Vorgeblättert

Leseprobe zu György Dalos: Der Fall des Ökonomen. Teil 3

05.03.2012.
Ob ich um den Vater trauern werde?, fragte sich Kolozs nun dreizehn Jahre später. Die arme Mutter habe ich kaum beklagt, gestand er sich beschämt ein. Ob mich sein Tod schmerzen wird, ob ich ihn wohl vermissen werde? Jetzt kann ich nicht mehr behaupten, wie noch vor ein paar Stunden, nur mit seinen Sachen beschäftigt zu sein. Meine Pflichten als Sohn habe ich mit der Beerdigung erledigt. Es gibt nur noch ein paar Formalitäten - die Abgabe seines Ausweises, die Benachrichtigung einiger ihm oder mir nahestehender Personen. Dann bleibt mir vielleicht nur noch der Schmerz, aber wie soll ich ihn, falls ich ihn empfinde, zum Ausdruck bringen? Seit meiner Schulzeit habe ich nie mehr geweint, und ich bin nicht fähig dazu, nicht einmal zu einer einzigen Träne. Noch lange werde ich seine schlurfenden Schritte hören und seine Morgengebete - aber wir werden nicht mehr gemeinsam essen. Ich werde ihm nicht mehr helfen, sich unter die Dusche zu stellen, und er wird nicht mehr behaupten, das doch allein zu können. Ich ziehe ihm nicht mehr seinen Bademantel an, bevor ich die Fenster zum Lüften öffne. Ich kaufe für ihn keine Fladen mehr in der jüdischen Konditorei, bei deren Geschmack in seinen alten Augen eine fast kindische Freude aufblitzte. All das wird mir noch einige Monate lang fehlen, aber auch dieser Mangel wird sich bald in zahllosen lösbaren und unlösbaren Sorgen verlieren.
     Wäre ich ein frommer Jude, sagte sich Kolozs, müsste ich mir nun die Frage stellen: Schämst du dich nicht, Gábor Kolozs? Wie kommst du dazu, nicht für immer um den Mann zu trauern, der dich gezeugt hat, dem du letztlich dein Leben verdankst? Pechvogel, der du bist, kann es sein, dass es vielleicht doch einen Gott gibt, der dich persönlich zur Rechenschaft ziehen wird wie alle selbstgefälligen Atheisten! Während jedoch die Ungläubigen das Risiko eingehen, dass die Schrecklichkeit, die man als Leben bezeichnet, im ungünstigen Fall jenseits des Grabes weitergeht und jemand ihnen wegen ihrer Sünden später die Leviten liest, muss der gläubige Mensch ständig in einer anderen Angst leben. Egal wie tugendhaft er auch ist, vielleicht wird ihm niemand dafür im Jenseits den Kopf tätscheln - aus dem einfachen Grund, weil es wahrscheinlich kein Jenseits gibt.
     Aber ich bin kein frommer Jude, und die Dankbarkeit, die ich meinem Vater angeblich schulde, kann ich nur im Namen einer abstrakten bürgerlichen Moral aufbringen. Für mich selbst muss ich sie in Frage stellen. Gut, wir haben sechs Jahre lang zusammen von seiner Rente und seiner Wiedergutmachung gelebt, und deshalb bin ich ihm gegenüber zu einigem verpflichtet. Aber hat er etwa vor seinem Schöpfer keine Verantwortung auf sich genommen, als er mich in die Welt gesetzt hat? Darum habe ich ihn nicht gebeten, hatte aber auch nicht die Möglichkeit dazu. Rechnen wir doch ein bisschen nach, grübelte Kolozs im Abteil zweiter Klasse des Eurocity Borsod, das er auf der Rückfahrt nach Budapest ganz für sich alleine hatte. Ich bin im August 1944 geboren, meine Zeugung fand also im November oder Dezember 1943 statt. Meine Eltern wohnten damals bereits vier Jahre zusammen und schliefen ab und zu miteinander - wenn schon aus keinem anderen Grund, dann aus Mizwe, eben weil es dazugehörte. Wollten sie überhaupt ein Kind, oder haben sie nur dem Schicksal die Frucht ihres freudlosen Beischlafs anvertraut? Welche Erwartungen hatten sie an ihre beschissene Zukunft? Schließlich wussten sie, dass der Krieg wütete und die Juden mit nichts Gutem zu rechnen hatten. Unter diesen Umständen war doch schon der bloße Gedanke an Nachwuchs eine Verantwortungslosigkeit! Sie hätten auch wissen können, dass sie sich um den, der da zur Welt kam, zeitlebens Sorgen machen mussten!
     Aber dennoch, da war noch so manches andere - zum Beispiel der Alltag, den sein Vater und er geteilt hatten. Gemeinsam am Tisch sitzend, löffelten sie sechs Jahre lang die dünne Suppe der Gemeinde und waren durch diesen elementaren Akt miteinander verbunden, ohne ein Wort zu wechseln. Kolozs ertappte sich manchmal dabei, wie er Gesicht und Stirn des zahnlos und schwerfällig kauenden Vaters betrachtete. Er kannte alle Runzeln, jede Erhebung in diesem Gesicht, wie sich Kartographen auf der Landkarte mit Bergen und Gewässern auskennen. Für ihn war jedes Stöhnen und Gähnen eine Meinungsäußerung, jedes nächtliche Räuspern, Husten und Schnarchen eine Mitteilung. Nie in seinem Leben hatte es einen Menschen gegeben, geschweige denn eine Frau, mit dem ihn eine solch intensive körperliche Nähe verband. Und doch hütete er sich davor, diese Nähe als Liebe zu bezeichnen.

Als er abends um acht den Schlüssel zweimal im Schloss herumdrehte und die Wohnung betrat, kam es ihm einen Moment lang so vor, als sei seit Dienstagnachmittag nichts geschehen. Der als Raumteiler dienende Vorhang war geschlossen - Kolozs hatte ihn mit der gewohnten Handbewegung zugezogen, bevor er mit dem Va-ter zum Arzt fuhr. Der Raum sah genauso aus, als läge der Alte im Bett. Der über die Stuhllehne gehängte Bademantel schien darauf zu warten, den Vater gegen die beim Lüften des Zimmers hereinbrechende scharfe Kälte zu schützen. Auch das Alte Testament lag auf seinem gewohnten Platz an der Tischkante. Zwischen zwei Seiten des Buches Hiob befand sich eine hellblaue Papierserviette, obwohl das Buch sich ohnehin dort öffnete, wo das Lieblingszitat des Vaters zu lesen war, Hiobs vorwurfsvolle Frage an den Herrn: "Lass mich wissen, warum du mich vor Gericht ziehst. Gefällt dir's, dass du Gewalt tust und verwirfst mich, den deine Hände gemacht haben?" Nun verdirbt der Alte letztendlich das seltsame Amüsement des Ewig-Seienden, dachte Kolozs. Denn alle anderen Zeichen verrieten, dass es den Vater nicht mehr gab - vor allem die drei Portionen Mittagessen, die vom Donnerstag und die für den Sabbat gebrachte Zweitagesportion. Du lieber Gott, dachte Kolozs, wer soll das alles bloß essen? Dann aber fiel ihm ein, dass er seit dem frühen Morgen keinen Bissen mehr zu sich genommen hatte, und plötzlich schmerzte ihn die Leere im Magen. Zuerst goss er die Fleckerlsuppe in einen kleinen Topf, dann füllte er die Kohlrouladen in eine Kasserolle und stellte beides auf den Gasherd, während er die anderen Einwegdosen in den Kühlschrank räumte. Er verzehrte mit großem Appetit die beiden aufgewärmten Portionen - nie hätte er gedacht, so viel auf einmal und so schnell essen zu können. Erst beim Nachtisch, der Vogelmilch, fiel ihm wieder ein, dass er bisher das Essen mit dem Vater geteilt hatte. Da dieser ein ausgesprochener Süßschnabel war, hatte Kolozs jedes Mal zu ihm gesagt: "Ich lasse dir ein bisschen mehr übrig, Vater." Darauf hatte der Alte mit einer matten Handbewegung reagiert, was er jetzt nicht mehr tun konnte. Und das ist jetzt wohl meine Abschiedsmahlzeit, dachte Kolozs, während er das Geschirr spülte.
     Ganz deutlich, geradezu schrill vom Ableben des Vaters sprach die orangefarbene, mit Blumen verzierte Strandtasche aus Plastik, in der Kolozs am Mittwoch die Habseligkeiten des Alten aus der Klinik zurückgebracht hatte. Die große Tasche war ursprünglich gemäß ihrer Bestimmung genutzt worden. Die Mutter hatte Handtücher, Bademäntel, Badekappen, sogar ein Plaid hineingestopft, wenn sie sich entschied, an Sommerwochenenden mit ihrem Sohn in das Volksbad Dagály zu gehen. Voraussetzung war, dass das Kind sich die ganze Woche über gut benommen hatte. Dementsprechend tat Kolozs in der Strandsaison sein Bestes, in den Augen der Mutter nicht auffällig zu werden, und bedauerte nur, dass der Vater niemals an diesen genussvollen Ausflügen teilnahm. Darüber befragt, antwortete der Alte, es seien zu viele Leute dort, und er habe wenig Lust, in glühender Sonne vor der Kasse Schlange zu stehen. "Das erinnert mich an den Appellplatz", sagte er.

Außerdem brachte die Mutter in der Strandtasche auch immer das Bettzeug zum Mangeln in die Wäscherei, und nach jener furchtbaren, aber glücklich überstandenen ersten Herzattacke packte sie zum ersten Mal die Sachen des Vaters hinein, als dieser ins Sanatorium fuhr. Danach stand die Tasche unten im Kleiderschrank - "Hoffentlich habe ich sie nie mehr nötig", scherzte der Vater. Jetzt brauchte er sie wirklich nicht mehr, ebenso wenig wie seinen Pyjama, die Zahnbürste, die Brille und auch das Buch der Bücher, das sich spontan immer an derselben Stelle öffnete.

Während Kolozs am Küchentisch mit einem Kaffeelöffel den letzten Rest Vogelmilch aus dem kleinen Plastikbecher herauskratzte, kam ihm in den Sinn: Ich habe jetzt ein eigenes Zuhause. Zum ersten Mal in meinem Leben wohne ich in einer eigenen Wohnung, in der ich keinen Quadratmillimeter mit jemandem teilen muss. Diese Feststellung widersprach nicht nur der sozusagen theologisch fragwürdigen Annahme, der Vater sei restlos aus seinem Leben verschwunden, sondern auch Kolozs' tatsächlicher Wahrnehmung. Zweifellos hatte er seit frühester Kindheit vor allem bei seinen Eltern gewohnt. In zwei von seinen fünf Moskauer Studienjahren hatte er zwar ein eigenes winziges Zimmer im Wohnheim gehabt, musste sich allerdings mit dem Säufer Sascha Martynow Dusche und WC teilen. Nach seiner Rückkehr zog er wieder in die Klauzál-Straße zu seinen Eltern, um später mehrere Jahre lang in der Wohnung des im Ausland arbeitenden Laci Bakos zu leben. Nach der Wende bewohnte er für kurze Zeit seine für teures Geld gemietete Zweizimmerwohnung, musste aber bald in das gewohnte Loch in der Elisabethstadt zurückkehren. Das Erlebnis, dauerhaft einen Raum zu besitzen, über den er frei verfügen konnte und der nur jenen offenstand, die er hineinlassen wollte, blieb ihm fast sein ganzes Leben lang so fremd, dass er davon nicht einmal träumte.
     Was seine Kindheitserinnerungen betraf, die sogenannte Familienüberlieferung, so konnte sich Kolozs weder aus den Hinweisen des wortkargen Vaters noch aus den unablässigen Schimpftiraden der Mutter erklären, warum sie "nach allem, was geschehen ist", dennoch im ehemaligen Ghetto geblieben waren. In der Klauzál-Straße waren sie seit 1944 in einer Vierzimmerwohnung auf der dritten Etage mit dreißig anderen Leuten zusammengepfercht gewesen. Unmittelbar nach Kriegsende durften sie in das Haus Nummer 2 ziehen, ins Erdgeschoss gegenüber der Hausmeisterwohnung, was eine große Erleichterung gewesen war. Nachdem die Russen das Ghetto befreit hatten, waren fast alle Juden innerhalb weniger Wochen ausgezogen. Sie transportierten ihre Habe mit gemieteten Pferdekutschen oder mit Handwagen zu ihren früheren Wohnungen, die seinerzeit von den Pfeilkreuzlern konfisziert und an ihre Anhänger verteilt worden waren. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Vater aber noch als Häftling in Mauthausen. Die arme Mutter konnte mit dem kleinen Kind auf dem Arm nicht viel tun, um ihre Lage zu verbessern, und wartete auf die Rückkehr des Mannes. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass dieses erfreuliche Ereignis auf jeden Fall eintreten würde. Was ihre ehemalige Wohnung am Elisabethring betraf, die sie bis 1944 bewohnt hatten, so sah die Mutter erschüttert bei einem Spaziergang, dass das Haus völlig zerbombt war, so dass sie nicht dorthin zurück konnten. Als Dr. Dániel Kolozs Anfang Juni in Budapest eintraf und mit Hilfe der jüdischen Gemeinde seine Familie wiederfand, waren alle nutzbaren Wohnungen vergeben. Sogar die achtundfünfzig Quadratmeter im Parterre gegenüber der Hausmeisterwohnung durften sie nur deshalb beziehen, weil sich ein Mithäftling aus Mauthausen, der in der kommunistischen Partei das große Wort führte, für sie bei der Wohnungsverwaltung verwendet hatte.
     Ob die von der Mutter vielfach verfluchte und später auch vom halbwüchsigen Kolozs konstatierte Lebensuntauglichkeit des Vaters oder die sprichwörtliche Wohnungsmisere den Ausschlag gegeben hatte bei der Entscheidung, in diesem Haus zu bleiben, war im Nachhinein nicht mehr festzustellen. Es war eine Tatsache, dass sie dauerhaft in der Klauzál-Straße kleben blieben und in der armseligen kleinen Wohnung höchstens einige strukturelle Veränderungen vornehmen konnten. Eine solche war die Badewanne mit dem dazugehörenden, kohlebeheizten Boiler Ende der fünfziger Jahre. Diese ersetzten sie zehn Jahre später durch eine Dusche, um knapp anderthalb Quadratmeter Raum zu gewinnen. Jahre danach, als Kolozs aus Moskau heimkehrte, teilten sie ein Drittel des Zimmers mittels einer hauchdünnen Wand ab, damit er als erwachsener junger Mann nicht mit den Eltern in einem Raum schlafen musste. Dieses Séparée war durch eine Mattglastür begehbar. Fast zeitgleich wurde das Zimmer noch einmal durch einen Vorhang geteilt. Die zuvor gemeinsam zum Schlafen genutzte Récamiere wurde nun dem Vater allein zugesprochen. Die Mutter schlug ihr Lager auf einem Kanapee an der gegenüberliegenden Wand auf, mit der Begründung, sie fühle sich durch das ständige Schnarchen und Schnaufen des Alten gestört. Kolozs, zu dem trotz der Trennwand alle nächtlichen Laute, auch das Röcheln und die gelegentlichen Schreie des Vaters, gelangten, schöpfte damals den Verdacht, dass die Mutter mit den Jahren die körperliche Nähe des Vaters immer schwerer ertrug und diesem Missgefühl einen geographischen Ausdruck verleihen wollte.
     Gleichzeitig verspürte auch Kolozs in allen Etappen seines erwachsenen Lebens, die er in der Klauzál-Straße verbringen musste, großes Unbehagen. Die Wohnung war so aufgeteilt, dass er nur durch das Zimmer in den für ihn vorgesehenen getrennten Raum gelangen konnte, und ebenso führte der Weg zu Küche, Dusche und WC durch den von den Eltern bewohnten Sektor. Dennoch akzeptierte er mangels einer besseren Lösung das ständige Zusammensein, inklusive der Unannehmlichkeiten, die sich aus Parallelitäten von Ernährung und Stoffwechsel ergaben.
     Der Vater störte ihn nur wenig. Außer seinen nächtlichen Geräuschen, dem gemurmelten Morgengebet und einzelnen Bemerkungen, die nur selten einen ganzen Satz ergaben, führte er eine beinahe lautlose Existenz. Hingegen waren bei der Mutter sogar alltägliche Verrichtungen wie das Decken des Tisches, das Schneiden von Brot oder das Bügeln eines Hemdes mit erheblicher Geräuschentwicklung verbunden, und sie entfaltete eine Stimmkraft, als seien um sie herum alle schwerhörig. Früher, als Mutter und Sohn noch beständige Konflikte hatten, fürchtete Kolozs, die gesamte Klauzál-Straße könne Ohrenzeugin der schlechten Meinung von Magdolna Glücklich über die Ihrigen werden. Und in den Sommermonaten, wenn die zur Straße hinausgehenden Fenster ständig offen standen, war Kolozs überzeugt, dass auch noch die Dob-Straße mit ihren Streitereien beschallt wurde.
     Die größte Beklemmung erlebte Kolozs, wenn er als Jugendlicher erst spätabends nach Hause kam. Jedes Mal, wenn er nach langen Versammlungen oder Tanzabenden der Jugendorganisation vor dem ab elf Uhr abends streng verschlossenen Tor stand, mit der Ein-Forint-Münze Torgeld in der Hand, das er für den ewig schlecht gelaunten und schläfrigen Hausmeister brauchte, wusste er, dass er noch eine weitere Staatsgrenze zu passieren hatte: die Tür der Wohnung Nummer 2, zweimal von innen verschlossen, die von der Mutter geöffnet werden musste. Wenn er bereits dem vorwurfsvollen Blick des Hausmeisters und dessen mürrischen Nebenbemerkungen über den unsittlichen Lebenswandel der heutigen Jugend standgehalten hatte, dann fiel, nach dem quälend langen Quietschen des Schlüssels, der Hass in den Augen der Mutter auf ihn. Dieser galt sowohl seinem würdelosen Nachtleben als auch dem Umstand, dass sie schon geschlafen hatte und angesichts ihres frühzeitig beginnenden Arbeitstages die Störung ihrer Nachtruhe als Attentat empfand. Alles wurde etwas einfacher, als man Kolozs zu seinem achtzehnten Geburtstag einen eigenen Schlüssel anfertigen ließ, zumal nun auch alle Bewohner des Hauses einen Torschlüssel erhielten gegen monatlich zwanzig Forint Entgelt, das sie dem Hausmeister entrichteten.

Am Freitagabend nach der Beerdigung des Vaters zündete Kolozs die Kerzen an, bedeckte den Tisch mit einem weißen Tuch und sprach den Segen über das Schabbatbrot, das dem Gemeindeessen beigegeben worden war. Außerdem gab es noch ein bisschen koscheren Wein, den der Vater übriggelassen hatte. Nachdem Kolozs Glas und Messer gespült hatte, ging er in seinen abgeteilten engen Raum. Bevor er sich schlafen legte, fuhr er noch seinen großen alten Computer hoch, der sogar Internet-Zugang hatte. Im letzten Augenblick seiner Arbeit im Parlament war es ihm knapp gelungen, ein entsprechendes Modem anschließen zu lassen. Jetzt widmete er sich dem Gerät aus reiner Routine - im Grunde gab es gerade nichts, worauf er neugierig war. Als jedoch der Bildschirm aufleuchtete, fühlte er auch in seinem Kopf ein winziges Licht aufglimmen. Er musste nun anfangen, sich über seine Zukunft Gedanken machen, was ihm bisher aufgrund der Geschäftigkeit um die Beerdigung erspart geblieben war. Schlagartig wurde ihm klar, dass der Tod des Vaters für ihn auch im unmittelbar physischen Sinne eine Gefährdung darstellte. Wegen der Schwerfälligkeit der Bürokratie würde er vielleicht noch ein- oder zweimal die Rente bekommen, und auch die Wiedergutmachung für den Vater würde bis Ende des Jahres auf ihr gemeinsames Konto fließen. Aber spätestens Anfang Januar wäre es damit endgültig vorbei. Im Jahre 2002 musste er auf den monatlichen Betrag von hundertzwanzigtausend Forint verzichten, mit dem sie beide knapp ausgekommen waren. Über eine andere Einkommensquelle verfügte er aber nicht.
     Als ihm dies grell ins Bewusstsein drang, ging er zum Bett des Vaters hinüber und nahm jene Medikamentendose vom Nachttisch, deren Inhalt dem Alten einen leichten Schlaf versprochen hatte. Kolozs nahm für alle Fälle zwei Tabletten heraus und schluckte sie mit dem Rest des Weines hinunter. Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, ob Baldrian eigentlich koscher sei oder ob die Tabletten ebenfalls einen Segen benötigten - und wie es sich mit den zahllosen anderen Medikamenten verhielte, von denen der Vater gehofft hatte, sie würden das Leben nach dem Lager für ihn selbst und für seine Umgebung akzeptabler machen.

In den nächsten Tagen ging Kolozs nur aus dem Haus, um etwas zu trinken oder Zigaretten zu kaufen - alles andere, was er brauchte, fand sich in den pünktlich eintreffenden Plastikbehältern der jüdischen Gemeinde. Ansonsten saß er Tag für Tag vor seinem Computer und surfte. Er begann morgens mit den Online-Ausgaben der heimischen Presse und sah dann die russisch- und englischsprachigen Zeitungen durch. Vor dem Mittagessen suchte er nach Artikeln zu Wirtschaftsfragen und nach literarischen Veröffentlichungen, und am frühen Nachmittag, nach seiner Siesta, widmete er sich den immer häufiger vorkommenden zeithistorischen Texten. Aber das, was er am liebsten tat, hob er sich für den Abend auf: In der Zeit zwischen acht und elf Uhr besuchte er auf dem Bildschirm ferne Länder.

Mit freundlicher Genehmigung des Rotbuch Verlages
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