Vorgeblättert

Leseprobe zu Kenzaburo Oe: Licht scheint auf mein Dach. Teil 3

17.11.2014.
Rechtschaffener Humor

1

Alle vier Wochen fährt einer von uns zum Universitätsklinikum in Itabashi, um Hikaris Medikamente gegen die Anfälle zu holen. Es ist uns über die vielen Jahre so zur Gewohnheit geworden, dass wir den Termin eigentlich nie vergessen, doch einmal entdeckte ich samstags, dass die Medikamente nur noch bis Sonntagmorgen reichten, und fuhr los, um die Medizin zu holen. Als ich die Medikamentenausgabe im Krankenhaus jedoch geschlossen vorfand, überkam mich Panik. Ich stand an der Bushaltestelle des menschenleeren Klinikgeländes und überlegte, was ich tun könnte, als mich ein älterer Patient ansprach, der einen Spaziergang machte und mir riet, es in der Notaufnahme im Untergeschoss zu versuchen. Dort bekam ich schließlich Medikamente für einen Tag verschrieben, wurde aber, bevor ich mich verabschiedete, von der verantwortlichen Krankenschwester streng darauf hingewiesen, die Medikamente in Zukunft pünktlicher zu besorgen.
     Daraus klug geworden, bestimmen wir also immer schon vor Monatsende, wer von der Familie, außer natürlich samstags, die Medizin holt. Zwar geht der ganze Vormittag dafür drauf, aber oft melde ich mich freiwillig, denn wenn ich ein Buch mitnehme, macht es eigentlich keinen Unterschied, ob ich am Schreibtisch sitze oder in der Bahn.
     Einmal hatte ich in der großen Apotheke vorm Krankenhaus schon fast eine Stunde gewartet, als ich aufgerufen wurde - wobei der weißgekleidete junge Apotheker natürlich den Namen meines Sohnes rief, der auf dem Rezept stand -, doch als ich mich am Tresen meldete, teilte er mir freundlich mit, dass die Zubereitung der Arznei noch etwas dauern könnte und ich in der Zwischenzeit zu Mittag essen sollte. Ich hatte jedoch kurz zuvor über ein Gespräch in der Sprechanlage mitbekommen, dass irgendetwas bei der Zusammenstellung der Medizin, für die mehrere Komponenten gemischt werden mussten, schiefgelaufen war. Ich wusste, dass der junge Mann nicht die Wahrheit sagte.
     Trotzdem ging ich zurück ins Krankenhaus und setzte mich dort in die Cafeteria. Seit über zwanzig Jahren hatte ich dort unter verschiedensten Umständen gegessen. Das einfache Sandwich und ein besonderer Senfgeruch weckten intensive Erinnerungen an den Moment, als Hikari operiert worden war. Damals war die Cafeteria voller Menschen gewesen, und neben meinem Platz in der Ecke hatten drei junge Ärzte in weißen Kitteln gesessen, die während des Essens leise miteinander sprachen. Sie schienen sich über die Operation eines Kindes oder Erwachsenen zu unterhalten, der an einer Hirnschädigung litt. Selbst wenn die Operation gelingen sollte, wäre alles vergeblich, so der Tenor ihres Gesprächs, denn der Patient würde nie ein selbständiges Leben führen können.
     Ich musste damals an das Krankenhaus für Kinder mit schweren geistigen Behinderungen denken, das ich kurz zuvor in Nagoya besucht hatte. Ein autistisches Kind hatte kraftlos auf dem sauberen Boden der Kinderstation gelegen, die - wie alle diese Stationen - gut roch. Ein Arzt kauerte neben dem Jungen, der keinen Ton sagte, und versuchte ihm Mut zu machen. Man hatte bei ihm eine Abnormität des Darmes festgestellt, und er sollte am nächsten Tag operiert werden. Man musste diese schmerzhafte Operation durchführen, ohne ihm offensichtlich dies durch Worte verständlich machen zu können. Ich war sehr bewegt, und als ich bald darauf neben den drei jungen Ärzten meinen Curry-Reis aß, fiel mir die Szene wieder ein, aber natürlich fehlte mir der Mut, ihnen zu widersprechen. Außerdem wirkten sie erschöpft und hatten sich bestimmt Mühe gegeben.
     Als ich schließlich mit den Medikamenten nach Hause kam, war ich völlig erledigt. In der Woche darauf bekam Hikari eine fiebrige Erkältung und konnte nicht zur Behindertenwerkstatt. In der zweiten oder dritten Nacht weckte mich sein quälender Husten, und als ich an sein Bett trat, lag er mit gerötetem Gesicht und feuchten, weit geöffneten Augen da und sah ins Leere. Oft behandle ich meinen Sohn wie ein Kleinkind oder ein Baby, aber als er jetzt so dalag und sich auf seine innere Not konzentrierte, wirkte er ganz eigenständig und erwachsen, so wie es seinem Alter entsprach.
     Er schien seinen fiebrigen Körper anzuflehen, ihn möglichst schnell von der physischen Qual und der Angst zu erlösen. Ich konnte ihm nicht helfen, doch bei seinem Anblick dachte ich erneut an den Tag damals im Krankenhaus und an die drei jungen Ärzte. Wieder spürte ich den Zorn in mir aufflammen, den ich noch immer unverdaut in mir trug. Mein Gesicht lief so rot an wie das meines Sohnes, und ich atmete heftig. Doch als ich Hikari ansah, der einfach dalag und das Fieber ertrug, legte sich mein Zorn.
     Später füllte ich frisches Wasser in den Becher neben seinem Kopfende, zog die Bettdecke zurecht, machte das Licht aus und ging in mein Zimmer. Ich spürte, dass sich der Knoten in meinem Herzen, den ich eine Woche lang mit mir herumgetragen hatte, löste, und ging beruhigt schlafen.


2

Hikari wurde mit einem Defekt am Schädelknochen geboren. Erst nach der Operation, bei der eine Art Geschwulst an der Außenseite des Kopfes entfernt und an die Stelle des fehlenden Knochens eine Plastikplatte gesetzt wurde, begann sein wirkliches Leben in dieser Welt. Ich habe schon oft darüber geschrieben. Die Operation wurde im Krankenhaus der Nihon University in Itabashi von dem Neurochirurgen Dr. Moriyasu vorgenommen, der nicht nur unseren Sohn über lange Zeit ärztlich betreut und ermutigt, sondern sich um das Wohlbefinden unserer ganzen Familie gekümmert hat.
     Vor einigen Jahren, kurz nach Dr. Moriyasus Tod, schickte mir seine Frau drei kopierte Seiten aus seinem Tagebuch, die Beschreibungen über mich und meinen Sohn enthielten. Im Unterschied zu dem Tagebuch eines Wissenschaftlers oder Schriftstellers war sein Tagebuch, das er über Jahre in immer derselben Art geführt hat, pragmatisch gestaltet und in einem Stil verfasst, der Charakter und Gewissenhaftigkeit seines Urhebers durchscheinen ließ. Frau Moriyasu hatte das Tagebuch nach dem Tod ihres Mannes genau gelesen und war dabei auf diese Schilderungen gestoßen.
     Auf der ersten Seite beschrieb er in einer einzigen Zeile - fast nicht zu entdecken unter all den anderen Einträgen -, wie sich ein junger Schriftsteller, also ich, nach einigem Zögern endlich für die Operation seines Sohnes entschieden hatte. Ich war schockiert von der unterdrückten Emotion und Kritik seiner Beschreibung. Ohne Operation hätte Hikari nicht überleben können. Trotzdem hatte der junge Vater mit der Zustimmung zur Operation gezögert. Diese Tatsache hatte Dr. Moriyasu in seinem Tagebuch festgehalten. Manchmal denke ich, dass, sollte es ein höheres Wesen geben, ich ihm allein aufgrund dieser Tatsache nicht offen ins Gesicht werde sehen können. Doch schließlich habe ich mich zu der Operation durchgerungen und fühlte mich danach gewissermaßen wie neugeboren.
     Auf der zweiten Seite gab Dr. Moriyasu seine Gedanken zur Verleihung eines Literaturpreises an mich wieder, der er beigewohnt hatte. Ich war damals für meinen Roman Erhebt euch, ihr neuen Menschen ausgezeichnet worden, der von Hikari handelte. Dr. Moriyasu schrieb, ich hätte gesagt, meine Frau und er als operierender Arzt seien es gewesen, die mir und meinem Sohn beigestanden hätten. Dann folgten diese Sätze:
     "Ich betreue Hikari nun schon seit zwanzig Jahren, aber ich bringe nicht annähernd das Gefühl auf, mit dem sich Herr Ōe um seinen Sohn kümmert. Seinen Romanen und Kritiken entnehme ich jedoch, dass sein Gefühl viel mit dem eines Arztes gemein hat. Ich möchte ihm und seiner Frau sowie Hikari von Herzen gratulieren."
     Dass ein Mediziner wie Dr. Moriyasu meine Literatur würdigt, empfinde ich als großes Glück, das mich bis ans Ende meines Lebens begleiten wird. Im Jahr darauf erkrankte dieser große Arzt. Überrascht fuhr ich sofort ins Krankenhaus, ohne überhaupt zu fragen, ob ich ihn sehen könnte. Sein Eintrag von diesem Tag stand auf der letzten Seite:
     "Herr Ōe hat mich im Krankenhaus besucht. Dr. Sugiwara von der Ambulanz brachte ihn herein. Er schien sich große Sorgen zu machen. Er meinte, auch Hikari würde mich gerne sehen. Ich sagte, dass ich mich bis zum Juni schonen müsse und mich dann telefonisch nach Hikaris Befinden erkundigen und mich weiter um ihn kümmern wolle. Er war erleichtert. Er ließ mir sein neuestes Buch über Kazuo Watanabe da. Ich werde es in aller Ruhe in den Sommerferien lesen.
     So besehen, warten noch viele Patienten auf meine ärztliche Betreuung. Ich würde lieber heute als morgen ihren Wünschen nachkommen. Ich weiß um das Vertrauen, das sie mir als Arzt entgegenbringen. Wahrscheinlich hat sich dieses Vertrauen in den vielen Jahren ganz von selbst gebildet. Doch ich sollte in mich gehen und mich bemühen, noch besser zu werden."

                                         *

Auszug mit freundlicher Genehmigung des S.Fischer Verlages
(Copyright S. Fischer Verlag)


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