Vorgeblättert

Leseprobe zu Perry Anderson: Nach Atatürk. Teil 2

09.03.2009.
Das osmanische Sultanat verhielt sich bei seiner Expansion nach Europa zwischen dem vierzehnten und sechzehnten Jahrhundert tatsächlich toleranter (mag der Begriff hier auch ein Anachronismus sein) als irgendeine christliche Herrschaft dieser Epoche. Es genügt, das Schicksal der Muslime im katholischen Spanien mit dem der orthodoxen Christen auf dem Balkan unter osmanischer Herrschaft zu vergleichen. Dort wurden die Christen wie die Juden vom Sultan weder zum Übertritt gezwungen noch vertrieben, sondern sie konnten im Hause des Islam ihren Glauben ausüben, wie sie wollten. Dies war nicht eine Toleranzpolitik im modernen Sinne und auch keine Eigenheit des osmanischen Reiches - es entsprach einem traditionellen System islamischer Herrschaft, das sich bis auf das Kalifat der Umayyaden im achten Jahrhundert zurückverfolgen lässt.(2)

Die Ungläubigen waren unterworfene Völker, juristisch geringer gestellt als die herrschende Nation. In der Sprache und in der alltäglichen Praxis bildeten sie getrennte Gemeinwesen. Höher besteuert als die Gläubigen, durften sie keine Waffen tragen und keine Prozessionen abhalten, durften bestimmte Kleider nicht tragen und keine Häuser über eine gewisse Höhe hinaus errichten. Muslime konnten ungläubige Frauen nehmen; Ungläubige durften keine muslimischen Frauen ehelichen.

Der osmanische Staat, der dieses System erbte, entstand im Anatolien des vierzehnten Jahrhunderts aus einer türkischen Stammesherrschaft, die mit anderen rivalisierte und sich auf Kosten lokaler muslimischer Konkurrenten nach Osten und Süden, auf Kosten der Überreste des byzantinischen Reiches nach Westen und Norden ausdehnte. Zweihundert Jahre lang, während seine Armeen den größten Teil Osteuropas, des Nahen Ostens und Nordafrikas eroberten, behielt das so entstandene Reich bei seinem Vormarsch diese Doppelrichtung bei. Doch stand nie in Zweifel, wo der strategische Schwerpunkt und die Haupttriebkraft zu suchen waren. Von Anfang an hatten die osmanischen Herrscher ihre Legitimität aus dem heiligen Krieg - gaza - abgeleitet, der an den Grenzen der Christenheit zu führen war. Die unterworfenen Regionen Europas bildeten die wohlhabendsten, bevölkerungsreichsten und politisch wertvollsten Teile des Imperiums, und den Schauplatz der weitaus meisten militärischen Operationen, während ein Sultan nach dem anderen sich anschickte, das Haus des Islam um das Haus des Krieges zu vergrößern. Der osmanische Staat war gegründet auf "das Ideal fortwährender Kriegführung"(3), wie seine jüngste Historikerin Caroline Field geschrieben hat. Er erkannte niemanden als gleichberechtigt an und wusste nichts von friedlicher Koexistenz; er war für das Schlachtfeld geschaffen, ohne territoriale Begrenzung oder Definition.

Doch war dieser Staat auch pragmatisch. Von Anbeginn an verband
er den ideologisch motivierten Krieg gegen die Ungläubigen damit, dass er sich der Ungläubigen zu eben diesem Zwecke zu bedienen wusste. Für die absolutistischen Monarchien, die ein wenig später in Westeuropa entstanden und in ihrem jeweiligen Herrschaftsbereich dynastische Autorität beanspruchten und religiöse Konformität erzwangen, lag die merkwürdige Eigenart des Reiches von Mehmed II. und seinen Nachfolgern in der besonderen Verbindung von Zwecken und Mitteln. Einerseits führten die Osmanen einen unbegrenzten heiligen Krieg gegen die Christenheit. Andererseits stützte sich dieser Staat seit dem fünfzehnten Jahrhundert auf ein Aufgebot - die devshirme - ehemals christlicher junger Männer, die in den unterworfenen Völkern des Balkans ausgehoben worden waren (welche allgemein nicht gezwungen wurden, sich zum Islam zu bekehren); aus ihnen ging die militärische und administrative Elite hervor, die kapi kullari oder "Sklaven des Sultans".(4)

Mehr als zweihundert Jahre erschauerte Europa vor der Energie dieser Eroberungsmaschine, deren Einflussbereich schließlich von Aden bis Belgrad und von der Krim bis zum Rifgebirge reichte. Doch gegen des siebzehnten Jahrhunderts, nach der letzten Belagerung Wiens, hatte sich die Energie erschöpft. Der Herrschaftsapparat des Reiches rekrutierte sich nicht mehr aus den Sprösslingen von Ungläubigen, und die Ämter fielen wieder an einheimische Muslime zurück; das militärische Gleichgewicht verschob sich nach und nach zuungunsten der Hohen Pforte.(5) Nach dem späten achtzehnten Jahrhundert, als Russland der Türkei einige vernichtende Niederlagen nördlich des Schwarzen Meeres beigebracht und Frankreich Ägypten im Nu erobert hatte, siegte der osmanische Staat nie wieder in einem größeren Krieg. Im neunzehnten Jahrhundert hing sein Überleben ganz von der wechselseitigen Eifersucht der räuberischen Großmächte Europas ab und nicht mehr von irgendeiner eigenen inneren Stärke. Immer wieder wurde er vor weiteren Territorialverlusten oder auch vor der völligen Zerstörung nur durch die Intervention rivalisierender ausländischer Mächte bewahrt, die ihre jeweiligen Konkurrenten zurückdrängten - gerettet von London, Paris, Wien und bei einem denkwürdigen Anlass sogar von St. Petersburg.

Die verschiedenen äußeren Bedrohungen - immer bedrohlicher, je größer die technologische Kluft zwischen dem osmanischen Reich und den Reichen Europas wurde - hätten sich im Prinzip noch lange genug gegenseitig neutralisieren können, um dem osmanischen Reich Gelegenheit zu geben, eine Generalreform von Staat und Gesellschaft durchzuführen und so der Herausforderung des Westens zu begegnen (das Beispiel des rebellischen Satrapen der Pforte in Ägypten, Mehmet Ali, demonstrierte, was möglich gewesen wäre). Doch der Aufstieg des Nationalismus bei den unterworfenen christlichen Völkern des Balkans untergrub jedes diplomatische Gleichgewicht. Die Unabhängigkeit Griechenlands, zögernd unterstützt von Großbritannien und Frankreich (die befürchteten, Russland könne sonst der alleinige Schutzherr der Griechen werden), versetzte dem Sultanat einen Schock, der hinreichte, dass man die ersten ernsthaften Anstrengungen innerer Reform unternahm. In der Tanzimat-Periode (1839-1876) wurde eine systematische Modernisierung betrieben. Der Sultanspalast trat zugunsten der Bürokratie in den Hintergrund. Die Verwaltung wurde zentralisiert, die Rechtsgleichheit aller Untertanen und die Unantastbarkeit des Eigentums wurden proklamiert; Schulbildung und Wissenschaft wurden gefördert; Ideen und Bräuche aus dem Westen importiert. Unter einer Reihe von Wesiren, die mit dem Vorbild Englands sympathisierten, nahm das osmanische Reich seinen Platz im europäischen Konzert der Mächte ein.

Doch konnten die Reformkräfte der Zeit, mochten sie auch säkularen Ideen verpflichtet sein, die religiösen Grundlagen osmanischer Herrschaft nicht wirklich verändern. Drei Ungleichheiten waren von der Tradition besiegelt: die zwischen Gäubigen und Ungläubigen, Herren und Sklaven, Männern und Frauen. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern änderten sich kaum, wenn auch gegen Ende des Jahrhunderts das Faible für Knaben bei der Elite zurückgegangen war; die Sklaverei wurde - langsam, schrittweise - abgebaut. Politisch gesehen blieb die entscheidende Ungleichheit die zuerst genannte. Theoretisch wurde die Ungleichbehandlung der Ungläubigen durch die Reformen beendet. Doch mochte sie auch im Prinzip aufgehoben sein - sie dauerte praktisch fort, da die Nichtmuslime einer Kopfsteuer unterworfen blieben, die sich nun als Zahlung für die Freistellung vom Wehrdienst maskierte, welche die Muslime nicht zu leisten hatten.(6) Die Armee blieb den Gläubigen vorbehalten, und auch alle wichtigen zivilen Staatsämter blieben rechtgläubiges Monopol. Eine solche Schutzmaßnahme für die Vorherrschaft des Islam erwies sich jedoch als unzureichend, um die im Volk verbreitete Feindseligkeit gegenüber den Reformen zu dämpfen, in denen man allgemein eine Kapitulation vor europäischem Druck und europäischen Gebräuchen sah, unvereinbar mit wahrer Frömmigkeit und mit der angemessenen Stellung der Gläubigen im Reich.(7) Ganz abgesehen vom unschicklichen Schauspiel westlicher Sitten in den Städten wurden unpopuläre ländliche Steuern auf Muslime ausgedehnt, während christliche Kaufleute, von ausländischen Investoren zu schweigen, unter dem Freihandelsregime florierten, das die Reformpartei den westlichen Mächten zugestanden hatte.

Weder konsequent modern noch solide traditionalistisch, scheiterten die Tanzimat-Regierungen auch fiskalisch. Die Steuerpacht, offiziell abgeschafft, hielt sich immer noch; die Einkünfte der öffentlichen Hand stiegen nicht, sie ielen sogar; die Kapitulationen - extraterritoriale Privilegien, die Ausländern zugebilligt wurden - dauerten fort. Die Anleihen im Ausland schwollen bedrohlich an, bis schließlich 1875 mit dem Staatsbankrott eine Explosion erfolgte. Zwei Jahre später wurden die osmanischen Truppen wieder vernichtend in Russland geschlagen, und im Jahre 1878 - nach dem kläglichen Scheitern einer kurzen konstitutionellen Episode - musste das Imperium die Unabhängigkeit von Serbien, Montenegro und Rumänien hinnehmen sowie die Autonomie des größten Teils von Bulgarien. Für die nächsten dreißig Jahre kehrte die Macht nun wieder aus den Amtsstuben der Bürokratie in den Palast zurück, wo sie von Sultan Abdulhamid II. verkörpert wurde, der technologische und administrative Modernisierungsmaßnahmen - es gab neue Eisenbahnlinien, Postämter, Kriegsschiffe - mit religiöser Restauration und einer repressiven Polizeipolitik verband. Nach dem Verlust der größten Teile des Balkans bestand die Bevölkerung des Reiches nun zu mehr als siebzig Prozent aus Muslimen. Um die Loyalität seinem Regime gegenüber zu festigen, putzte der Sultan den lange vernachlässigten Kalifentitel wieder auf, erließ panislamische Proklamationen und besetzte hohe Ämter mit Arabern. Doch kein Ausmaß an geräuschvoller Ideologie oder an (wie im Viktorianismus) künstlich hergestellter Tradition konnte etwas daran ändern, dass die Abhängigkeit des osmanischen Reiches von einer durch Ausländer kontrollierten Staatsschuld fortdauerte - und von einem Gleichgewicht der europäischen Mächte, das die Glut der nationalen Erregung auf dem Balkan nicht zum Erlöschen bringen konnte.

Ein breiter Gebietsstreifen osmanischer Herrschaft reichte immer noch bis an die Adria; hier zogen verschiedene Gruppen von Aufständischen - insbesondere die makedonische Geheimorganisation IMRO - durch die Berge, und die besten Truppen des Reiches waren in Garnisonsstädten stationiert, um das zu halten, was noch von Rumelien übrig war, diesem reichen einstigen Kernland des Imperiums, seinem "römischen" Teil. Hier war um die Jahrhundertwende die Opposition gegen die Tyrannei des Sultans bereits unter der Jugend aller Bevölkerungsgruppen, die Türken eingeschlossen, weit verbreitet. 1908 lösten Gerüchte von einer bevorstehenden Aufteilung der Region unter Russland und England einen Militäraufstand in Monastir und Saloniki aus. Die Revolte verbreitete sich rasch, und nach wenigen Wochen war sie unwiderstehlich geworden. Abdulhamid sah sich gezwungen, Wahlen abzuhalten, und in diesen holten sich die Kräfte hinter dem Aufstand, mittlerweile als Komitee für Einheit und Fortschritt (CUP) vor die Welt getreten, eine große Mehrheit im ganzen Reich. Die Jungtürken hatten die Macht übernommen.

Teil 3