Vorgeblättert

Leseprobe zu Michail Schischkin: Venushaar. Teil 2

28.02.2011.
Aber der Reihe nach.
Es geschieht wahrlich nicht jeden Tag, dass der Postbote unsereins mit Botschaft en aus fremden Landen verwöhnt. Noch dazu solchen! Zwischen Rechnungen und Reklame die freudige Überraschung: ein Brief von Euch, worin Ihr Euren Staat, den Staat des großen Nabuccosaurus, bis ins Kleinste beschreibt: seine ruhmreiche geografi sche Vergangenheit, Ebbe und Flut der Geschichte, Sitten der Flora und Gebräuche der Fauna, Vulkane, Gesetze, Katapulte und die kannibalischen Gelüste der Bevölkerung. Wie zu erfahren war, hat es sogar Vampire bei Euch da unten und Draculas! Und Ihr führt also das Zepter. Sehr erfreut.
Zwar wimmelt es in Eurem Schreiben von grammatischen Fehlern, aber was tut das zur Sache! Fehler korrigieren, das lässt sich lernen, doch solcherart Botschaft wird mir von Euch gewiss kein zweites Mal zuteil. Kaiser werden furchtbar schnell erwachsen und vergessen ihre Reiche.
An der beigelegten Karte Eures Inselimperiums, dem gediegenen Werk begabter kaiserlicher Kartografen, vermag ich mich gar nicht sattzusehen. Wisst Ihr was, ich werde sie mir hier an meine Wand pinnen! Dann kann ich immer schauen und rätselraten, wo zwischen all den Bergen, Wüsten und Seen, Filzstift feldern, -wäldern und -metropolen Ihr wohl gerade seid. Und was Ihr so treibt? Seid Ihr schon umgezogen aus der Sommerresidenz ins Herbstpalais? Oder schlaft Ihr schon? Eine unversenkbare Flotte behütet Euren Schlaf: Sieh an, sieh an, Triremen und Unterseeboote umkreisen in Kiellinie die Inseln.
Und welch ruhmreicher Name für den wohltätigen Herrn! In bunten Lettern geschrieben! Ich habe ja so meine Vermutungen, wie Ihr drauf kamt, doch die behalte ich für mich.
Nun bittet Ihr in Eurem Sendschreiben, Einblick zu erhalten in unseren Staat, der Euch fern und Euren Erdkundlern und Entdeckungsreisenden noch unbekannt ist. Wie könnte ich dieses Begehren unbefriedigt lassen!
Was also gibt es über unser Reich zu sagen? Es ist ein gelobtes, gastliches, wolkenkratzendes Land. Gemessen an der Fläche, sind drei Jahre im Galopp keine Entfernung. Gemessen an der Zahl der Mücken pro Körper der Bevölkerung in schlaflosen Stunden, sucht es seinesgleichen. Gemessen spaziert die Katze auf der Mauer.
Unsere Karte ist reich an weißen Flecken, vor allem wenn es schneit. Die Grenzen sind so weit, man weiß gar nicht, was eigentlich dahinter kommt. Die einen sagen: der Horizont. Anderen Quellen zufolge die Schlusskadenz der Engelsposaunen. Verbürgt ist jedoch, dass wir ungefähr nördlich der Hellenen liegen, an den Ufern des Himmelsozeans, über den nun wieder unsere unversenkbare Wolkenflotte in Kiellinie zieht.
Flora ist einstweilen noch vorhanden, von der Fauna sind nur die Wipfel der Bäume da draußen übrig, die aussehen wie Schwärme von Jungfischen. Der Wind scheucht sie.
Unsere Fahne ist ein Chamäleon, die Gesetze lassen sich drehen, von Vulkanen ist mir persönlich nichts bekannt.
Die hauptsächliche Frage, an der sich die imperialen Geister hier seit Generationen scheiden, ist: Wer sind wir und wozu? Bei aller Augenscheinlichkeit - die Antwort ist vage. Von vorne sind wir Sarmaten, von der Seite Hyperboreer, also entweder Orotschen oder Tungusen. Und jeder ist ein Ministerium für sich. Pardon, Mysterium wollte ich schreiben.
Woran die Leute hier glauben, ist primitiv, doch nicht ohne Poesie. Manche glauben felsenfest, die Welt wäre eine große Elchkuh und der Wald ihr Fell, darin die wilden Tiere als Parasiten hausen und die Vögel darüber als schwirrendes Ungeziefer. So sieht sie aus, die Herrin des Universums. Und fällt es ihr ein, sich an einem Baum zu scheuern, dann hebt das große Sterben an.
Kurzum, dieses Reich hat irgendwer zur besten aller Welten erklärt, und Euer ergebener Diener ist in ihr - das wolltet Ihr doch wissen: ob nicht zufällig der Chef vom Ganzen ?? - nein, kein Chef. Aber wie sag ich es meinem lieben Nabuccosaurus, welchen Geschäften wir hier nachgehen? Ich will einmal so sagen: Selbst diese ängstlich schwärmende Fischbrut draußen vor dem Fenster, nicht ahnend, dass sie nur Laub ist im Wind - selbst die glaubt, dass da für jeden einer sei, der auf ihn wartet, an ihn denkt und ihn von Angesicht kennt: jedes Äderchen, jedes Tüpfelchen. Davon bringt sie keiner ab. Und so kommen sie gekrochen aus allen erdenklichen Welten, aus jedem Dorf ein Hund: Raubeine und Mimosen, Märtyrer und Angehörige, Linkshänder und Rechtshänder, Racketeers und Taxidermisten. Keiner versteht keinen. Und hier leiste ich Dienste. Meines Zeichens Dolmetsch in der Flüchtlingskanzlei des Ministeriums für Paradiesverteidigung.
Jeder möchte was erklären. Hofft darauf, angehört zu werden. Dafür sind wir da, Petrus und ich. Ich dolmetsche die Fragen und Antworten, Petrus schreibt auf und nickt: Aha, und das soll ich Ihnen glauben. Petrus glaubt keinem. Stellt sich zum Beispiel eine hin und sagt: "Ich bin eine einfache Hirtin, Findelkind, kenne meine Eltern nicht, ein armer Ziegenhirte hat mich aufgezogen, Dryas mit Namen." Und schon geht es los, vom Hölzchen aufs Stöckchen: Bäume voller Obst, Felder voller Korn, Wein an den Hängen, Herden auf den Wiesen, überall das sanfte Zirpen der Zikaden und der Früchte süßer Wohlgeruch. Und dann: Piratenüberfall, feindliche Invasion. Gepflegte Fingernägel leuchten auf im Licht des Feuerzeugfl ämmchens. "Ich bin auf dem Dorf groß geworden, das Wort Liebe habe ich nie einen sagen hören. Und Spiralen gab?s für mich nur im Sofa. Ach, mein geliebter Daphnis! Man hat uns getrennt, uns Unglückselige! Ein Stress am andern. Mal will eine tyrische Clique sich prügeln, mal bläst Besuch aus Methymna sich auf. Daphnis hat mich zu den Kunden begleitet, als Leibwächter. Die Frisur entscheidet mit, wie der Tag läuft und letztlich das Leben. Sehen Sie, was die mit meinen Zähnen gemacht haben? Meine Zähne taugen so schon nicht viel. Die hab ich von Mama. Sie erzählte immer, wie sie als Kind den Putz vom Ofen gepolkt und gegessen hat. Kalziummangel. Genauso hab ich, wie ich mit Janotschka schwanger war, den Lehrern am Institut die Kreide geklaut und geknabbert. Liebe ist wie der Mond - wenn sie nicht zunimmt, nimmt sie ab -, aber die neue ist wie die alte, immer derselbe Mond." - "War es das?", fragt Petrus. "Ja." - "Dann hätten wir hier", sagt Petrus, "noch Ihre bildschönen Fingerabdrücke" - und zeigt sie ihr. "Wie? Was soll das heißen?", fragt sie und ist baff. "Das soll heißen, dass wir in unserer schönen Reichskartei Ihre schmutzigen Finger drinhaben. " Und schmeißt sie achtkant raus. Noch aus dem Fahrstuhl hört man sie brüllen: "Ihr seid doch keine Menschen, ihr seid doch feuchter Lehm! Geformt hat man euch wohl, doch etwas einzuhauchen vergaß man!"
Ein anderer wiederum bringt keinen vernünftigen Satz zustande. Sprudelt aber wie ein Wasserhahn. Ich strenge mich an herauszukriegen, was er da kollert, derweil richtet Petrus die Dinge auf seinem Schreibtisch fein säuberlich aus - als wollte er, Tischvorsteher sozusagen, die Parade seiner Bleistifte und Zahnstocher abnehmen. Er kriegt die Zeit bezahlt. Keine Eile. Petrus ist ein ordnungsliebender Mensch. Und dieser GS schwätzt von irgendeinem Sesam, brüllt, dass es sich gefälligst öffnen soll. Stammelt was von weißen Kreidezeichen am Tor, später sind es rote. Will uns weismachen, er hätte still und friedlich in seinem Schlauch gesessen, und dann plötzlich - zack, siedend Öl von oben. Da schaut her!, brüllt er, ist das eine Art?! Siedendes Öl auf einen lebendigen Menschen? Für einen abschlägigen Bescheid genügt es, Unstimmigkeiten in den Aussagen des Räubers zu finden. Also greift Petrus hinter sich in sein schlaues Regal, nimmt ein Büchlein zur Hand, und nun kommt der Stein ins Rollen. Sag mir doch mal, mein Bester, wie viel Kilometer sind es von deinem Kaff Bagdadowka bis in die Hauptstadt? Und wie steht der Piaster aktuell zum Dollar? Werden in dem Land, das dich verlassen hat, außer dem Tag der Unbefleckten Empfängnis und dem Tag des ersten Schneemanns noch weitere Nationalfeiertage begangen, und wenn ja, welche? Welche Farbe haben die Straßenbahnen? Die Wasserschläuche? Und ein Laib Borodinobrot kostet wie viel?
Oder es kommen beispielsweise Hebräer, entlassen aus babylonischer
Gefangenschaft , mit dem Freiheitschor aus Nabucco, dritter Akt, auf den Lippen, und unser Tischvorsteher fragt sie: "Welche Sprache wird im Königreich der Chaldäer gesprochen?" - "Akkadisch!", kommt die Antwort. "Und wie heißt der Tempel für den Gott Marduk in Babylon?" - "Esagil!" - Und der Turm daselbst?" - "Etemenanki." - "Und welcher Göttin ist das nördliche Tor geweiht?" - "Ischtar, der Göttin der Venus. Wohingegen die Sonne von Schamasch verkörpert wird und der Mond von Sin. Nergal ist der Mars. Im Saturn sehen die feigen Babylonier Ninurta, Nabu im Merkur, und Marduk selbst ist eine Verkörperung des Jupiter. Von diesen sieben Astralgöttern rührt übrigens die Siebentagewoche her. Hätten Sie?s gewusst?" - "Hier stelle ich die Fragen! Uneheliche Tochter des Nebukadnezar, neun Buchstaben, der zweite ein B." - "Ja, halten Sie uns denn für blöd? Abigaille natürlich!"
Vor Petrus war Sabina Tischvorsteherin. Im Gegensatz zu ihm hat sie allen geglaubt. Keine Fangfragen aus dem allwissenden Büchlein gestellt. Nie den Stempel Prioritätsfall benutzt. Darum wurde sie entlassen. Petrus setzt ihn auf beinahe jede Akte. Gleich vorn auf Seite eins. Das bedeutet: beschleunigtes Verfahren in Anbetracht naheliegender Abweisung. Der GS unterschreibt das Protokoll, sagt Auf Wiedersehen, schenkt dem Schicksalslenker sein untertänigstes Lächeln, auch dem Dolmetsch und dem Wächter mit der Hellebarde, der ihn abholt, hofft, dass nun endlich alles gut wird - und kaum ist die Tür zu, setzt Petrus, peng, seinen Stempel aufs Papier.
Das war kein Job für Sabina. Manchmal, wenn der Dolmetsch mit ihr in der Pause ins Cafe gegenüber ging, kam sie ins Klagen: dass sie nach der Arbeit, zu Hause beim Abendessen, die Frau vor sich sehe, die bei der Befragung weinend erzählt hatte, wie man ihrem Sohn die Fingernägel ausriss, und der Junge ohne Fingernägel saß nebenan im Warteraum. Kinder werden getrennt von ihren Eltern befragt.
"Du darfst hier mit niemandem Mitleid haben", sagte Sabina einmal. "Mir aber tun sie alle leid. Du musst abschalten können, zum Roboter werden, Frage-Antwort, Frage-Antwort, Formular ausfüllen, Protokoll unterschreiben, und ab damit nach Bern. Sollen die entscheiden. Nein, ich muss mir eine andere Arbeit suchen."
Sabina war aber auch ein ausgesprochenes Tischvorsteherküken. Nach ihrer Entlassung zog sie ans entgegengesetzte Ende des Reiches und schickte dem Dolmetsch von da eine merkwürdige Postkarte. Aber das ist alles nebensächlich. Vielleicht erkläre ich es später mal. Oder auch nicht.
Sieht so aus, als wären wir ein wenig abgeschweift, mein hochwerter Nabuccosaurus.
Was lässt sich noch zum Ruhme unseres Imperiums sagen? Auch wir haben hier, stellt Euch vor, U-Boote und Wüsten, sogar einen Dracula haben wir - keinen Vampir, einen echten. Wie überhaupt alles echt ist hier.
Ja, was noch? Es ist dunkel geworden. Die Wunde im Gras hat sich geschlossen.
Ach so, was ich zu sagen vergaß: Kannibalismus ist auch bei uns noch nicht ausgestorben, und der uns alle aufzufressen droht, ist kein Geringerer als der Monarch höchstselbst, oder ist es eine Monarchin, ich habe länger nicht im höfischen Adressbuch nachgesehen, und sowieso hängt das Geschlecht von der Sprache ab, jedenfalls gibt es den einen Herodes den Großen, aber sonst, wenn man nicht ständig daran denkt, ist das Leben hier ein lustig Liedlein, das mir heute Morgen in der Straßenbahn einer angehängt hat, während er am Bahnhof ausstieg.
Lustig auch, sich vorzustellen, wie Ihr diesen Brief in ein paar Jahren zugestellt bekommt und Euch vielleicht gar nicht mehr entsinnen könnt, einstmals der Kaiser dieses wunderbaren, an meine Wand gepinnten Imperiums gewesen zu sein ?

Stift, Notizblock, Wasserglas. Sonnenschein draußen vorm Fenster. Das Wasser im Glas wirft einen schillernden Sonnenkringel an die Decke - das ist schon kein Kringel mehr, sondern ein ausgewachsener Schwimmring, und für einen Moment sieht es aus wie ein großes Ohr. Oder ein Embryo. Die Tür geht auf. Der Nächste.

Frage: Führen Sie kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl bitten.
Antwort: Ich war Zollangestellter an der kasachischen Grenze. Militärs beförderten Drogen in ihren Autos, und mein Chef hatte mit ihnen einen Deal. Wir sollten vor alledem die Augen verschließen, ganz normal abfertigen. Ich schrieb einen Brief an den FSB. Ein paar Tage später wurde meine Tochter von einem Auto angefahren. Ich bekam einen Anruf. Das sei nur eine Vorwarnung gewesen, hieß es.

Frage: Führen Sie kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl bitten.
Antwort: Bei den Gouverneurswahlen unterstützte ich aktiv den Kandidaten der Opposition, nahm an Protestmeetings teil und sammelte Unterschriften. Ich wurde aufs Polizeirevier bestellt, ich sollte gefälligst aufhören, Enthüllungen über die Gebietsleitung in die Welt zu setzen. Mehrmals wurde ich von Milizionären in Zivil verprügelt. Meinem Asylantrag habe ich medizinische Gutachten über einen Kieferbruch, einen Armbruch und weitere Prügelfolgen beigefügt. Wie Sie sehen, bin ich invalid und kann keiner Arbeit nachgehen. Meine mitgereiste Ehefrau hat Magenkrebs.

Frage: Führen Sie kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl bitten.
Antwort: Ich bin aidskrank. In unserer Stadt haben sich alle von mir losgesagt. Selbst meine Frau und die Kinder. Infiziert wurde ich im Krankenhaus, bei einer Bluttransfusion. Ich habe alles verloren: Arbeit, Freunde, mein Zuhause. Ich habe nicht mehr lange zu leben. Ich dachte mir, wenn ich schon sterben muss, dann hier bei Ihnen, unter menschlichen Umständen. Sie werden mich schon nicht rauswerfen.

zu Teil 3