Vorgeblättert

Leseprobe zu Georg Klein: Roman unserer Kindheit. Teil 3

01.03.2010.
Der Mann ohne Gesicht hat nicht geschlafen. Der Mann ohne Gesicht schläft nie. Die vielen zwischen jungen Bäumen durchwachten Nächte erscheinen ihm jetzt, wo er den Wald geopfert hat, wie eine idiotisch lange Kette aus grüngebeizten hölzernen Perlen. Es sind so viele, dass er sich beim Rückwärtsfingern im Nu an ihre Ähnlichkeit, an ihre plumpe Serialität verliert. Sogar die Jahreszeiten schieben sich ihm in der Erinnerung übereinander. Er sieht den jungen Fuchs, bis an den Bauch im hohen, mondhellen Schnee, und spürt im selben Vergangenheitsmoment die Landung einer Mücke auf der verschwitzten Haut des nackten Ellenbogens.

Die erste Nacht im Wohnblock wurde von einem kühlen Kobaltblau durchschimmert. Noch hängen keine Vorhänge vor seinen Fenstern, und die hohe Bogenlampe am anderen Ende des Hauses ist so stark, dass ihr kaltes, monochromes Strahlen bis an den dritten Aufgang reicht. Er lag auf seinem Bett. Punkt zwölf erlosch die Straßenbeleuchtung. Schlagartig war die Wohnung wieder so warm, wie es sich, auch nach einem großen Regen, im August gehört. Der Mann ohne Gesicht ging hinüber in seine neue Küche, schwenkte die Flügel des Fensters ganz nach innen, zog einen seiner beiden Stühle heran, um sich den vorderen Block, den erbsengrünen Kasten, das Gehäuse der Kinder, mit nächtlicher Muße anzusehen.


Im Morgengrauen glaubte er das Gebäude im Groben durchschaut zu haben. Drüben wurden die ersten Schlafzimmervorhänge zurückgeschoben, genau gegenüber knackte das Kellerschloss. Ein Mann, etwa in seinem Alter, stemmte ein silbernes Moped die schmale Schräge neben den Treppenstufen herauf. Es ließ sich nicht vermeiden, die Schwingung des Fremden aufzunehmen. Auch um sich diesem Pulsieren, den Kraftfeldern der anderen Kriegsteilnehmer, zu entziehen, war der Mann ohne Gesicht vor Jahr und Tag in den Wald gegangen. Der an der Kellertreppe hat keinen einzigen Schuss auf einen fremden Körper abgefeuert. Erst ganz zuletzt sind ihm ein Dutzend blutnasser Löcher in Uniformen, ein einziger in großen Fetzen aufgerissener Armstumpf und langgezogene, bräunlich verwischte Schlieren im Traumblau des Mittelmeers als sein Anteil an der Kriegsbildflut mit auf den Weg gegeben worden. Brav hat er dies alles, Fleisch für Fleisch, Knochen für Knochen, Blutloch für Blutloch, auf dem anschließenden Friedenstrott für sich behalten. Nur einmal, als er und seine Frau mit einem schwachbrüstigen Dreiradlieferwagen, ihrem Umzugsauto, ganz langsam die damals noch nicht asphaltierte Straße aus Oberhausen in die Neue Siedlung hinauftuckerten, hat er dem Druck der Bilder nachgegeben und der Mutter seines Erstgeborenen, die schon die Zwillinge im Leibe trug, ein wenig von diesem mörderischen Blau, von seinem Griechenland ins Ohr geflößt.

Am heutigen Morgen stieg er mit Schwung in die Pedale seines aluminiumfarbenen Mopeds. Nach einer einzigen Umdrehung sprang das Motörchen an. Er ahnte, wie viele seiner Wohnblocknachbarn das Losknattern des Zweitakters aus dem Schlaf riss. Aber allein um den Schlummer Annabett Böhms, um deren letzte Tiefschlafrunde, die vielleicht für die Frische ihrer Schönheit unerlässlich war, tat es ihm kurz ein wenig leid. Sein eigenes Eheweib hatte in der zurückliegenden Nacht erneut alles, was ihr die Kinder an Kraft gelassen hatten, den ersten hundert Seiten eines Romans geopfert. Um ihn nicht zu sehr zu stören, blätterte sie mit spuckefeuchtem Zeigefinger um. Bis weit nach Mitternacht hatte sich der stille, von leisem Rascheln getaktete Exzess auf der anderen Seite des Ehebettes hingezogen. Wie immer war sie mit dem Weckerklingeln als Erste aufgestanden, um ihm Frühstück zu machen, und allenfalls zum Weiterlesen ihres Wälzers würde sie sich noch einmal ins Bett zurückbegeben. Ein hohes Glas Kaffee, bestimmt bereits ihr drittes, maß dann die Zeit. Sein Älterer ging leider Gottes völlig nach der Mutter, verschmökerte wie sie die halbe Nacht und spintisierte dann vor seinen Freunden im Hof herum wie ein Märchenerzähler auf dem Basar.

Er ließ die Kupplung kommen, das schnitt ihm die Familie ab. Die Baustelle wartete. Das hieß an diesem Arbeitsmorgen: Der frischgebackene Polier, dieser übereifrige junge Affe, würde nicht zögern, jedes Zuspätkommen minutengenau in seiner Kladde zu vermerken. Das Moped kurvte auf den Drosselgrund hinaus. Der Mann ohne Gesicht ließ ihn samt seinem morgendlichen Murren hinter der Breitseite des rosa Blocks verschwinden. Genug verstanden. Er hatte erfasst, wie sehr dieser Altersgenosse, dieser vorgebliche Handwerker, sein Handwerk hasste, er hatte lang genug mitgefühlt, um zu begreifen, dass der Vater des Älteren Bruders und der Zwillinge niemals seinen Männerfrieden mit der lächerlich blanken Kelle und dem blöd stumpfen Mörtel machen wird.

Durchsetzt von den Rückständen dieses Widerwillens schwebte der Auspuffdunst als eine quecksilbrige Schwade in der klaren kühlen Luft. Der Mann ohne Gesicht stellte sich vor, wie das verbrannte Benzin-Öl-Gemisch allmählich in immer zarteren, schließlich unsichtbar gewordenen Wirbeln über die Wiese herangezogen kam, er wusste, wie es für ihn riechen würde, wenn er noch riechen könnte. Und wie zum Trost fiel ihm ein allerletzter verspäteter Einblick in die Vorzeit des Abgefahrenen zu. Dieser Mann, der es verabscheute, zu mauern, Böden zu betonieren und Wände zu verputzen, hatte auch den erbsengrün gestrichenen Block, in dem er nun schon über sieben Jahre wohnte, mit seinen Kollegen aus dem aufgewühlten Grund der Stadtrandwiesen hochgezogen. Während die letzten beiden Blöcke, der böse türkise und der schlimme weiße Kasten, parallel in Arbeit waren, war er mit seiner hochschwangeren Frau und ihrem ersten Sohn in die noch nicht ganz trockene Neubauwohnung eingezogen. Durch diese Kellertür, die er inzwischen tausendmal und mehr auf- und zugeschlossen hat, kam er bereits damals herauf, kreuzte in seinem Berufskostüm, im graufleckigen Weiß der Maurer, auf einem Trampelpfad die Wiese, um in wenigen Minuten die Gerüste zu erreichen, über deren wippende Bretter er und die Kollegen Montag bis Freitag und den halben Samstag stapften. Das war zu nah gewesen. Damals, als sie den weißen Block, trotz der elenden Widrigkeiten, trotz der drohenden Unnutzbarkeit, bis an die Dachkante hochgezogen hatten, stand er einmal kurz vor Feierabend als Letzter oben. Unten wummerte der Kompressor, quietschte die Pumpe. Am nächsten Morgen würde das rötlich verfärbte Wasser wieder kniehoch in den Kellern stehen. Er stieg auf eine Werkzeugkiste. Mit einem einzigen langen Blick, mit einem Panoramaschwenk vom Rosenhang zum Gaswerk, hinüber zum frischgedeckten türkisen Block und von dort, vorbei am Kirchturm, zurück zum Hang, zu den Kastanienwipfeln im Garten der alten Bärenkeller-Wirtschaft erfasste der Vater des damals dreijährigen Älteren Bruders, wie ungut nah sein elendes Malochen dem erneut, dem eventuell zum letzten Mal rund gewordenen Bauch seiner Frau gekommen war.

Später kocht sich der Mann ohne Gesicht starken schwarzen Tee, lässt aber Kanne und Tasse am Gasherd stehen. Er braucht den Tisch ganz nackt. Aus dessen Schublade nimmt er einen dicken rotlackierten Bleistift, wie ihn nicht nur die Zimmermänner, sondern auch viele Maurer in der schmalen Knietasche ihrer Arbeitshose stecken haben. Mit seinem Walddolch schnitzt er ihm eine schöne, spatelförmig zulaufende Spitze. Der Stiel des Kochlöffels ist glatt genug, um als Lineal zu taugen. Wohnblock auf Wohnblock rillt der Mann ohne Gesicht in das weiche Holz seines Küchentisches. Fünf Rechtecke reihen sich, jedes kleinfingerlang, den Drosselgrund entlang, bis an dessen Ende, bis an die alte, der Siedlung vorgängige Buche, bis an das Spielplatzgelände, dessen erstaunliche Ausdehnung er gestern Abend, als der Regen nachließ, bei einem ersten Spaziergang in Augenschein genommen hat. Reicht ihm der Tisch? Reicht seine Platte für alle weiteren wesentlichen Orte? Vielleicht hat er sich gestern, im Furor der Ankunft, doch mit dem Erspüren der Verhältnisse vertan. Vielleicht war sein Forschen in den braunen Augen dieser pitschnassen Sybille zu ungeduldig, um die Begrenzungen des Raumes sauber und maßstabsgetreu unter ihren langen Wimpern hervorzuholen. Das wäre halb so schlimm. Falls der momentane Aufriss nicht stimmen sollte, wird er den Hobel aus dem Werkzeugkasten nehmen und seinen Küchentisch wieder so blank ziehen, wie er es halt für eine neue, bessere Skizze braucht.


Für mich ist Glauben alles. Mein erzfrommes bisschen glaubte gleich mit dem ersten Blick, dass der Mann ohne Gesicht die Rechtecke stimmig und gültig in seinen Tisch gegraben hatte. Es passte genau. Es stimmt perfekt. Wiederum habe ich nichts dagegen, dass es so bleibt. Erneut soll die Zeichnung meinen kleinen Segen haben. Als unser Mann ohne Gesicht dann gegen Mittag zu einem längeren Rundgang aufbrach, zog es ihn gleich wieder zum Spielplatz. In Schleifen, den Kieswegen folgend, aber auch quer über die Wiesen, schritt er geduldig fast das ganze parkähnliche Gelände ab, steckte sogar an der einen oder anderen Stelle den Kopf ins Gebüsch. Hinter den Kettenschaukeln half ich ein wenig nach, damit er schneller auf den Trampelpfad fand, an dessen Ende er, durch dichtes Blattwerk lugend, die Kinder entdecken konnte. Sie spielten an einer Couch, die irgendjemand in dem Heckenrosengestrüpp, das sich den Hang hinunterzieht, einem letzten Freiluftschicksal überlassen hatte. Er pirschte näher, um ihr Reden zu verstehen, stellte sich schließlich hinter ein etwas stärkeres Stämmchen, um ungesehen zu bleiben.

Die Kinder kämpften mit der Kippmechanik des Polstermöbels. Wenn sie sich gegen die Lehne stemmten, ließ sich das Sofa flach klappen, bei Gegenzug sprang das Rückenteil wieder in die alte Position zurück. Nur die dritte Stellung, die seinen hohlen Bauch entdeckelt hätte, konnten sie einfach nicht erzwingen. Sie wollten aber unbedingt in diesen Unterkasten schauen. Der Mann ohne Gesicht erwog gerade, ob er hingehen und ihnen helfen sollte, da sah er, wie sie an den alten Zwillingskinderwagen traten, um sich mit ihrem Anführer zu beraten. Der dünne Junge mit dem bandagierten Bein hatte eine Idee, und ohne Zögern führten sie die anderen aus. Gemeinsam wurde eine Schmalseite des Sofas angehoben, die Zwillinge schlüpften unter das in Bauchhöhe gebrachte Eck und drückten von unten mit Köpfen und Händen. Das Mädchen machte es ihnen nach, die Jungen bekamen die langen Kanten des Möbels auf die Schultern und tippelten nach vorn, kurz stand das Sofa senkrecht, bevor es umgestürzt auf seine Lehne krachte.

Mit Juchzen wurde begrüßt, dass sich beim Aufprall endlich die Sitzfläche vom Unterkasten gehoben hatte. Schon waren alle am aufklaffenden Spalt, um nachzuschauen, was da eben beim Anheben die Schräge hinuntergepoltert und dann beim Umfallen herausgepurzelt war. Aber genauso schnell waren sie auch schon zurückgewichen. Der Junge mit dem weißbandagierten Bein, der Junge im geköpften Kinderwagen rief seinen Freunden zu, was sie denn hätten, was es Besonderes zu sehen gebe. Der Kräftigste der anderen, der, dem die Haare wie eine toupierte Mähne, wie eine Stummfilmfrisur vom Schädel standen, stemmte statt einer Antwort die Karre bis an die Couch, dorthin, wo ungeschützt im Gras lag, was in ihr verborgen gewesen war.

Nur wenig später sind die Kinder auf und davon. Das Rattern der überladenen Karre, deren Räder ab einem gewissen Tempo begannen, an die Schutzbleche zu schlagen, schwingt dem Mann ohne Gesicht noch durch den Kopf. Das Sofa reckt alle viere Richtung Himmel. Er geht hinüber, greift mit beiden Händen in den Winkel zwischen Sitzfläche und Lehne, stemmt das Möbel hoch und lässt es wieder auf seine Beinchen plumpsen. Erst jetzt sieht er auf der Wiese liegen, was vorhin aus dem Kasten gefallen ist. Er tut die fehlenden zwei Schritte und könnte nun, wo es fast an die Spitzen seiner Stiefel rührt, mit diesen dagegenstupsen, aber das lässt er lieber sein. Stattdessen macht er kehrt, durchbricht die Büsche, kreuzt die angrenzende Wiese diagonal, marschiert schnurstracks nach Hause, um seinen Klappspaten zu holen.

Auch in der Wohnung hält er sich nicht lang auf, öffnet bloß den Werkzeugkasten, packt das praktische kleine Grabgerät und wirft es in seine Einkaufstasche. Der Rückweg geht ihm, obwohl er, auf den Drosselgrund gekommen, in einen zögerlichen Trott, fast in ein verlogenes Schlendern fällt, dann viel zu schnell. Unter der alten Buche gönnt er sich noch einen Halt und lehnt sich, obwohl er nicht an das Gute oder Heilende in den Pflanzen glaubt, gegen den glatten Stamm. Am Rosenhang ist weit und breit kein Mensch zu sehen. Er hebt die nötige Grube, ein Grübchen nur, nahe neben dem Sofa aus, damit er dessen frühere Fracht bloß mit der Spatenkante hineinzuschieben braucht. Als er den größten Teil der Erde zurückgekratzt hat und das sauber ausgestochene Wiesenstück wieder an seine alte Stelle drückt, wölbt sich die Sode nicht sonderlich empor. So wenig Raum nehmen die kleine rauhaarige Dackelhündin und ihre beiden nackten, im Licht unserer Welt blaulila angelaufenen Welpen nun im Dunkeln unter den haarfeinen Wurzeln des Grases ein.

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Mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlages

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