin - solange die offizielle Version nicht feststeht, haben beide jedenfalls gewisse Ähnlichkeiten. Ich frage mich auch, was Limonow seinerseits von meinem Besuch erwartet. Wird er mir misstrauen, weil die wenigen Portraits, die westliche Journalisten von ihm zeichneten, ihn zu einem gebrannten Kind gemacht haben, oder setzt er auf mich zum Zweck seiner Ehrenrettung? Ich bin ja selbst unentschieden. Es ist seltsam, sich auf eine Begegnung mit jemandem vorzubereiten, über den man vorhat zu schreiben, und dabei so wenig zu wissen, wie man es mit ihm halten will.
In dem spartanischen Büro mit geschlossenen Vorhängen, in das man mich schließlich führt, steht er da, in Jeans und schwarzem Pullover. Ein Händedruck, kein Lächeln. Er ist auf der Hut. In Paris duzten wir einander, aber am Telefon hatte er "Sie" gesagt, wir bleiben also beim "Sie". Trotz der fehlenden Praxis spricht er besser Französisch als ich Russisch, also gut, dann Französisch. Früher machte er täglich eine Stunde lang Liegestütze und Hanteltraining, das scheint er beibehalten zu haben, denn mit fünfundsechzig Jahren ist er immer noch schlank: ein flacher Bauch, eine jugendliche Gestalt, die glatte, matte Haut eines
Mongolen; aber er trägt jetzt einen Oberlippen- und einen Spitzbart, was ihm ein wenig das Aussehen des gealterten d'Artagnan in Zwanzig Jahre später und viel von einem bolschewistischen Kommissar und insbesondere von Trotzki gibt - nur dass Trotzki meines Wissens nach kein Bodybuilding trieb.
Im Flugzeug hatte ich eines seiner besten Bücher wiedergelesen, das Tagebuch eines Versagers, dessen Klappentext Farbe bekennt: "Wenn Charles Manson oder Lee Harvey Oswald Tagebuch geführt hätten, wäre es diesem hier ähnlich gewesen." Ich habe einige Passagen daraus in mein Notizbuch kopiert. Diese hier zum Beispiel: "Ich träume von einem gewaltsamen Aufstand. Ich werde niemals ein Nabokov werden, ich werde nie in der Schweizer Prärie auf englischsprechenden, haarigen Beinen Schmetterlingen hinterherlaufen. Geben Sie mir eine Million - ich kaufe dafür Waffen und sorge in egal welchem Land für einen Aufstand." Das war das Szenario, das er sich mit dreißig als mittelloser Emigrant auf dem Pflaster von New York sitzengelassen ausmalte - und bitteschön, dreißig Jahre später wird der Film gedreht. Er spielt darin die Rolle, von der er geträumt hatte: den Berufsrevolutionär, den Stadtguerillero, Lenin in seinem Panzerwagen.
Ich sage ihm das. Er muss lachen, ein kurzes, trockenes Lachen ohne Liebenswürdigkeit, bei dem er durch die Nasenlöcher schnaubt. "Stimmt", gibt er zu. "Was mein Leben angeht, habe ich mein Programm durchgezogen." Aber er führt aus: Es sei jetzt nicht mehr der richtige Moment für einen bewaffneten Aufstand. Er träume nicht mehr von einem Gewaltakt, sondern eher von einer orangen Revolution, wie sie gerade in der Ukraine stattfand. Einer friedlichen, demokratischen Revolution, die der Kreml seiner Meinung nach mehr als alles andere fürchtet und die er bereit ist, mit allen Mitteln niederzuschlagen. Aus diesem Grund führt er ein Leben als Verfolgter. Vor ein paar Jahren hat man ihn mit Baseballschlägern fertiggemacht. Und noch vor Kurzem ist er knapp einem Attentat entgangen. Sein Name rangiert auf den Listen der "Feinde Russlands" ganz oben, das heißt der Todeskandidaten, deren Adressen und Telefonnummern von inoffiziellen Handlangern der Regierung weitergereicht werden und die man auswählt, um sie öffentlich an den Pranger zu stellen. Die anderen auf diesen Listen waren Politkowskaja,
die mit einer Pumpgun kaltgemacht wurde, der Ex-FSB-Offizier Litwinenko, den man mit Polonium vergiftete, nachdem er die kriminellen Machenschaften seiner Behörde enthüllt hatte, und der Milliardär Chodorkowski, der heute in Sibirien inhaftiert ist, weil er sich in die Politik eingemischt hat. Und der nächste sei er, Limonow.

Am nächsten Tag hält er eine Pressekonferenz mit Kasparow. Im Saal erkenne ich die meisten der Aktivisten wieder, denen ich während meiner Reportage über Politkowskaja begegnet war, aber es sind auch ziemlich viele Journalisten da, vor allem aus dem Ausland. Manche wirken sehr aufgeregt, wie dieses schwedische Team, das keinen Kurzbericht machen will, sondern eine große Dokumentation mit drei Monaten Dreharbeiten über das, was sie der unaufhaltsame Aufstieg der Drugaja Rossija-Bewegung zu sein hoffen. Offenbar sind die Schweden davon felsenfest überzeugt und rechnen damit, ihren Film sehr teuer in alle Welt zu verkaufen, wenn Kasparow und Limonow erst einmal an der Macht sind.
Mächtige Schultern, ein warmes Lächeln - ein sympathischer Typ, dieser armenische Jude: Als Kasparow und Limonow die Tribüne besteigen, wirkt der ehemalige Schachchampion imposanter als letzterer, der mit seinem Spitzbart und der Brille eher die Rolle des kaltblütigen Strategen im Schatten des geborenen Leaders zu spielen scheint. Auch ist es Kasparow, der entschlossen loslegt und erklärt, warum die Präsidentschaftswahlen, die im kommenden Jahr - 2008 - bevorstehen, ein historisches Ereignis seien. Putin beende seine zweite Amtszeit, die Verfassung verbiete ihm eine dritte, und er habe rings um ihn herum alle so erfolgreich weggebissen, dass kein Kandidat aus den Reihen der Macht in Sichtweite ist. Zum ersten Mal in der Geschichte Russlands habe eine demokratische Opposition eine reale Chance. Da die Medien mundtot gemacht würden, wisse man nicht, inwieweit die Russen genug von den Oligarchen, der Korruption und der Allmacht des FSB haben, aber er, Kasparow, wisse es. Er redet gewandt, seine Stimme hat das Timbre eines Cellos, und ich beginne mir einzubilden, dass die Schweden möglicherweise recht haben. Ich möchte gern glauben, dass ich etwas Großem, Außergewöhnlichem beiwohne, etwas wie den Anfängen der Solidarno??. In diesem Moment feixt mein Nachbar, ein englischer Journalist, und flüstert mir mit gingeschwängertem Atem zu: "Bullshit. Die Russen verehren Putin und verstehen nicht, warum eine beschissene Verfassung ihnen verbieten soll, einen so guten Präsidenten dreimal hintereinander zu wählen. Aber vergessen Sie eines nicht: Was die Verfassung verbietet, sind drei Amtszeiten in Folge. Doch sie verbietet nicht, eine Runde auszusetzen mit einem Strohmann an der Spitze, der den Sessel warm hält, und danach wiederzukommen. Sie werden sehen."
Dieses Beiseit dämpft meine Begeisterung. Auf einen Schlag wechselt die Wahrheit wieder auf die Seite der Realisten, der Leute, die Bescheid wissen und sich nichts erzählen lassen, auf die meines spitzzüngigen Freundes Pawel, demzufolge die Geschichte von einer demokratischen Opposition in Russland etwas sei wie eine Rochade beim Dame-Spiel: in den Spielregeln nicht vorgesehen, hat noch nie funktioniert und wird auch nie funktionieren. Kasparow, den ich einen Augenblick zuvor noch bereit war, für einen russischen Wa??sa zu halten, wird zu einer Art François Bayrou, der mit jedem paktiert. Seine Rede kommt mir nun pathetisch und langatmig vor, und mein Nachbar und ich beginnen, eine Komplizenschaft von Hinterbänklern zu entwickeln, die unter den letzten Tischen im Klassenraum schweinische Bilder austauschen. Ich zeige ihm ein Buch von Limonow, das ich gerade gekauft habe. Es heißt Anatomie des Helden, wurde außer in Serbien nirgendwo übersetzt und enthält einen Innenteil mit pfundigen Fotos, auf denen man den fraglichen Helden, nämlich Limonow himself, in Tarnkleidung neben dem serbischen Milizionär Arkan herumstolzieren sieht, neben Jean-Marie Le Pen, dem russischen Populisten Schirinowski, dem Söldnerführer Bob Denard und noch ein paar ähnlichen Humanisten. "Fucking fascist …", kommentiert der englische Journalist.
Wir richten beide unsere Blicke auf Limonow. Etwas abseits neben Kasparow stehend hört er ihm zu, wie dieser die Verfolgungen durch die Staatsmacht anprangert, und er macht nicht den Anschein, auf das zu warten, worauf alle Politiker während einer solchen Veranstaltung warten würden: dass der Redner endlich fertig werde, um an seiner Stelle das Wort zu ergreifen. Er sitzt einfach da, aufmerksam, so aufrecht und ruhig wie ein buddhistischer Mönch bei der Meditation. Die warme Stimme Kasparows ist jetzt nur noch ein Hintergrundgebrumm: Nun ist es das unergründliche Gesicht Limonows, das ich unter die Lupe nehme, und je mehr ich es prüfe, desto deutlicher wird mir bewusst, dass ich nicht die geringste Vorstellung davon habe, was er denkt. Glaubt er wirklich an diese orange Revolution? Amüsiert es den outlaw, den bissigen Hund, mitten unter ehemaligen Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten, die er sein ganzes Leben lang als naiv bezeichnet hat, den tugendhaften Demokraten zu spielen? Genießt er es im Stillen, sich als Wolf im Schafstall zu sehen?

Ich finde in meinem Heft eine andere Passage aus dem Tagebuch eines Versagers wieder: "Ich habe mich auf die Seite des Schlechten geschlagen, auf die von Käseblättern, Flugzettelkopien
und Parteien, die nicht die geringste Chance haben. Ich liebe politische Versammlungen, die nur eine Handvoll Leute zusammenbringen, und die Kakophonie von untalentierten Musikern. Und ich hasse Symphonieorchester. Wenn ich eines Tages die Macht besäße, würde ich allen Geigern und Cellisten die Kehle durchschneiden." Ich hätte die Stelle gern dem englischen Journalisten übersetzt, aber das ist nicht nötig; er musste im selben Moment das Gleiche gedacht haben, denn er beugt sich zu mir herüber und sagt, dieses Mal ohne im Geringsten zu lächeln: "Seine Freunde sollten sich in Acht nehmen. Wenn er zufällig an die Macht käme, wäre das Erste, was er täte, sie alle über den Haufen zu schießen."

Auch wenn es nicht von statistischem Wert ist: Im Laufe dieser Reportage habe ich mit über dreißig Personen Gespräche über Limonow geführt, darunter sowohl Unbekannte, deren Auto ich mitbenutzte, denn jedermann in Moskau fährt schwarz Taxi, als auch Freunde, die zu denen gehören, die man mit viel Vorsicht formuliert russische Toskana-Fraktion oder linke Yuppies nennen könnte: Künstler, Journalisten, Verleger, die ihre Möbel bei IKEA kaufen und die russische Ausgabe von Elle lesen, Leute, die alles andere als überdreht sind - und dennoch hörte ich von keinem von ihnen ein Wort gegen Limonow. Keiner sprach das Wort "Faschismus" aus, und wenn ich sagte: "aber diese Fahnen, diese Slogans …", dann zuckten sie mit den Schultern und fanden mich reichlich prüde. Für sie war es, als sei ich gekommen, um Houellebecq, Lou Reed und Cohn-Bendit gleichzeitig zu interviewen: Zwei Wochen mit Limonow, hast du ein Glück! Das bedeutet freilich nicht, dass diese vernünftigen Leute bereit wären, ihn zu wählen - nicht mehr als die Franzosen, stelle ich mir vor, Houellebecq wählen würden, wenn sich die Gelegenheit dazu böte. Aber sie lieben sein aufrührerisches Wesen, sie bewundern sein Talent und seine Unverfrorenheit, und die Zeitungen, die ununterbrochen über ihn berichten, wissen das. Alles in allem: Er ist ein Star.

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