Vorgeblättert

Leseprobe zu Miriam Toews: Kleiner Vogel, klopfendes Herz. Teil 3

20.06.2011.
Einmal habe ich den Fehler gemacht, meinen Vater zu fragen, ob es nicht verständlich sei, dass sich nach all den Jahren mal eine junge Mennonitin in einen jungen Mexikaner verliebt und ihn heiraten will. Das nennt man Integration, Dad, das ist doch nicht schlimm. Wenn du dir schon das billige Land geben lässt, dann kannst du ?, aber da hörte er mir schon längst nicht mehr zu. Als wir uns das letzte Mal richtig unterhielten, ging es um die Absurdität von Leben und Tod. Er hatte in einer alten Zeitung, die es irgendwie aus El Paso oder sonst woher auf unser Feld verweht hatte, etwas gelesen, das ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Wir saßen im Pick-up, auf dem Weg nach Cuauhtemoc, und er fragte mich, wie es denn möglich sei, dass eine Menschenmenge auf der Straße vor einem großen Bürogebäude einen Selbstmörder anfeuere, in den Tod zu springen. Ich war völlig überrascht von der Frage und antwortete, ich wüsste es nicht. Was sagt das über uns aus?, fragte Dad. Dass wir grausam sind, antwortete ich. Nein, das glaube er nicht, erwiderte er, für ihn heiße es, dass wir uns verspottet fühlten, dass wir uns in Gegenwart dieses Selbstmordkandidaten, der klugerweise zu dem Schluss gekommen sei, dass das Leben auf der Erde ein Witz ist, feige und dumm vorkämen. Und deshalb wollten wir, dass er möglichst schnell stirbt, damit wir nicht länger unserer Angst und Unwissenheit ins Auge blicken müssten. Findest du das nicht auch?, fragte Dad. Was?, fragte ich zurück. Ich wusste wirklich nicht, was die Frage war. Selbstmord zu begehen war doch eine Sünde. Nein, antwortete ich, meiner Meinung nach heißt es trotzdem, dass wir grausam sind. Nein, sagte mein Vater, das heißt es nicht. Er wurde ein bisschen böse und redete eine Zeitlang nicht mehr mit mir, und dann hat er es sich einfach nie wieder richtig angewöhnt.
     Mein Vater hat schon als kleines Kind seine Familie verloren, als sie von ihrem Hof an der Schwarzmeerküste vertrieben wurden. Seine Eltern und seine Schwester wurden irgendwo in Russland am Straßenrand, zwischen Bäumen, von Soldaten niedergemetzelt und im Straßengraben verscharrt. Mein Vater überlebte, weil er den Soldaten Lieder vorsang, deutsche Kirchenlieder wohl, und die Soldaten das niedlich fanden, von so einem kleinen blonden Jungen, aber irgendwann hatten sie es über und drückten ihn einer anderen Mennonitenfamilie aufs Auge, die ihn adoptierte und mit nach Kanada nahm, damit er beim Vieh und beim Heuen mithalf. Er war todunglücklich in seiner Adoptivfamilie und lief mit zwölf weg, auf eine andere Farm, wo er meine Mutter kennenlernte und schließlich heiratete. Mehr weiß ich darüber nicht, denn als ich auf die Idee kam, ihn darüber auszufragen, redete er schon nicht mehr mit mir. Ich versuchte, meiner Mutter noch ein paar Einzelheiten zu entlocken, aber die meinte, mehr wüsste sie auch nicht.
     Als ich klein war, hatten wir auch Spaß miteinander, er und ich - richtigen Bauernhof-Spaß; er bastelte mir eine Schaukel, von der ich ins Heu springen konnte, und er verstand meinen Kummer, als mein Lieblingshuhn starb. Er fuhr sogar mit mir zum Stoffladen, damit ich ein Stück Flanell kaufen und meinem Huhn ein Totenkleid nähen konnte, besser gesagt einen Totenanzug aus Hose und Weste und einem kleinen Hut, und dann durfte ich es vor meinem Fenster begraben, statt dass er es ins Feuer geworfen hätte wie die anderen toten Hühner. Aber so verblüffend, gigantisch und schnell wie der Untergang der Titanic war das alles weg, als wir von einem Tag auf den anderen nach Mexiko zogen.

Zwei Wochen nach unserer Ankunft ging meine Mutter mit mir zum ersten Mal zum Arzt in Cuauhtemoc und erklärte ihm, ich glaubte, ich sei tot, und weder sie noch mein Vater könnten mich davon überzeugen, dass das nicht stimmt. Ich war damals dreizehn, so alt wie Aggie jetzt. Der Arzt redete Spanisch mit mir, und ich verstand ihn nicht besonders gut. Seine Praxis war in einer großen Scheune, seine Frau half ihm mit den Patienten. Er hatte einen kleinen Revolver in der Hosentasche, den er allerdings herausnahm und auf den Tisch legte, bevor er mich untersuchte. Er fragte, wie mein Leben denn so gewesen sei, als ich noch lebte.
     Keine Ahnung, antwortete ich.
     Ist das hier dein Leben nach dem Tod?, fragte er.
     Ja, antwortete ich, ich glaub schon.
     Und wie bist du gestorben?
     Keine Ahnung.
     Verdorbenes Essen?
     Kann sein, sagte ich. Keine Ahnung.
     Schlangenbiss?
     Nein.
     Herzinfarkt?
     Weiß ich nicht genau.
     Hast du das Gefühl, dass du auf die Welt gekommen bist und gelebt hast und dann gestorben bist, oder dass du überhaupt nicht gelebt hast?, fragte er.
     Ich habe gelebt und bin dann gestorben, sagte ich.
     Glaubst du dann, dass du im Himmel bist?
     Keine Ahnung.
     Wie kommst du denn darauf, dass du tot bist?, fragte er. Sind irgendwelche Glieder von dir taub?
     Nein, antwortete ich. Keine Ahnung.
     Hast du gesehen, wie du gestorben bist?
     Ja.
     Und wie bist du gestorben?
     Weiß ich nicht genau.
     Aber du hast es doch gesehen?
     Ja.
     Im Traum?
     Keine Ahnung.
     Wenn du in sechs Wochen immer noch glaubst, dass du tot bist, kommst du dann bitte wieder?, fragte er.
     Ich sah meine Mutter an. Sie nickte. Die Frage nach dem verdorbenen Essen hatte ihr gar nicht gefallen. Der Arzt bedankte sich bei ihr, dass sie mich hergebracht hatte, und tätschelte ihr den Arm. Dann steckte er den Revolver wieder in die Hosentasche. Mein Vater wartete draußen im Pick-up auf uns. Er fragte meine Mutter, ob ich immer noch glauben würde, dass ich tot bin.
     Keine Ahnung, sagte sie.
     Und du?, fragte er mich.
     Nein, antwortete ich.
     Stimmt das wirklich?, fragte er.
     Wieso findet ihr es denn so wichtig, ob ich lebe oder nicht?, fragte ich.
     Es geht nicht darum, ob du lebst oder nicht, denn du lebst ja eindeutig, sagte mein Vater. Es geht darum, was du glaubst. Er kniff mich in den Arm. Spürst du das?
     Ich nickte.
     Hör endlich auf mit deinen Mätzchen, Irma Voth, sagte er.
     Irgendwann wirst du heiraten und Kinder kriegen, Irma, sagte meine Mutter. Wirst du dafür wieder lebendig werden? Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Wie sollte ich das wissen? Auf dem Heimweg vergrub ich den Kopf in ihrem Schoß, und sie löste meine Zöpfe und kämmte mir mit den Fingern die Haare. Das war ein schönes Gefühl, sie war so zärtlich. Ich verstehe bis heute nicht, wie sie meine festen Zöpfe so ohne Ziepen aufmachen konnte. Fang einfach an, Irma, flüsterte sie mir zu. Ich wusste nicht, was sie meinte. Zu Hause legte sie sich dann zu mir ins Bett, obwohl ich schon dreizehn war, und streichelte mir den Rücken, immer wieder, ganz langsam.

Aggie und ich saßen auf dem Zaun und unterhielten uns. Um uns herum nichts als drei Farmhäuser, Mais und Himmel. Was machen die Jungs?, fragte ich.
     Mich ärgern, sagte sie. Wir hatten zwei kleine Brüder, Doft und Jacobo, die ständig alles, was ihnen unter die Finger kam, mit Strick zusammenbanden.
     Binden sie immer noch alles zusammen?, fragte ich.
     Ja, und Schuhe verstecken sie auch, antwortete sie. Unser Vater sei außerdem bereits dabei, sich mit dem Filmregisseur anzulegen.
     Ist der denn schon da?, fragte ich.
     Er ist extra früh angereist, sagte Aggie. Mom und ich haben mitgekriegt, wie er in der Küche mit Dad geredet hat. Dad hat gesagt, wenn der Hund seine Kühe anfällt oder er ihn auch nur auf den Maisfeldern erwischt, dann erschießt er ihn. Es ist ein Pitbull aus Mexico City, Irma, aber der Regisseur hat gesagt, dass er ganz lieb ist und einen Schatten auf der Seele hat. Er soll in dem Film als Familienhund mitspielen. Dad hat gesagt, dass kein Mensch hier einen Kampfhund aus Mexico City hat, schon gar keinen mit einer Seele, und das wäre ja schon der Beweis, dass der Regisseur keine Ahnung hat.
     Außerdem habe der Regisseur gesagt, er hätte fast sein ganzes Geld in diesen Film über wunderbare Menschen auf einem wunderschönen Flecken Erde gesteckt, er hätte den allergrößten Respekt vor Mennoniten und würde sie bewundern. Dad meinte dann, der Regisseur würde ihn anlügen, der Hund sei in Wirklichkeit ein Wachhund und nur dazu da, die teure Kameraausrüstung zu beschützen, und der Regisseur widersprach, nein, der Hund würde eine tragende Rolle in dem Film spielen. Und dann sagte unser Vater angeblich, Filme seien wie lecker aussehende Torten, gefüllt mit lauter Mist.
     Wie kann er das sagen, wenn er noch nie einen gesehen hat?, fragte ich Aggie.
     Er sagt, Kunst ist überhaupt eine Lüge, antwortete Aggie.

Wir saßen auf dem Zaun und schauten uns um. Schauten die kunstlosen Dinge an. Die wahren Dinge. Dinge, die zu uns gehörten und zueinander. Die Wolken, unsere Kleidung, meine Hände. Ein Vogel, der über uns flog, hatte zwei lange Zweige im Schnabel und ließ uns einen direkt vor die Füße fallen, wie ein Geschenk. Hier, ihr Mennonitenmädels, baut euch ein Nest. Könnte aber auch ein Angriff gewesen sein.
          Dad hat gesagt, du glaubst zwar an Gott, aber nicht an ein Leben nach dem Tod, sagte Aggie. Und das ist unmöglich, sagt er.
Das stimmt so was von überhaupt nicht, sagte ich. So was habe ich nie gesagt.
     Friedas Dad ist auf der falschen Seite der Autobahn nach Cuauhtemoc gefahren, sagte Aggie.
     So ein Trottel, sagte ich.
     Nein, sagte sie, jetzt ist er tot.
     War das Absicht?
     Keine Ahnung, sagte Aggie. Er ist die Strecke doch dauernd gefahren, oder? Die haben bestimmt nicht heimlich die Richtungen vertauscht.
     Und was machen sie jetzt?, fragte ich.
     Keine Ahnung, sagte Aggie, einen neuen Pick-up kaufen? Katharina aus meiner Klasse hat erzählt, dass sie den Narcos Geld schulden.
     Aggie, sagte ich.
     Ach, was weiß ich?, sagte sie. Hey, hier, ich hab was für dich. Sie zog ein Babyhemd mit einem kleinen ausgebleichten Blümchen am Kragen aus der Tasche. Das hast du in Kanada angehabt, wie du noch ein Baby warst. Mom hat es mir für dich mitgegeben.
     Danke, sagte ich. Als ich noch ein Baby war.
     Als du noch ein Baby warst?, sagte Aggie. Englisch ist dermaßen schwierig.
     Du kannst es aber ganz gut.
     Hey, und das hat sie mir auch noch mitgegeben, sagte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange.
     Lass den Quatsch, sagte ich.
     Kann ich bei dir wohnen, Irma?, fragte Aggie.
     Klar, wenn du dir dein Leben bis in alle Ewigkeit kompliziert machen willst?
     Vielleicht könnte ich ja heimlich bei dir wohnen, sagte Aggie.
     Eine Weile blieben wir stumm und hörten den Kühen beim Englischlernen zu. Sie bemühten sich angestrengt, Wörter zu bilden.
     Was das wohl heißen sollte?, fragte Aggie.
     Hilfe, antwortete ich. Kleiner Insiderwitz zwischen Aggie und mir.
     Du musst jetzt los, sagte ich, sonst wird es dunkel, und du landest auf dem Heimweg noch im Graben. Aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Aggie ignoriert meine Ratschläge grundsätzlich, als wollte sie ihr Leben unbedingt besser auf die Reihe kriegen als ich, und dann saßen wir noch eine ganze Zeitlang so da. Irgendwann wurden wir steif und fingen an, uns gegenseitig ganz leicht zu treten.
     Wann ziehen sie denn ein?, fragte ich.
     Keine Ahnung, antwortete Aggie. Heute Abend.
                                   
                                                        *

Mit freundlicher Genehmigung des Berlin Verlages
(Copyright Berlin Verlag)


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