Vorgeblättert

Leseprobe zu Matthias Göritz: Träumer und Sünder. Teil 3

11.07.2013.
"Riechen Sie das? Hier tragen sogar die Bediensteten Gaultier. Mein Gott, was für ein Kampf das ist, in einem französischen Hotel eine ordentliche Tasse Tee zu bekommen. Sehen Sie sich das an: feinstes Limoges-Porzellan, elfenbeinfarbenes Art déco, jede Kante, jede Ecke geschliffen wie die geschürzten Lippen und die Augenbrauen dieses Kellnerflegels, der mich fragt, was ich denn noch wolle, er habe mir den Tee doch vor einer Viertelstunde gebracht. Ja, sage ich ihm, eben. Und er hat tatsächlich frisch gepresste Zitrone in einem wunderschönen Silberkännchen dabei, eine religieuse für Sie, Backwerk wie kleine Schlösser - Sie mögen doch Puddingfüllung? - und echte Leinenservietten. Nur der Tee, haben Sie gesehen, wie er mit dem wieder abgezogen ist? Als hätte ich ihm auf die Schuhe gewichst. Er hat ihn dringelassen, er hatte ihn schon in der Kanne, als er hereinkam, er hat sich nicht ein Mal die Mühe gemacht, mir zu sagen, wie lang der Tee schon gezogen hat, nein, er hat nicht einmal gefragt, ob er das Sieb herausnehmen soll, oder ob ich das in einer halben, einer ganzen, oder in wie viel Minuten auch immer selber machen wolle. Ist das Service? Ist das Cannes?"


Der Interviewer bemerkte, dass es nach Eisenkraut roch, und wollte gerade hinzufügen, wie sehr ihn das doch an Proust erinnere, da winkte der Produzent wieder ab und redete weiter.


"Nun gut, bei verveine ist das nicht ganz so entscheidend, da haben Sie recht. Aber im Land von Proust auf solche Ignoranz zu stoßen ist schon ein starkes Stück, finden Sie nicht? Wenn Ralph hier gewesen wäre, dann hätte dieser Franzacke aber mal was erleben können. Ralph hätte ihn aus dem Anzug gestoßen … aber nun gut … von wegen, was ich denn will. Unglaublich. Als hätte ich ihn aus Schikane nach einer neuen Kanne geschickt."


Der Hüne musste also kurz nach seinem Anruf vor einer halben Stunde die Suite verlassen haben. Durch die Vorderhalle war er nicht gegangen, das hätte der Interviewer gesehen. Vermutlich gab es in einem so großen Hotel mehrere Seitenund Nebenausgänge. Er fragte sich, ob Ralph wohl auf eine besondere Besorgungstour geschickt worden war, oder ob der Produzent bemerkt hatte, dass sich der Interviewer das letzte Mal fast ein wenig eingeschüchtert von diesem merkwürdigen Mann mit den Handschuhen gefühlt hatte.
"Ich finde Frankreich vulgär. Alles nur äußerlich. Das Essen, die Kleidung, der Sex. Diese Besessenheit, alles mit Witz und Eleganz zu machen, dieser Anspruch an die Kultur. Immer mit erhobenem Zeigefinger, mit donc und mais, als wären sie alle, noch der kleinste Radiomoderator, Experten der Haute Cuisine. Nur, weil sie ihre eigene beschissene Sprache beherrschen, fühlen sie sich wie kleine Minipicassos oder Operndirigenten. Nein, nein. Die französische Musik ist medioker, die Küche von der Grundlage her italienisch, durch das dauernde Verfeinern keinen Deut besser geworden, und der Film stagniert. Die ganze Zeit Pseudoromanzen, Historienklamauk oder François Ozon. Okay, den lass ich gelten. Der kann was. Aber die Sprache, auf deren Schönheit sie sich so viel einbilden, ha, da ist ja selbst Portugiesisch noch schöner mit seinen maisch und lingas. Die klingen hier alle, als hätte sie ein Frosch gefickt. Als hätten sie Lollistile im Arsch und wagten es nur nicht, sich in aller Öffentlichkeit zu kratzen. Und diese Arroganz! Cannes, Cannes, ja, und wedeln mit dem Finger und schürzen die Lippen wie die letzten Großkopferten, als würden sie cültüre schlürfen wie ihre ewigen Austern. Cancan kenne ich, und das ist auch schon so alt und nuttig, ach verstehen Sie, ich will nur noch weg von hier, es widert mich an. Nein, Sie nicht, bleiben Sie, verzeihen Sie mir meinen Ausbruch, es ist dieses Jahr aber auch wirklich zu viel. Nehmen Sie einen Bissen von der religieuse … Der lässt uns auf den Tee jetzt extra warten. Waren Sie gestern bei der Konferenz dabei?"


Mit vollem Mund, er hatte unvorsichtigerweise den Kopf der religieuse abgebissen, die bittersüße Mokkafüllung zog ihm die Schleimhaut zusammen, schüttelte der Interviewer den Kopf.
"Schade! Hatten Sie keine Akkreditierung? Sagen Sie nächstes Mal doch Bescheid. Hier klatschen sie ja sogar, wenn ein Filmemacher wie Lars von Trier mal wieder seine Eskapaden zelebriert. Haben Sie ihn vorher gemocht?"

Der Interviewer schluckte, so viel er konnte, und murmelte "Riget" durch den Rest der religieuse.

"Ja, Riget … hab ich sogar noch verkauft an Stephen King, der wollte unbedingt die Rechte und seine eigene HorrorHospital-Serie daraus machen, ist ein bemühter Versuch geworden, Kultfernsehen zu machen, hübsch anzusehen, aber halt auf eine King'sche Art berechenbar. War auch kein Erfolg, hat er Geld mit verloren, aber was soll's, der King hat's ja und mit Kingdom Hospital - mit ihm als Ideengeber und Koproduzent - hat er sich mal wieder ein Denkmal gesetzt, zumindest von der Benamsung her. Erinnern Sie sich an die andere Idee, die er hatte? Dass er seine Bücher frei im Netz veröffentlicht, als Fortsetzungsroman, und die Leser dann ab dem dritten Kapitel zahlen, wenn sie wissen wollen, wie es weitergeht? Hat so was von nicht hingehauen. Stellen Sie sich vor, wenn wir das im Kino machen müssten, kleiner Schlitz am Sitz, ganz Peepshow-mäßig, und nach zehn Minuten noch mal und noch mal, und ja, der hat Überlänge. Wie wär das? Ein Spaß? Nein, ein Desaster! Na, der von Trier hätte dabei jetzt erst mal keine Chance mehr.

Ich mochte ihn eh nicht, jedenfalls nicht seine Dumme-Jungen-Art, auf Teufel komm raus zu provozieren. Das ist pubertär. Haben Sie seine Finger gesehen? Die hat er sich tätowieren lassen, wie dieser Schweinepriester in Laughtons Nacht des Jägers. Wenn er die Faust ballte, kam aus den Buchstaben auf der rechten Seite hate und links dann love heraus. Die Faust Gottes. Liebe und Hass. Und bei Lars? Eine Doppelfaust. Fuck you. Sehr originell.

Da mag er uns noch so sehr sagen: Dänemark, da steckt dir der Protestantismus in den Knochen, bis du ihn nicht mehr von Krebs unterscheiden kannst, da jagen sie dir die Beweise für freie Gesellschaft und Glück und Selbstbestimmung und so weiter und so fort immer wie ein freies Methadonprojekt in die Birne, aber eigentlich ist das alles Bigotterie. Wenn du nicht so bist wie wir, wie die Gesellschaft, was bleibt dir dann? Der Strick? Der Scheiterhaufen, das Zunähen der Genitalien? Gute Themen eigentlich, nur scheitert von Trier immer. Na ja, nicht bei Dogville mit der Kidman und auch nicht bei Manderlay, und die frühen Filme, Europa und Element of crime zum Beispiel, die haben wirklich was.

Wussten Sie, dass die Dänen nach Umfragen der UN von allen Menschen die glücklichsten auf der Welt sind? Wirklich, habe ich neulich gelesen, und es gab auch so einen komischen Arte-Film dazu, man hat ja Zeit, wenn man in meinem Alter ist, krank und schlaflos und ohne Familie. Ja, so glücklich sind diese Dänen, dass sie die Grenzen wieder dichtmachen und sich Lars von Trier zum Nationalregisseur auserkoren haben. Aber lassen Sie mich nicht unfair sein."


Der Interviewer hatte endlich die Süßigkeit verputzt und den ganzen cremig-krümeligen Restbestand in seinem Mund mit einem Schluck Tee heruntergespült. Er würde das Gespräch irgendwann wieder auf den aktuellen Film lenken müssen, war das mit Trier nicht zu starker Tobak? Konnte er das bringen, den wutschnaubenden, alles zerreißenden Hasser? Er musste behutsam sein, mit seinen Fragen steuern, aber noch nicht jetzt. Jetzt war die Zeit des Zorns. Er konnte die Adern im Gesicht des alten Mannes sehen.

"Er ist vielleicht der beste Regisseur in der Off-Szene, ja. Aber was heißt das schon. Erinnern Sie sich an Breaking the Waves? Nicht übersetzen, das stand doch damals überall in den deutschen Kinos, die sich durchgehend für Originalversionen einsetzten, oder? Hat nicht geholfen, den Kinos nicht, den Zuschauern nicht, die sich heute wieder überall diese albernen Synchronsprecher anhören müssen, und Lars von Trier erst recht nicht - aber so einem Film wie Breaking the Waves, dem konnte man sowieso nicht helfen. Schmierig, traurig, wahnsinnig deprimierend - und der Sex war nicht mal sexy. Und dann kam ja noch dieser Björk-Film - larmoyant, höchstens der Soundtrack taugte da was, und jetzt in Melancholia die Sterne als Metapher für Depression einzusetzen und die gute Kirsten Dunst zu verheizen, das kann jeder, der ein bisschen an deutscher Romantik verzweifelt ist.

Und jetzt trommelt der von Trier hier, er könne Hitler verstehen. Der hat sie doch nicht mehr alle."


Der Interviewer zog sein Päckchen Camel aus der Tasche, fummelte ein Plastikfeuerzeug aus der Packung und suchte mit den Augen nach einem Aschenbecher. "Sie haben das Marketing gemacht. Für Melancholia."


"Entschuldigen Sie, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, jetzt nicht zu rauchen? Das macht mich nervös."


Die Stimme des alten Mannes hatte plötzlich eine Kälte und eine Schärfe angenommen, die den Interviewer verstummen ließen.


"Wenn Ralph gleich wiederkommt, dann öffnet er die Fenster und schiebt mich ein wenig von Ihnen fort, dann geht es vielleicht. Nein, wirklich, ich kann das heute einfach nicht."


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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Beck-Verlages
(Copyright Verlag C.H. Beck)


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