Vorgeblättert

Leseprobe zu Paul Torday: Lachsfischen im Jemen. Teil 3

22.03.2007.
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Auszüge aus dem Tagebuch von Dr. Alfred Jones:
Hochzeitstag



7. Juni
Bis jetzt habe ich mein Tagebuch hauptsächlich dazu benutzt, um mir Termine für Besprechungen, Zahnarztbehandlungen oder andere Verpflichtungen zu notieren. Seit einigenMonaten jedoch verspüre ich das Verlangen, meine Gedanken über dies und jenes festzuhalten und das Gefühl einer intellektuellen und emotionalen Unruhe, die in mir wächst, je näher die Lebensmitte rückt, zu bannen. Heute ist unser Hochzeitstag. Mary und ich sind jetzt seit über zwanzig Jahren verheiratet. Irgendwie kommt es mir richtig vor, die Routine meines Alltags aufzuzeichnen. Vielleicht hilft es mir dabei, eine Perspektive zu finden, von der aus ich mein Leben wieder schätzen lernen und neu bewerten kann, jedenfalls mehr als imMoment.
     Ich habe Mary aus diesem Anlass ein Abonnement für den Economist geschenkt. Sie liest ihn gerne, wie ich weiß, scheut aber die Geldausgabe. Mir hat sie einen Ersatzkopf für meine elektrische Zahnbürste gekauft, was äußerst praktisch ist. Ich mache mir nicht viel aus Gedenktagen. Die Jahre gehen nahtlos ineinander über. Aber aus irgendeinem Grund habe ich heute Abend das Gefühl, als müsste ich über die nun mittlerweile vielen Jahre meiner Ehe mit Mary nachdenken. Wir haben kurz nach unserem Uniabschluss in Oxford geheiratet. Es war keine stürmische Romanze, wir haben vielmehr immer eine ruhige und beständige Beziehung geführt, wie sie vernunftorientierten und beruflich engagierten Menschen angemessen ist.
     Wir sind beide Humanisten, Akademiker und Wissenschaftler. Marys Wissenschaft ist die Analyse von Risiken, die der Geld- und Kreditverkehr der globalen Finanzsysteme mit sich bringt. Sie hat Artikel darüber geschrieben, zum Beispiel "Die Rolle der mindestreserveähnlichen Einlagen bei der Abschwächung ungewöhnlicher Ströme von nicht durch Reserven gestützten Währungen", die allgemeine Beachtung finden. Ich selbst habe sie mit Vergnügen gelesen, obwohl ich einige der Berechnungsverfahren nicht nachvollziehen konnte. Mittlerweile ist Mary von der eher akademischen Ebene zur Leitungsebene der Bank übergesiedelt. Sie wird gut bezahlt, ist erfolgreich und angesehen und wird es vermutlich noch weit bringen. Der einzige Nachteil ist, dass wir uns etwas seltener sehen, da sie neuerdings sehr viel unterwegs ist.
     Ich habe mir meinen Namen mit einer Studie gemacht, "Die Wirkung von Laugen auf Süßwasser-Muschelpopulationen", die einige neue bahnbrechende Konzepte, was die Paarung von Süßwassermuscheln betrifft, hervorgebracht hat. Seitdem bin auch ich beruflich vorangekommen. Finanziell stehe ich nicht ganz so gut da wie Mary, aber meine Arbeit befriedigt mich, und ich glaube, meine Kollegen halten viel von mir.
     Mary und ich haben uns entschieden, kinderlos zu bleiben. Unser Leben ist daher relativ erschütterungsfrei. Mir ist bewusst, dass eine kinderlose Ehe manchmal eine bessere Entschuldigung für Egoismus ist, daher bemühen wir uns nach Kräften, uns in der wenigen Freizeit, die wir haben, in unserer Nachbarschaft zu engagieren. Mary gibt in unserem örtlichen Immigrationszentrum Einwanderern aus Tschetschenien und Kurdistan, die aus irgendeinem Grund in unserer Gegend landen, Kurse in Wirtschaftstheorie. Ich halte gelegentlich Vorträge in dem Ortsverband der humanistischen Gesellschaft. Vergangene Woche erst gab ich den dritten aus einer mehrteiligen Serie mit dem Titel "Warum es keinen Gott gibt. Ich rede mir ein, dass diese Vorträge das Publikum in irgendeiner Weise dazu verleiten könnten, den Aberglauben früherer Epochen, der sich in den religiösen Lehren, die an manchen unserer Schulen bedauerlicherweise weitergegeben werden, noch immer hält, in Frage zu stellen.
     Was kann ich noch über die mehr als zwei Jahrzehnte währende Ehe sagen? Beide halten wir uns fit. Ich gehe zwei- bis dreimal die Woche joggen, Mary macht Yoga, wenn sie Zeit hat. Früher waren wir Vegetarier, essen heute aber wieder Fisch und weißes Fleisch, und ich genehmige mir von Zeit zu Zeit Alkohol, Mary trinkt allerdings nur selten. Wir lesen gerne, solange die Lektüre nutzbringend und informativ ist, und gelegentlich gehen wir ins Theater oder besuchen eine Kunstausstellung.
     Außerdem angele ich. Eine spießige Tätigkeit, die Mary ablehnt. Sie sagt, die Fische spüren Schmerz; ich als Fischereiwissenschaftler dagegen weiß, dass das nicht der Fall ist. Wahrscheinlich ist es das einzige Thema, bei dem wir uns darüber einig sind, dass wir uneinig sind.
     Heute ist es also wieder mal so weit: unser Hochzeitstag. Dieses Jahr ist fast genauso verlaufen wie das letzte, und das letzte Jahr so wie das davor. Wenn ich mir gelegentlich etwas mehr Abwechslung wünsche, etwas mehr Leidenschaft, dann lässt es sich für gewöhnlich auf die Missachtung der Ernährungsrichtlinien zurückführen, die Menschen meiner Blutgruppe (A) befolgen sollten: nicht zu viel Fleisch. Manchmal kann ich der Versuchung nicht widerstehen und esse Rindfleisch; eigentlich nicht weiter verwunderlich, dass ich danach immer so irrationale Anwandlungen habe … Dabei weiß ich gar nicht genau, was für welche. Vielleicht langweile ich mich nur. Wie kann das sein?
     Es braucht nur so etwas wie das Jemenlachs-Projekt daherzukommen, schon werde ich daran erinnert, dass ich eine Abneigung gegen das Irrationale, das Unvorhersehbare und das Unbekannte habe.

8. Juni
Heute hatten wir eine Abteilungskonferenz, um die Endfassung meines Artikels "Auswirkungen erhöhten Säuregehalts im Wasser auf die Larve der Köcherfliege zu besprechen. Von allen Seiten Komplimente, besonders von David Sugden. Soll das ein Friedensangebot sein? Er hat mich noch nicht wieder zu dem Jemenlachs-Projekt befragt, und ich habe natürlich nichts unternommen. Ich halte mich bedeckt und warte darauf, dass sich das Problem von allein erledigt. Das öffentliche Lob des Direktors für meine Arbeit über die Köcherfliege hat meinem Team jedenfalls den Rücken gestärkt. David ließ sich sogar zu der Bemerkung hinreißen, dass mit der Veröffentlichung meines Artikels wohl alles Abschließende zum Thema Köcherfliege gesagt wäre. Das nenne ich Lob. In solchen Momenten merke ich, dass das Gehalt eigentlich nicht so wichtig ist. Mary beklagt sich manchmal darüber, dass ich nicht angemessen entlohnt werde. Aber es gibt Wichtigeres im Leben als Geld. Ich habe die menschliche Kenntnis über ein kleines braunes Insekt um ein wichtiges Stück erweitert. Denn so unbedeutend die Köcherfliege auch erscheinen mag, ist sie doch ein entscheidender Indikator für die Gesundheit unserer Flüsse. Sowohl Trout & Salmon als auch das Atlantic Salmon Journal haben um eine Pressemitteilung gebeten.
     Mary ist in New York. Freitag und Samstag war sie den ganzen Tag zu Hause. Trotzdem ist der Kühlschrank leer. Eben war ich ein Stück die Straße runter bei dem indischen Imbiss, der bis spätabends geöffnet hat, um mir was zu essen zu kaufen, und jetzt sitze ich an meinem Tagebuch und wische mir einen Happen Balti-Hähnchen vom Schoß, der mir von der Plastikgabel gerutscht ist. Gerade fällt mir ein, dass ich vergessen habe, Kaffee für morgen früh einzukaufen.
     Ein letzter Selbstvorwurf nach einem Tag beruflicher Triumphe: Ich weiß, wie egoistisch ich bin, mich so über meine Erfolge in Sachen Köcherfliege auszulassen. Ich möchte an dieser Stelle auch mal meine Bewunderung für Mary zum Ausdruck bringen. Ihre Arbeit, die ich bereits in meinem gestrigen Eintrag erwähnte und die so gänzlich anders geartet ist als meine, hat ihr eine lobende Erwähnung in ihrer Bank Interfinance S. A. eingebracht. Sie ist auf der Überholspur bei Interfinance. Ich halte sehr viel von Frauen, die im Leben etwas erreichen wollen, und beobachten zu dürfen, wenn es der eigenen Frau widerfährt, zumal in der männlich dominierten Finanzwelt, ist beglückend.
     Die weibliche Köcherfliege spielt in ihrer sozialen Gruppe ebenfalls eine außerordentlich wichtige Rolle.

9. Juni
Der Imbiss hat meine Verdauung heute Morgen durcheinandergebracht, was vielleicht nicht weiter verwunderlich ist. Meine übliche allmorgendliche Joggingrunde musste ausfallen, weil mir ziemlich schlecht war. Es war kein Kaffee mehr in der Dose, und das Verfallsdatum auf der einzigen Flasche H-Milch war längst abgelaufen. Ich lief schon übel gelaunt im Büro ein, und es dauerte seine Zeit, bis ich in die Gänge kam.
     Schon komisch, wie rasch sich die Dinge ändern können. In den vergangenen beiden Tagen habe ich darüber nachgedacht, was für ein ruhiges und doch geistig anregendes Leben ich mit Mary führe und welche Befriedigung ich noch immer aus einer gelungenen wissenschaftlichen Arbeit ziehen kann. All das erscheint, im Moment jedenfalls, dahin.
     Es gilt von einer der unangenehmsten Erfahrungen in meinem Berufsleben zu berichten. Es war zehn Uhr. Ich war gerade zusammen mit Ray dabei, die bildlich am meisten überzeugenden Fotos auszusuchen, die den Artikel über die Köcherfliege illustrieren sollten, da kam Sally rein und sagte mir, dass David Sugden mich sofort sprechen wolle. Ich antwortete ihr, dass ich in ein paar Minuten, sobald Ray und ich fertig wären, in Davids Büro gehen würde. Sally sah mich seltsam an. Ihre Worte habe ich noch genau im Kopf. Sie sagte: "Alfred, der Direktor meint auf der Stelle. Jetzt. Sofort."
     Ich stand auf, entschuldigte mich bei Ray und sagte, ich wäre in ein paarMinuten wieder da. Etwas verärgert ging ich durch den Flur zu Davids Büro.Wir legenWert auf Einvernehmlichkeit in unserer Abteilung. Wir sind Wissenschaftler, keine Verwaltungsbeamten. Hierarchien bedeuten uns wenig, als menschlicheWesen behandelt zu werden alles. David hat das im Großen und Ganzen kapiert, und obwohl er ein Karrierebeamter im Staatsdienst ist, hat er sich ganz gut eingefügt. Jedenfallsweiß er, dafür ist er lange genug dabei, dass ich nicht gerne herumkommandiert oder gedrängt werde.
     Als ich Davids Büro betrat, musste ich mir ein Lächeln abringen und mir jede Spur von Verärgerung in meiner Stimme verkneifen. "Wo brennt’s?", fragte ich ihn. Irgendwas in der Art.
     Ich finde es wichtig, David immer wieder mal daran zu erinnern, dass er Verwaltungsmensch ist und ich Wissenschaftler bin. Ohne Wissenschaftler gäbe es keinen Bedarf an Verwaltungsleuten. Wie üblich lag auf Davids Schreibtisch kein unnötiger Kram herum, nur ein Flachbildschirm und eine Tastatur standen darauf. Die Platte knapp zwei Quadratmeter mattschwarzes Metall, durch zwei Bögen Papier etwas ansehnlicher gemacht. Ohne mich vorher zu bitten, Platz zu nehmen, was er sonst immer tut, hob er einen der beiden Bögen hoch und wedelte mir damit vor der Nase herum. Ich konnte nicht erkennen, was es war. Dann sagte er, das sei mein P45. Er legte das Blatt zurück auf den Schreibtisch und wartete darauf, dass ich etwas erwiderte. Zuerst erfasste ich seine Worte gar nicht richtig. Ich sagte, dass ich ihn nicht verstünde.
     David sah mich ernst an. Er sagte: "Ich weiß, dass Sie in einem Elfenbeinturm leben, Alfred, aber selbst Ihnen müsste klar sein, was ein P45 ist. Sie brauchen das Formular für das Finanzamt und die Sozialversicherung, wenn Ihr Arbeitsvertrag von Ihrem Arbeitgeber beendet wird, in diesem Fall also von uns".
     Ich starrte ihn an. David legte das eine Blatt Papier hin und nahm das andere. Er erklärte, dies sei ein in meinem Namen aufgesetzter Brief an Fitzharris & Price. Eine Bitte um einen Termin in naher Zukunft, um das Jemenlachs-Projekt zu besprechen. Der Ton des Schreibens war entschuldigend und schmeichelnd; es begründete mein Versäumnis, nicht eher geantwortet zu haben, als Folge einer Arbeitsüberlastung und brachte die Hoffnung zum Ausdruck, die Möglichkeit zur Zusammenarbeit sei noch immer gegeben. Nachdem ich es mir durchgelesen hatte, stellte ich fest, dass ich bebte, ob aus Verärgerung oder Besorgnis, wusste ich jedoch nicht zu sagen.
     David hob jetzt wieder das P45-Formular auf und nahm mir den Brief an Fitzharris & Price ab. Beides hielt er nun hoch und verkündete mit tonloser Stimme: "Sie können dieses Büro mit Ihrem P45-Formular in der Tasche verlassen, Dr. Jones, oder Sie nehmen diesen Brief mit und schicken ihn mit einem Boten an Fitzharris & Price. Mir persönlich ist es völlig egal, wofür Sie sich entscheiden, aber ich glaube, Fitzharris & Price hat man gesagt, Sie seien der Mann, an den man sich zu halten habe, andernfalls hätte ich Ihnen den Luxus dieser Entscheidung nicht gewährt."
     Ich sah mich nach einem Stuhl um. Links von mir stand einer, und ich fragte David, ob ich mich setzen dürfe.
     David sah auf die Uhr und sagte, er habe in einer halben Stunde einen Termin beim Minister. "Der Minister wird mich um einen Lagebericht bitten. Was darf ich ihm mitteilen?"
     Ich schluckte einige Male. Meine Beine zitterten. Ich zog mir den Stuhl heran und ließ mich nieder.
     "David, das Ganze ist völlig unsinnig."
     Er unterbrach mich.
     "Mit welchem Blatt Papier wollen Sie aus diesem Büro hinausgehen?"
     Ich war unfähig zu sprechen. Diese Nazimethoden schockierten mich zutiefst. Ich zeigte auf den Brief an Fitzharris & Price.
     "Dann unterschreiben Sie jetzt sofort."
     "Erlauben Sie, dass ich ihn mir durchlese?", fragte ich.
     "Nein."
     Im ersten Moment hätte ich beinahe die Beherrschung verloren. Am liebsten hätte ich den Brief zusammengeknüllt und ihn David Sugden ins Gesicht gepfeffert, stattdessen tastete ich schon nach meinem Füllfederhalter in der Innentasche meines Jacketts, zog den verhassten Papierbogen zu mir heran und unterschrieb.
     David nahm ihn mir umgehend wieder ab und sagte, er werde ihn persönlich aufgeben. Er habe alle Termine für den nächsten Monat in meinem Microsoft-Outlook-Kalender gestrichen. Wenn ich meine Stelle behalten wolle, gäbe es für mich nur eine Priorität, eine einzige. Ich solle mich mit Harriet Chetwode-Talbot treffen und sie davon überzeugen, dass das Zentrum für Fischereiwesen die einzige Institution sei, welche überhaupt erst die Voraussetzungen biete, einen Entwurf für ihr Lachsprojekt zu erstellen, und weiter solle ich sie davon überzeugen, dass ich dafür der geeignete Mann sei.
     Ich nickte. David stand auf. Für einen Augenblick schien es so,vals wollte er noch etwas sagen, ein Wort der Entschuldigung odervder Erklärung. Dann sah er wieder auf die Uhr, sagte: "Ich darf den Minister nicht warten lassen", und ging.
     Ich ging ebenfalls, ohne noch etwas zu sagen, aber hoffentlich mit einiger Würde.
     Jetzt, da ich von diesen unerfreulichen Ereignissen berichte, denke ich, dass es ganz schön wäre, wenn Mary heute Abend zu Hause gewesen wäre. Manchmal möchte man sich doch mit seinem Partner über solche Sachen austauschen. Mary führt nicht gerne lange Telefongespräche. Telefonieren nur zu Informationszwecken, sagt sie immer. Das Problem ist nur, dass sie zu selten zu Hause ist, um die Gespräche, die sie ungern mit mir am Telefon führen möchte, von Angesicht zu Angesicht führen zu können. Trotzdem bin ich stolz darauf, dass sie es so weit gebracht hat.
     Ich hoffe, dass sie auch stolz auf mich ist, wenn ich ihr sage, wie würdevoll ich mich David Sugdens Machtspielchen widersetzt habe.


Mit freundlicher Genehmigung des Berlin Verlages
(copyright Berlin Verlag)

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