Vorgeblättert

Leseprobe zu Nellie Bly: Zehn Tage im Irrenhaus. Teil 3

12.09.2011.
12. Kapitel

Ein Spaziergang mit den Irren


Ich werde niemals meinen ersten Spaziergang vergessen. Als alle Patientinnen die weißen Strohhüte aufgesetzt hatten - solche, wie sie Badegäste auf Coney Island tragen - konnte ich nicht anders, als über ihre komische Erscheinung zu lachen. Ich vermochte die Frauen nicht auseinanderzuhalten.
     Ich verlor Miss Neville aus den Augen und musste meinen Hut abnehmen, um sie zu suchen. Als wir uns wiederfanden, setzten wir die Hüte wieder auf und lachten über unseren Anblick. Immer zu zweit nebeneinander bildeten wir eine Reihe und gingen, bewacht von den Aufseherinnen, durch einen Hinterausgang zu den Spazierwegen.
     Wir waren noch nicht weit gegangen, als ich auf den anderen Wegen ebenfalls lange, von Krankenschwestern bewachte Reihen von Frauen entlangschreiten sah. Wie viele es waren! Überall wanderten sie in ihren merkwürdigen Kleidern, mit komischen Strohhüten und Schals langsam umher. Ich starrte gebannt auf die vorbeiziehenden Reihen, und ein schrecklicher Schauder erfasste mich beim Anblick dieser Frauen. Sie hatten leere Blicke und ausdruckslose Gesichter, und aus ihren Mündern kam sinnloses Geplapper. Eine Gruppe von ihnen kam an uns vorbei, und ich konnte sehen und riechen, dass sie fürchterlich schmutzig waren.
     "Wer sind die?", fragte ich eine Patientin in meiner Nähe.
     "Sie sind angeblich die Gewalttätigsten auf der Insel", antwortete sie. "Sie kommen aus der Lodge, dem ersten Gebäude mit den hohen Stufen."
     Einige von ihnen brüllten, andere fluchten, wieder andere sangen, beteten oder predigten, wie es ihnen gerade einfiel, und sie bildeten zusammen die erbarmungswürdigste Ansammlung von Menschen, die ich je gesehen hatte. Als ihr Lärm verebbte, eröffnete sich mir ein weiterer Anblick, den ich niemals vergessen werde:
     Zweiundfünfzig Frauen waren mit breiten, um ihre Taillen befestigten Ledergürteln an ein langes Stahlseil gefesselt. Am Ende des Seils fuhren zwei Frauen in einem schweren Eisenwagen. Die eine laborierte an einem wunden Fuß, die andere schrie einer Schwester zu: "Du hast mich geschlagen, und das werde ich nicht vergessen. Du willst mich töten", und dann weinte und jammerte sie. Die Frauen ?am Seil?, wie sie von den Patientinnen genannt wurden, waren mit ihren eigenen Einbildungen beschäftigt. Einige schrien die ganze Zeit über. Eine Frau mit blauen Augen drehte sich, als sie sah, dass ich sie beobachtete, soweit wie möglich von mir weg und redete und grinste dabei mit diesem schrecklichen, furchterregenden Ausdruck vollständigen Irrsinns im Gesicht. Die Ärzte dürften in ihrem Fall sicher urteilen. Der Anblick war für mich, die ich nie zuvor in der Nähe eines geisteskranken Menschen gewesen war, unerträglich.
     "Gott stehe ihnen bei!", stöhnte Miss Neville. "Es ist so fürchterlich, dass ich nicht hinschauen kann."
     So zogen sie vorbei, doch es kamen immer weitere nach. Können Sie sich diesen Anblick vorstellen? Laut einem der Ärzte sind 1600 geisteskranke Frauen auf Blackwell?s Island.
     Wahnsinn! Was kann auch nur halb so schlimm sein? Mein Herz schmerzte vor Mitleid, als ich alte, grauhaarige Frauen wahllos ins Leere sprechen sah. Eine Frau hatte eine Zwangsjacke an, und zwei andere Frauen mussten sie hinter sich herschleppen. Verkrüppelt, blind, alt, jung, hässlich und hübsch, bildeten sie eine besinnungslose Masse Mensch. Kein Schicksal könnte schlimmer sein.
     Ich betrachtete die schönen Rasenflächen, von denen ich einmal gedacht hatte, dass sie ein Trost für die armen, auf die Insel verwiesenen Geschöpfe sein müssten, und lachte über diese Vorstellung. Was haben sie von diesem Rasen? Sie dürfen ihn nicht betreten, nur anschauen. Ich sah, wie einige Patientinnen eifrig und zärtlich eine Nuss oder ein verfärbtes Blatt aufhoben, das auf den Weg gefallen war. Aber sie durften sie nicht behalten. Die Krankenschwestern zwangen sie stets, diesen kleinen Trost Gottes wegzuwerfen.
     Als ich an einem flachen Pavillon vorbeikam, in dem eine Horde hilfloser Irrer eingesperrt war, las ich eine Losung an der Mauer: "Solange ich lebe, hoffe ich."(1)
     Die Absurdität dieses Spruches wurde mir schmerzhaft bewusst. Ich hätte gerne über die Anstaltstore setzen lassen: "Wer hier eintritt, lässt alle Hoffnung fahren."(2)
     Während des Spaziergangs wurde ich fast ohne Unterlass von Krankenschwestern geplagt, die von meiner romantischen Geschichte gehört hatten und die von unseren Aufseherinnen wissen wollten, welche der Frauen ich war. Ich wurde wiederholt vorgezeigt.
     Bald wurde es Zeit zum Mittagessen, und ich hatte einen solchen Hunger, dass ich glaubte, alles essen zu können. Zuerst aber mussten wir wieder eine halbe oder Dreiviertelstunde im Gang warten, bis wir zu unserem Mittagessen kamen. Die Schalen, in denen wir morgens unseren Tee bekommen hatten, waren nun mit Suppe gefüllt, und auf einem Teller befand sich eine kalte gekochte Kartoffel und ein Stück Rindfleisch, das sich bei näherem Hinsehen als etwas verdorben erwies. Es gab keine Messer oder Gabeln, und die Patientinnen sahen einigermaßen wild aus, als sie das zähe Rindfleisch in die Finger nahmen und es mit ihren Zähnen zu reißen versuchten. Diejenigen, die keine oder nur schwache Zähne hatten, konnten es nicht essen. Für die Suppe gab es einen Esslöffel, und ein Stück Brot bildete den letzten Gang. Butter wurde zum Mittagessen ebenso wenig gereicht wie Kaffee oder Tee. Miss Mayard konnte nichts essen, und ich sah viele der Kranken sich mit Ekel abwenden. Ich war durch den Mangel an Essen bereits sehr schwach und versuchte, ein Stück Brot zu mir zu nehmen. Nach den ersten paar Bissen setzte sich der Hunger durch, und es gelang mir, das ganze Stück bis auf die Kruste zu verzehren.
     Der Anstaltsdirektor Dr. Dent kam durch den Aufenthaltsraum, grüßte hier und da einige der Patientinnen oder fragte oberflächlich nach ihrem Befinden. Seine Stimme war so kalt wie die Luft im Raum, und die Patientinnen machten keinerlei Anstalten, ihm von ihren Leiden zu erzählen. Ich ermutigte sie, ihm zu sagen, wie sie unter der Kälte und der unzureichenden Kleidung litten, aber sie antworteten mir, dass die Schwester sie prügeln würde, wenn sie davon sprächen.
     Ich bin niemals so müde gewesen wie beim Sitzen auf diesen Bänken. Manche der Patientinnen klemmten einen Fuß unter oder saßen seitwärts auf der Bank, um ein wenig Abwechslung zu haben, aber sie wurden stets gerügt und ermahnt, sich gerade hinzusetzen. Wenn sie sprachen, wurden sie ausgeschimpft und bekamen gesagt, dass sie den Mund halten sollten. Wenn sie auf und ab gehen wollten, um die Steifheit loszuwerden, hieß es, dass sie sich hinsetzen und ruhig sein sollten. Was, außer Folter, würde Geisteskrankheit schneller hervorbringen als diese Behandlung? Diese Frauen waren hier, um geheilt zu werden!
     Jene medizinischen Spezialisten, die mich heute für mein Handeln verurteilen, weil sie sich in ihrer Berufsehre gekränkt fühlen, sollten einmal eine gesunde und in vollem Besitz ihrer Geisteskräfte stehende Frau einsperren und sie zwingen, von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends gerade auf einer Bank zu sitzen. Sie dürfte sich in dieser Zeit nicht bewegen oder unterhalten, nichts zum Lesen haben und nicht wissen, was draußen in der Welt vor sich geht. Sie sollte schlechtes Essen bekommen und eine raue Behandlung, und dann sollte man schauen, wie lange es dauert, bis sie wahnsinnig wird. Innerhalb von zwei Monaten wäre sie ein geistiges und körperliches Wrack.
     Ich habe meinen ersten Tag in der Anstalt beschrieben, und da der Tagesablauf an den weiteren neun Tagen exakt der gleiche war, wäre es ermüdend, von jedem einzeln zu erzählen. Jetzt, wo ich diese Geschichte präsentiere, erwarte ich, dass viele der entlarvten Beteiligten mir widersprechen werden. Ich aber erzähle lediglich von dem Leben, das ich zehn Tage lang in einem Irrenhaus geführt habe - in einfachen Worten und ohne jede Übertreibung.
     Das Essen war mit das Schrecklichste. Bis auf die ersten zwei Tage nach meiner Einlieferung gab es kein Salz zum Essen. Die hungrigen oder sogar verhungernden Frauen versuchten, das fürchterliche Essen zu verzehren. Senf und Essig wurden auf das Fleisch und in die Suppe gegeben, um ihnen Geschmack zu verleihen, aber das machte es nur noch schlimmer. Außerdem war auch das nach zwei Tagen verbraucht, und die Patientinnen mussten nun frischen Fisch hinunterwürgen, der einfach nur in Wasser gekocht worden war, ohne Salz, Pfeffer oder Butter; oder Lamm, Rind und Kartoffeln ohne einen Hauch von Gewürzen. Die am schwersten Geisteskranken weigerten sich, das Essen hinunterzuschlucken, und wurden mit Strafen bedroht. Auf unseren kurzen Spaziergängen kamen wir an der Küche vorbei, in der das Essen für die Schwestern und Ärzte zubereitet wurde. Wir erhaschten dort Blicke auf Melonen und Weintrauben und die verschiedensten Sorten Obst, auf schönes Weißbrot und gutes Fleisch, und der Hunger wurde noch schlimmer. Ich sprach mit einigen Ärzten, doch das hatte keinerlei Auswirkung, und als ich aus der Anstalt weggebracht wurde, war das Essen noch immer ungesalzen. Es tat mir im Herzen weh zu sehen, wie die Patientinnen von dem Essen noch kränker wurden. Ich sah, wie Miss Tillie Mayard bei einem Bissen plötzlich Übelkeit überkam, so dass sie aus dem Speisesaal hinauseilen musste, und wie sie dann für ihr Verhalten ausgeschimpft wurde. Wenn die Patientinnen sich über das Essen beschwerten, hieß es, dass sie den Mund halten sollten, dass sie es zu Hause nicht so gut hätten und dass das Essen für Patientinnen der Wohlfahrt immer noch viel zu gut sei.
     Ein deutsches Mädchen, Louise - ich habe ihren Nachnamen vergessen -, aß mehrere Tage lang nichts, und eines Morgens schließlich fehlte sie. Den Gesprächen der Schwestern entnahm ich, dass sie an hohem Fieber litt. Das arme Ding! Sie erzählte mir, dass sie ununterbrochen für ihren Tod bete. Ich beobachtete, wie die Schwestern einer Patientin auftrugen, das Essen, das die gesunden Patientinnen zurückwiesen, zu Louises Zimmer zu tragen. Stellen Sie sich dieses Essen für eine Fieberpatientin vor! Natürlich aß sie es nicht. Ich sah daraufhin, wie eine der Schwestern - es war Miss McCarten - zu ihr ging, um Fieber zu messen, und dann berichtete, dass es bei etwa 150 Grad Fahrenheit(3) liege. Als Miss Grupe mich darüber schmunzeln sah, fragte sie mich nach dem höchsten Fieber, das ich je gehabt habe. Ich antwortete nicht. Daraufhin entschied sich Miss Grady, ihr Können zu erproben. Sie kam mit dem Bericht zurück, dass es 99 Grad seien.(4)
     Miss Tillie Mayard litt von uns allen am meisten unter der Kälte. Dennoch versuchte sie, meinem Rat zu folgen, guter Dinge zu sein und für eine Weile stark zu bleiben.
     Anstaltsdirektor Dent brachte einen Mann zu uns herein, der mich sehen wollte. Er fühlte meinen Puls und untersuchte meine Zunge und meinen Kopf. Ich sagte ihnen, wie kalt es sei und versicherte, dass ich keiner medizinischen Hilfe bedürfe, Miss Mayard jedoch wohl, und dass sie ihre Aufmerksamkeit ihr widmen sollten. Sie antworteten mir nicht, und ich war froh, als Miss Mayard ihren Platz verließ und auf uns zukam. Sie sprach mit den Ärzten und sagte ihnen, dass sie krank sei, aber diese beachteten sie nicht. Die Schwestern kamen und zerrten sie zurück auf die Bank, und nachdem die Ärzte gegangen waren, sagten sie: "Bald werden Sie merken, dass die Ärzte Sie nicht beachten, und dann werden Sie aufhören, Sie zu bestürmen." Bevor die Ärzte mich verließen, hörte ich einen von ihnen sagen - ich kann es nicht wörtlich wiedergeben -, dass mein Puls und meine Augen nicht die einer Geisteskranken seien, aber Direktor Dent versicherte ihm, dass in Fällen wie meinem die Tests nicht griffen. Nachdem er mich eine Weile beobachtet hatte, sagte er, dass ich das aufgeweckteste Gesicht habe, das er je bei einer Geisteskranken gesehen habe.
     Die Schwestern trugen schwere Unterkleider und Mäntel, aber sie weigerten sich, uns Schals zu geben. Fast die ganze Nacht über hörte ich eine Frau über die Kälte jammern und Gott darum bitten, dass er sie sterben lassen möge. Eine andere schrie in gewissen Abständen "Mord!" und "Polizei!", was mich schaudern machte.
     Am zweiten Morgen, als wir unsere endlose "Sitzung" für diesen Tag begonnen hatten, brachten zwei Schwestern mit Unterstützung einiger Patientinnen die Frau herein, die in der letzten Nacht Gott darum gebeten hatte, sie zu sich zu nehmen. Mich überraschte ihr Gebet nicht. Sie war wohl siebzig Jahre oder älter, und sie war blind. Obwohl die Räume eiskalt waren, trug sie die gleiche Kleidung wie wir und die ich bereits beschrieben habe. Als sie in den Aufenthaltsraum gebracht und auf die harte Bank gesetzt wurde, klagte sie: "Ach, was machen Sie mit mir? Mir ist so kalt, so kalt. Warum kann ich nicht im Bett bleiben oder einen Schal bekommen?" Und während sie dies sagte, stand sie immer wieder auf und versuchte, sich aus dem Raum herauszutasten. Manchmal stießen die Aufseherinnen sie zurück auf die Bank, dann ließen sie sie wieder laufen und lachten, wenn sie gegen den Tisch stieß oder gegen die Ecken der Bänke. Einmal sagte die Frau, dass die schweren Schuhe, die sie von der Wohlfahrt bekommen hatte, ihren Füßen wehtaten und zog sie aus. Die Schwestern ließen ihr die Schuhe von zwei Patientinnen wieder anziehen. Als sie sie dann wieder und wieder auszog und sich wehrte, sie erneut angezogen zu bekommen, versuchten sieben Leute auf einmal, ihr die Schuhe anzuziehen. Die alte Frau versuchte dann, sich auf der Bank hinzulegen, aber die Schwestern zogen sie wieder hoch. Es war erbarmungswürdig, wie sie heulte: "Gebt mir doch ein Kissen und deckt mich zu, mir ist so kalt."
     Dann sah ich, wie Miss Grupe sich auf die Frau setzte und ihr mit ihren kalten Händen über das Gesicht, in das Kleid hinein und über den Nacken strich. Über die Schreie der alten Frau lachte sie unbändig. Auch die anderen Schwestern lachten und wiederholten die brutale Behandlung. An diesem Tag wurde die alte Frau in eine andere Abteilung gebracht.

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(1) Zitat aus Ciceros Briefen an Atticus: 'Dum spiro, spero' (wörtlich: "Solange ich atme, hoffe ich")
(2) Zitat aus Dantes
Die Göttliche Kommödie (Inferno, 3.Gesang). Die Worte finden sich in einer Inschrift der Höllenpforte.
(3) ca. 65,5 Grad Celsius
(4) ca. 37.2 Grad Celsius


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Mit freundlicher Genehmigung des AvivA Verlages
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