Vorgeblättert

Leseprobe zu Hans Keilson: Tagebuch 1944. Teil 3

03.09.2014. Im März 1944 beginnt der Arzt und Schriftsteller Hans Keilson ein Tagebuch im holländischen Exil, mit gefälschtem Pass und teilweise im Versteck. Er schildert die Erfahrung des Untertauchens und berichtet von der Entfremdung gegenüber Frau und Kind, einer heimlichen Liebe, von Gedichten und Lektüre. Lesen Sie hier einen Auszug von April bis Oktober 1944 aus "Tagebuch 1944".
Sonnabend. 23. 9.
Gestern abend das erste Mal keine Angst mehr vor Rilkes Gedichten. Ich kann sie lesen mit innerer Ruhe, ohne befürchten zu müssen, an ihnen meinen eigenen Klang zu verlernen. Auch meine eigenen Gedichte kann ich dagegen halten nicht als Herausforderung, vielmehr in der Gewißheit der Ruhe, daß in einigen von ihnen (Sonnette!) ein eigener, starker Ton anklingt, der bestehen bleibt. Rilke kommt mir näher, als Fremder. Ich schätze mehr seine außerordentliche Leistung, z.B. in den "Sonetten an Orpheus " stehen prächtige Verse (9. 26.)
     Was aus meinem Cyklus wird, frage ich mich oft verwundert. Es sind inzwischen 29 geworden. Darunter sicher eine Anzahl, die gelungen sind. -
     Ein Traum. Ich gehe in eine weißgetünchte Kirche, gothischer Bau, die ziemlich gefüllt ist, dränge mich durch das volle Mittelschiff und stehe fast vor dem Altar, auf dem 2 Kerzen brennen. Auf einmal beginnt die Orgel zu spielen: Ein Kirchen-Konzert!, denke ich, und schon tritt dicht vor mir eine Sängerin auf und singt. Das ist ja Jouke Cup., denke ich, und das ist also das Konzert, von dem sie mir erzählte. Ob sie mich sieht, weiß ich nicht. Sie selbst gleicht auch einer anderen Frau, die Haartracht, wie sie Gertrud früher hatte. Sie singt, sehr temperamentvoll, eigenartig, und schon bei den ersten Takten bewegt sie ihren Körper eigenartig dabei, mehr auf eine Bühne, als ins Kirchenkonzert gehörend. Sie stampft. Die Menschen beginnen zu lachen. Und im gleichen Augenblick singt sie den gleichen Takt mit der gleichen, noch hin zum Exzeß sich steigernden Bewegung hintereinander und ruft: Jawohl, so singe ich es, so habe ich es studiert, so muß es sein. Zuerst klingt es noch triumphierend, dann immer kleinlauter, dabei rasender, um sich doch durchzusetzen. Schließlich sinkt sie laut jammernd und wehklagend auf dem steinern Fußboden nieder. Die Menschen wissen nicht, ob sie lachen oder stumm sein sollen. Ich springe auf, laufe auf das in Schmerzen verzogene, außer sich seiende Gesicht zu mit den großen Augen (von Gertrud!) und sage - und die ganze Kirche kann mich einen Teufel scheren: Aber Jouke, ich bin es doch, Hans, sieh mich an. Du hast so wunderschön gesungen, so mußte es sein, dieser Ausdruck. Kein anderer Mensch weiß, wie schön Du singen kannst. Ich erfasse das ratlose Geschöpf in großer Liebe, ich begreife, daß sie einen schweren Anfall hat, aber auch zugleich, daß sie weitersingen wird und kann. So wie ich mir vorgestellt habe, daß ein Mann für eine Frau in Not zur Stelle ist, war ich bei ihr. Ich sprach ihr gut zu, nahm ihre Hand. Sie fühlte durch meine Nähe, daß ich nur Liebe und kein Begehren hatte. Langsam fasste sie sich, wurde ruhiger und drückte meine Hand. Zum Schluß trat sie weiter in die Kirche zurück, die leerer geworden war, und sang. Es war strahlend schön. Ich liebte den Schmerz und die Erschütterung, die ich hinter ihrem Gesang spürte. Aber das Bewußtsein, daß ich sie wieder zurückgebracht hatte, war mir alles. Keine Eitelkeit auf den therapeutischen Erfolg. - Alles fällt mir zu diesem Traum ein: zuerst Jouke, die bei Marie stecken blieb. Gertruds Traum von sich und dem Kind. Gertruds Beruf, ihr Leben. Daß man bei Bonhoeffer lernen konnte, wie man mit Geisteskranken umgeht. Meine Liebe zu Gertrud. Mein Wunsch, bei ihr zu sein, mein starkes Gefühl für ihre Ratlosigkeit oft. Mein eigener, heftiger Kampf gegen sadistische Tendenzen in mir. Dieser Traum im Anschluß an eine kurze heftige, fiebernde Darmerkrankung, der eine kurze heftige, psychische Erschütterung voraus ging, als Hanna erzählte, wie sie mit ihren Schwestern in einem Zimmer schliefen und miteinander umgingen. Ich sah die drei Mädchen auf einmal vor mir, in ihren Nachtkleidchen, mit ihren Mädchenängsten, rührend. Ich war fast kaputt. Hanna hat nichts davon gemerkt. Es ist derselbe Streit, den ich ihr gegenüber so oft auszufechten habe. In dem Traum war ein Wegweiser! -
     Dabei heftige Kämpfe in Nederland! Nijmegen, Arnhem! Dies Geschehen, so sehr es mich ergreift, gehört nicht mehr zu meinem Hauptleben. Es ist nur ein aufrichtiger, sozialer Tribut. Dann wieder das andere, der Mensch, das Gedicht, Menschen zueinander. -
     Mit Cora van der Lek und ihm Bach gespielt. Mozart neu entdeckt in der Woche zuvor im Kegelstadt-Trio.
     Eben beim Durchlesen - dem X.L - fällt mir wieder auf und ein: Wenn später diese Gedichte (Sonnette) gedruckt werden sollten und sie ein anderer in die Hand bekommt, wer weiß, ob er dann den großen Kampf um die Klärung in einem Herzen wird fassen können. Mir ist jetzt, da ich es las, die existentielle Seite der Gedichte, die rein - mir - persönliche fast so wichtig wie die ästhetische. Ich will darüber zum Menschen werden.
     Die Ruhe über den sich anbahnenden großen Streit in Nederland ist mir in mir eben bewußt geworden: Gertruds letztes Traumbild! Es ist fast eine Gewißheit!


2. 10. 44 Daß ich immer durch meine Natur getrieben werde, bis zum äußersten zu gehen und einen anderen Menschen dadurch mitreißen muß. So wieder mit Hanna geschehen. Die Konzentration auf das vergeistigte Objekt meiner Gedichte hat mich dem gleichen lebenden Subjekt entfremdet. Sie merkte es, daß meine Nähe Kühle ist, - in der letzten Zeit. Nur der Trieb, der mir half, mein Bewußtsein auszuschalten, in dem kein Platz für Menschen und Rücksichten ist, bringt mich ihr nahe. Es ist für mich der Drang nach einer Droge, die berauscht. Und dann, wenn ich sehe, was ich angerichtet habe, wird mein Herz wach. Rührung, Mitleid, Scham, - und ein echtes, tiefes Gefühl der Zuneigung und Liebe steigt in mir auf. Was für Umwege! Es hilft nichts, sie klammert sich immer fester, je mehr ich sie erniedrige. Heute konnte ich nur mit der Geige kommen, da ich keine Worte fand nach unserem letzten Zusammensein. Sie merkte es und weinte, als ich spielte. Und diese tiefe, hämische Wunde, fast wie Freude, einen Menschen leiden zu machen. Für den anderen ist es das Leid, für mich eine Krankheit! Und noch immer wieder das Mädchenhafte, wenn sie sich in meine Arme wirft und meinen Namen stammelt wie eine Ertrinkende.
So verdorben bin ich noch nicht, daß ich mich nicht mehr schämen kann!
     Inzwischen dauern die Vernichtungen in den Städten an. Wie schwer wird Holland getroffen. Und wie lange dauert es noch? Immerzu denke ich an Gertrud und das Kind. Das Leid ist die Basis der Ausschweifung.
     Aber ich täusche mich nicht, auch ich bin erschüttert. Getroffen durch Töne, Farben, für die ich bisher blind und taub war. Und der immer größer werdende Konflikt, zu schreiben oder zu leben. Die außergewöhnliche Gereiztheit und die Rücksichtslosigkeit. Getrieben zu werden von Dingen, die man gern außerhalb von sich selbst wissen möchte, aber die doch in der eigenen Brust beheimatet sind, nur lange verstohlen, geheim und plötzlich aufbrechen mit einem eigenen Willen. Es nimmt nicht die Verantwortung weg, nicht im moralischen Sinn, sondern in dem Sinne, daß man in seiner Existenz auf etwas, das größer ist, außerhalb, bezogen ist.

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages
(Copyright S. Fischer Verlag)


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