Vorgeblättert

Leseprobe zu Lorrie Moore: Ein Tor zur Welt. Teil 2

03.03.2011.
Ich brauchte also einen Job. Ich hatte mehrfach gegen bar Plasma gespendet, aber bei meinem letzten Anlauf hatte mich die Klinik abgewiesen: mein Plasma sei verfettet, weil ich am Vorabend Käse gegessen hätte. Fettes Plasma! In der Punkband wollte ich Bassgitarre spielen! Es war so schwer, keinen Käse zu essen. Selbst die cremige Streichvariante, die bei uns nur "Schmierkäse" hieß (schließlich konnte man damit auch Fenster abdichten und Fliesenfugen verschmieren), kam so tröstlich daher. Ich sah mir täglich die Jobangebote an. Kinderbetreuung war sehr gefragt: Ich gab meine Abschlussarbeiten ab und meldete mich auf die Anzeigen.
Eine schwangere Frau um die Vierzig nach der anderen hängte meine Jacke auf, setzte mich in ihr Wohnzimmer und watschelte dann wieder raus in die Küche, holte Tee und watschelte wieder herein, stemmte die Hände in den Rücken, schlabberte Tee auf die Untertasse und stellte mir Fragen. "Was würden Sie tun, wenn unser Baby zu schreien anfängt und nicht wieder damit aufhört?" "Sind Sie auch abends verfügbar?" "Was ist Ihrer Meinung nach sinnvoll in der frühkindlichen Erziehung?" Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte noch nie so viele schwangere Frauen in so kurzer Zeit gesehen - fünf insgesamt. Es beunruhigte mich. Sie sahen keineswegs strahlend aus. Sie sahen rot aus vor lauter Bluthochdruck und verängstigt. "Ich würde es in den Kinderwagen legen und draußen mit ihm herumfahren", sagte ich. Ich wusste, dass meine Mutter nie irgendjemandem eine solche Frage gestellt hatte. "Püppchen", sagte sie einmal zu mir, "ich habe dich so gut wie überall abgestellt, Hauptsache, der Ort war einigermaßen feuerfest."
"Einigermaßen?", hakte ich nach. Sie nannte mich selten bei meinem Namen Tassie. Sie nannte mich Puppe, Püppchen, Puppele oder Tassele. [9]
"Ich wollte kein großes Gewese um dich machen." Mir ist nie eine andere jüdische Frau begegnet, die sich so verhielt. Sie hatte als Jüdin allerdings einen lutherischen Farmer namens Bo geheiratet, vielleicht legte sie deshalb dieselbe gleichgültige Reserviertheit an den Tag wie die Mütter meiner Freundinnen. Irgendwann auf halber Strecke meiner Kindheit schwante mir, dass sie außerdem fast blind sein musste. Das war die einzige Erklärung für die dicke Brille, die sie oft nicht einmal finden konnte. Oder für das petunienhafte Kaleidoskop aus geplatzten Äderchen in ihren Augen, das ins Weiß explodierte Scharlachrot, bloß weil sie ihre Augen überanstrengt oder einmal mit der Hand darüber gewischt hatte. Es erklärte auch, warum sie mich nie richtig ansah, wenn wir miteinander sprachen, sondern eher den Tisch oder eine Bodenfliese anstarrte, als erwöge sie halbherzig deren Desinfektion, während meinem Mund eine kaum beherrschte Wut entfleuchte, in Sätzen, die ihr, so hoffte ich, wie Messer ins Hirn stechen sollten, wenn auch nicht sofort, eher später.
"Sind Sie über die Weihnachtsferien in der Stadt?", fragten die Mütter.
Ich nippte am Tee. "Nein, ich fahre nach Hause. Aber ich komme im Januar zurück."
"Wann im Januar?"
Ich gab ihnen meine Referenzen und einen schriftlichen Lebenslauf, in dem meine bisherigen Babysitterjobs aufgeführt waren. Die waren ziemlich überschaubar - nur die Pitskys und die Schultzes in Dellacrosse. Aber als Erfahrung hatte ich außerdem vorzuweisen, dass ich einmal im Rahmen eines Unterrichtsprojekts über die menschliche Fortpflanzung eine ganze Woche lang einen Mehlsack mit mir herumgeschleppt hatte, der exakt so viel wog wie ein Kleinkind und sich auch so anfühlte. Ich hatte ihn gewickelt und gewiegt und an sicheren, gepolsterten Plätzchen zum Schlafen abgelegt, aber einmal, als keiner hinschaute, stopfte ich ihn in meinen Rucksack, in dem lauter spitze Stifte waren, und er wurde aufgeschlitzt. Mit meinen Büchern, die für den Rest des Halbjahrs mehlweiß blieben, wurde ich zum Klassenwitz. Das hatte ich in meinem Lebenslauf allerdings unterschlagen.
Aber den Rest hatte ich sauber abgetippt. Um den Hasenfüßen auf die Sprünge zu helfen - ein Spruch meines Vaters -, hatte ich mich in eine Kostümjacke geworfen, die im Kaufhaus unter "Karrierejackett" lief, vielleicht gefiel den Frauen ja der professionelle Anstrich. Sie waren schließlich selber berufstätig. Zwei waren Anwältinnen, eine war Journalistin, eine war Ärztin, und eine unterrichtete an der Highschool. [10] Und wo waren die Ehemänner? "Ach, bei der Arbeit", sagten die Frauen alle unbestimmt. Alle bis auf die Journalistin, die antwortete: "Gute Frage!"
Das letzte Gebäude war ein graues Prairie-Haus, stuckverziert und mit einem Schornstein, der von vertrocknetem Efeu überwuchert war. Ich war schon früher in der Woche daran vorbeigekommen - es stand auf einem Eckgrundstück, und ich hatte dort Unmengen Vögel gesehen. Jetzt war alles eine große weiße Fläche. Um das Weiß zog sich ein niedriger Holzlattenzaun, und als ich das Tor aufdrückte, rutschte es leicht weg; eine der Angeln war locker, weil ein Nagel fehlte. Ich musste das Tor anheben, um es wieder einzuhaken. Dieses Manöver, das ich schon unzählige Male in meinem Leben durchgeführt hatte, erfüllte mich mit einer gewissen Befriedigung - ob der wiederhergestellten Ordnung, ob meiner magischen Möglichkeiten! -, dabei hätte ich es ganz anders deuten müssen: als kaum kaschierten Verfall, als Hinweis für einen nachlässigen Umgang mit Gegenständen, die immer wieder provisorisch geflickt werden mussten, mit lauter wichtigen Dingen, die den Besitzern nicht mehr wichtig waren. Bald würden sie das ganze Tor nur noch mit einem Bungee-Seil zusammenhalten können, so hatte mein Vater mal ein Scheunentor notdürftig repariert.
Zwei Stufen aus Schiefer führten zu einem Steinplattenweg hinunter, was eine merkwürdig unpassende Kombination ergab, und auf allem lag, wie auf dem Gras, eine staubleichte Schneeschicht - ich setzte die ersten Fußspuren hinein; vielleicht wurde der Vordereingang auch selten benutzt. Ein paar vertrocknete Mutterblumen standen in Töpfen auf der Veranda. Die brüchigen Blüten waren vereist. An der Hauswand lehnten eine Schaufel und ein Rechen, in die Ecke geschoben lagen zwei immer noch eingeschweißte Telefonbücher.

Die Dame des Hauses öffnete die Tür. Sie war blass und drahtig, nichts baumelte oder beulte, und ihre Leinenhaut spannte sich straff über die Knochen. Ihre Wangenhöhlen waren dunkel gepudert wie mit dem Pollen einer Tigerlilie. Ihre Haare waren kurzgeschoren und leuchteten im modischen Kastanienrot eines Marienkäfers. Ihre Ohrringe waren Knöpfe im tiefsten Orangeton, ihre Leggins mahagonifarben, ihr Pullover rostrot und ihre Lippen maronenbraun. Sie sah aus wie ein hochkontrolliertes [11] Oxidationsexperiment. "Kommen Sie herein", sagte sie, und ich trat ein, zunächst stumm, dann, wie immer, entschuldigend, als hätte ich mich verspätet, was gar nicht der Fall war. In dieser Zeit kam ich nie zu spät. Schon im folgenden Jahr sollte es mir plötzlich schwerfallen, mich an irgendein Zeitgefühl zu halten, und ich ließ Freunde unweigerlich irgendwo halbe Stunden lang sitzen. Unmerklich oder absurd wallte die Zeit an mir vorbei - lachhaft auch, wenn ich gerade lachen konnte -, und in Mengen, die ich weder messen noch beachten konnte.
Aber in dem Jahr, als ich zwanzig war, kam ich so pünktlich wie ein Priester. Waren Priester pünktlich? Als Höhlenkind im heiligen Taumel glaubte ich daran.
Die Frau schloss die schwere Eichentür hinter mir, und ich trat mir auf der Flechtmatte den Schnee von den Füßen. Dann machte ich Anstalten, die Schuhe auszuziehen. "Ach, Sie brauchen die Schuhe nicht auszuziehen", sagte sie. "In dieser Stadt gibt es schon mehr als genug japanische Zimperlichkeiten. Bringen Sie ruhig den Dreck rein." Sie lächelte - breit, theatralisch, ein bisschen verrückt. Ich hatte ihren Namen vergessen und hoffte, sie würde ihn bald sagen; wenn nicht, tat sie es womöglich überhaupt nicht.
"Ich bin Tassie Keltjin", sagte ich und streckte ihr meine Hand entgegen.
Sie ergriff sie und betrachtete mein Gesicht. "Ja", sagte sie langsam, abwesend und musterte erst mein eines, dann mein anderes Auge, was mich aus der Fassung brachte. Ihr Blick beschrieb einen langsamen, aufmerksamen Kreis um meine Nase und meinen Mund. "Ich heiße Sarah Brink", sagte sie schließlich. Ich war es nicht gewohnt, so aus der Nähe angesehen zu werden, war es nicht gewohnt, dass das, was ich anblickte, den Blick erwiderte. Meine Mutter hatte mir nie solche Aufmerksamkeit geschenkt, und im allgemeinen strahlte mein Gesicht eine glatte, runde Dümmlichkeit aus, die das Interesse der Welt nicht erregte. Ich hatte mich immer so verborgen gefühlt wie der Kern in der Beere, so geheim und embryonenhaft wie das zusammengerollte Glück in seinem Keks, und diese Verborgenheit hatte ihre Vorteile, Egozentrismen und kummergespeisten Hochgefühle.
"Kommen Sie, ich nehme Ihre Jacke", sagte Sarah Brink endlich, und erst als sie sie von meinen Schultern hob und durch die Diele ging, um sie auf eine Garderobe zu hängen, [12] bemerkte ich, dass sie dünn wie ein Strich war, kein bisschen schwanger.

zu Teil 3

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