Vorgeblättert

Leseprobe zu Hannelore Cayre: Das Meisterstück. Teil 2

Ein herrliches Bild von Egon Schiele, meinem Lieblingsmaler: eine Jugendliche mit langen roten Haaren, der Rock geschürzt. Sie trägt keinen Schlüpfer. Ihre Beine sind leicht gespreizt, gerade so viel wie nötig, um einen flüchtigen Blick ins Innere ihres Geschlechts zu eröffnen.
Ein Gemälde, das mir, seiner Seltenheit wegen, unschätzbar erschien, hatte Schiele doch vor allem Aquarelle und Zeichnungen geschaffen. Auf diesem Sofa mit seinem ordinären Bezug wirkte es wie ein fragiles und schutzloses Etwas, ein kleiner Augenblick der Zartheit.
»Und ist der ganze Krempel denn etwas wert?«, fragte mich Lazare mit betont skeptischer Miene.
»Millionen von Euro.«
»Bis auf die Göre, die ihre Muschi lüftet, find ich alles hässlich.«
»Mir jedenfalls gefallen die beiden Wölfe gut ...«, meinte Nicole und deutete auf den Rousseau.
»Zur Not noch die beiden Köter. Könnt man zwar für 'n Kinderbild halten, aber na ja, ist nicht übel.«
»Wie auch immer, ich versteh sowieso nichts von moderner Kunst.«
»Klar! Ist was für Widerlinge und Angeber.«
Ich konnte meinen Blick nicht mehr von Schieles Gemälde lösen. Verliebt streichelte ich es mit den Fingerspitzen.
»?Moderne Kunst?, das will nicht viel heißen. Egon Schieles Werk war derart avantgardistisch, dass man ihn ins Gefängnis gesteckt hat.«
»Im Grunde ist es also modern, wenn man die Kunstwerke nicht mehr von den Rohrleitungen des Museums unterscheiden kann«, schloss Nicole mit Kennermiene.
Lazare setzte noch einen drauf: »Nichts als Scheiß.«
Hierauf folgte eine Debatte der dritten Art zwischen zwei Ganoven über Ästhetik, Hehlerei und den Kunstmarkt, wobei ihr Interesse vorab der Frage galt, wann und wem sie ihren Anteil an Aziz Choukris Beute weiterverkaufen wollten.
Ich begriff einfach nicht, weshalb die Akte der Untersuchungsrichterin bloß sieben gestohlene Bilder nannte. Woher stammte dieser Schiele, der die anderen Malereien in jeder Hinsicht übertraf? Die Bilder waren in Sicherheit, also konnte ich in aller Ruhe wieder in mein Büro zurückkehren. Aber bald musste ich einen Abstecher in die Sante machen, damit Choukri mir zu diesem überzähligen Werk ein Licht aufsteckte. Einstweilen schlug ich das Bild, das ich Mädchen mit Muschi getauft hatte, in seine Decke ein und verstaute es im Kofferraum meines Wagens.
Auf Höhe meiner Kanzlei angelangt, vor dem Chinesen an der Avenue Victoria, bemerkte ich die beiden Nichtsnutze, die Lazare am Nachmittag hinter uns geortet hatte. Ich machte nicht halt und fuhr direkt nach Hause.

Am nächsten Tag hatte ich einen Termin mit Marie-France, der ich keinen Hauch einer Buchhaltung vorlegen konnte. Eine Buchhaltung ... Wo konnte ich bloß eine Buchhaltung auftreiben?
Vor meiner Inhaftierung lebte ich wie ein zweitklassiger Künstler, der von einem Engagement zum anderen tingelte. Ich besaß kein Büro, um Klienten zu empfangen. Meine Visitenkarte zirkulierte unter den Nutten, den Luden und den Kleindealern, die mich meines guten Preis-Leistungs- Verhältnisses wegen weiterempfahlen. Ich war stets verfügbar, man brauchte mich nur auf meinem Mobiltelefon anzuklingeln, und schon sang ich vor Gericht das Liedchen, für das man mich gebucht hatte. Als Gegenleistung musste man mir ein Scheinchen zustecken, das ich noch am selben Abend ausgab. Die Butter aufs Brot waren meine Pflichtverteidigungen, und dazu kamen hie und da Aushilfsjobs für Kollegen, die nichts vom Strafrecht verstanden.
Nichts, wofür man einen Buchhalter beschäftigen müsste.
Seit meinen jüngsten Abenteuern hatte ich allerdings anderthalb Millionen Euro auf einer Schweizer Bank liegen, samt der dazugehörenden Not mit dem Waschen. Die Taschen voller Geld, aber ein völlig blankes Konto.
Mein famoses Auto, das für Marie-France von meinem aufwendigen Lebensstil zeugte, hatte ich mir über einen Strohmann besorgt: Ich ließ es einfach von einem ehemaligen Kunden kaufen, der fünfzehn Jahre wegen Mordes kassiert hatte. Zu den fünfzigtausend Euro, die es kostete, zahlte ich ihm zusätzlich achttausend bar auf sein Konto ein, worauf er mir als Gegenleistung einen Scheck ausstellte für einen nicht allzu pingeligen Autohändler, der ehedem selbst meine juristische Fürsorge genossen hatte.
Außer den aus seiner tiefsten Natur wachsenden Unerquicklichkeiten bescherte mir mein Geld obendrein die kleinen Kümmernisse der Bourgeoisie: dick werden vom ständigen Schlemmen, unter Bußen ächzen wegen des ständigen Falschparkierens beim Schlemmen, Ärger mit den Ärzten vor lauter Dickwerden durchs Schlemmen. Und nun auch noch diese beschissene Steuerprüfung ...
Ich stöberte in meinen Unterlagen und sammelte jeden Zettel, auf dem eine Zahl stand. Den ganzen Schundhaufen schickte ich dann an Marie-France, den weiblichen Torquemada jener okkulten Macht, welche sich Finanzverwaltung nannte. Ich wollte ihr beweisen, dass ich ein guter Junge war.
Was würde die untadelige, die tugendhafte Marie-France davon halten?

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