Vorgeblättert

Leseprobe zu Perry Anderson: Nach Atatürk. Teil 3

09.03.2009.
Die Revolution von 1908 war eine seltsame, zwieschlächtige Angelegenheit. In vieler Hinsicht war sie die Vorankündigung der Unruhen in Persien und China, die drei Jahre später folgen sollten - doch trug sie Züge, die sie von allen derartigen Erhebungen im zwanzigsten Jahrhundert unterschieden. Einerseits handelte es sich um eine genuine konstitutionelle Bewegung, die bei all den verschiedenen Nationalitäten des Reiches auf enthusiastische Zustimmung stieß und bei breiter Wahlbeteiligung für ein eindrucksvoll multiethnisch zusammengesetztes Parlament sorgte:
authentischer Ausdruck des immer noch liberalen Zeitgeistes. Andererseits handelte es sich um den Militärputsch einer Geheimorganisation junger Ofiziere und Verschwörer, man könnte sagen: um den ersten einer langen Reihe solcher Coups in der Dritten Welt. Die beiden Elemente hingen eng zusammen, da die Architekten des Putsches, eine kleine, verschworene Gruppe, buchstäblich über Nacht reichsweit Unterstützung fanden, als sie mit der Forderung nach einer demokratischen Verfassung hervortraten - ihre Partei zählte innerhalb eines Jahres Hunderttausende.(8) Rein formell gesehen waren die jeweiligen Ziele der beiden Elemente der Bewegung auch nicht gegensätzlich - "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit", wie sie die erstgenannte Bewegung proklamierte, fasste man als Bedingungen auf, unter welchen jene Unverletzlichkeit des Reiches gesichert werden konnte, welche die Verschwörer vor allem garantieren wollten, bei gemeinsamen Bürgerrechten aller
Völker des Reiches.

Diese Synthese war jedoch nicht stabil, und sie konnte es auch niemals sein. Das Antriebselement der Revolution war die Gruppe der Offiziere in der CUP. Ihr bei weitem höchstes Ziel war die Erhaltung des Reiches - zu welchem Preis auch immer. Konstitutionelle oder andere Einzelheiten wurden rein funktional aufgefasst oder ignoriert, wie es sich gerade ergab - das waren Mittel, keine Zwecke an sich. Die Verschwörer waren keine Liberalen, und sie dachten auch nicht in irgendeinem Sinn antikolonial wie später die patriotischen Militärs der Dritten Welt, die oft höchst autoritär agierten, aber entschiedene Feinde des Imperialismus waren (die Freien Offiziere in Ägypten, die Logen in Argentinien, die Dreißig Genossen in Burma). Die Bedrohung des osmanischen Reiches ging jetzt wie schon so lange von europäischen Mächten oder ihren Verbündeten in der Region aus, aber die Jungtürken wandten sich kulturell und politisch keineswegs vom Westen ab. Sie wollten lediglich die Arena der westlichen Machtpolitik gleichberechtigt betreten - die Türkei sollte dort eine Nation wie die anderen sein. Zu diesem Zweck war eine Umwandlung des osmanischen Staates notwendig, damit er eine moderne Massenbasis bekam, wie sie die Rivalen so stark gemacht hatte.

Doch hier stand man vor einem akuten Dilemma. Welcher ideologische
Appell konnte die buntscheckige Bevölkerung des osmanischen Reiches - getrennt durch Sprache, Religion und Volksgruppe - zusammenhalten? Eine Form des vereinheitlichenden Patriotismus war notwendig, aber die typischen zeitgenössischen Zutaten hierfür fehlten. Die der osmanischen Ordnung in Europa am ehesten vergleichbare Herrschaftsform war das Habsburgerreich, doch selbst dieses war wesentlich kompakter, seine Bewohner gehörten in überwältigender Zahl ein und demselben Glauben an, und es wurde von einem immer noch geachteten traditionellen Herrscher regiert. Die Jungtürken, die nun Ländereien vom Jemen bis zur Donau zu verwalten hatten und Völkerschaften regierten, die seit langer Zeit in eine Hierarchie unvereinbarer Glaubenszugehörigkeiten eingezwängt lebten, verfügten nicht über derartige Vorteile. Was sollte es denn heißen, Bürger eines derartigen Staates zu sein - wenn nicht bestenfalls, dass man eben auch Untertan einer Dynastie war, welche die Jungtürken selbst mit sehr geringer Achtung behandelten (stießen sie doch Abdulhamid ein Jahr nach ihrer Machtübernahme unsanft vom Thron)? Das neue Regime konnte einem grundsätzlichen Legitimitätsdefizit nicht entgehen. Dass es sich der Brüchigkeit seiner eigenen ideologischen Position bewusst war, ließ sich von Anfang an erkennen. Denn die Jungtürken behielten die diskreditierte Monarchie bei, gegen die sie revoltiert hatten - sie setzten als Marionette einen schwachen Bruder Abdulhamids auf den Sultansthron, und sie marschierten sogar mit grotesker Pietät hinter dem Katafalk Abdulhamids her, als der alte Oger, dieser Re Bomba vom Bosporus, endlich den Geist aufgab.

Solche Fetzen einer verblassten Kontinuität reichten natürlich nicht aus, die neuen Kleider des kollektiven Kaisers abzugeben. Die CUP benötigte die komplette Paradeuniform eines modernen Nationalismus. Aber wie war dieser zu definieren? Eine zweigleisige Lösung war die Antwort. Für die Öffentlichkeit proklamierte man einen staatsbürgerlichen Nationalismus, der jedem Angehörigen des Landes zugänglich sein sollte, welchen Glaubens oder welcher Herkunft er auch sein mochte: eine Doktrin, die weite Teile der Bevölkerung ansprach und überall mit einem Aufflammen von Hoffnung und Engagement begrüßt wurde, selbst in den bisher unruhigsten Teilen des Reiches, etwa bei den Armeniern. In geheimer Versammlung jedoch bereitete man einen stärker konfessionell oder ethnisch betonten Nationalismus vor, beschränkt auf Muslime oder Türken.(9) Diese Dualität spiegelte in gewisser Weise die eigenartige Struktur der CUP selbst wider. Als Partei hatte sie in den ersten freien Wahlen des Reiches eine große parlamentarische Mehrheit erreicht, und mit einer kurzen Pause in den Jahren 1912-1913 lenkte sie nun die Staatspolitik. Doch ihre Führerschaft scheute das Rampenlicht und übernahm weder Kabinettsposten noch höchste militärische Befehlsgewalt - dies alles wurde einer älteren Generation von Offizieren und Bürokraten überlassen. Hinter der Fassade aus verfassungsmäßiger Korrektheit und Achtung vor der Anciennität wurde die wahre Macht jedoch vom Zentralkomitee der Partei ausgeübt, einer Gruppe von fünfzig radikalen Eiferern, die über eine nach dem Modell der makedonischen und armenischen Untergrundbewegungen ausgerichtete politische Organisation geboten. Der Begriff "Jungtürken" war keine Fehlbezeichnung. Als die CUP die Macht ergriff, waren ihre führenden Köpfe in ihren Dreißigern oder späten Zwanzigern. Offiziere im Rang eines Hauptmanns oder Majors stellten die größte Zahl, aber es gab auf höchster Ebene auch Zivilisten. Das Trio, das schließlich im Schweinwerferlicht stehen sollte, bestand aus den Offizieren Enver und Cemal und aus Talat, einem ehemaligen Postbeamten. Hinter ihnen standen zwei Militärärzte, Selânliki Nazim und Bahaettin Sakir, die für die Öffentlichkeit weniger sichtbar, aber insgeheim die Antriebskräfte der Organisation waren. Alle fünf kamen aus dem "europäischen" Sektor des Reiches - der Stutzer Enver aus einer wohlhabenden Familie in Istanbul, die Bulldogge Talat und der klinisch kühle Sakir aus dem heutigen Bulgarien, Nazim aus Saloniki, der etwas ältere Cemal aus Mytilene.

Die CUP musste sich bald der Herausforderung stellen und das Reich
verteidigen, zu dessen Erhalt sie angetreten war. 1911 besetzte Italien Libyen, die letzte osmanische Provinz in Nordafrika; Enver versuchte vergeblich, den Widerstand in der Wüste zu organisieren. Ein Jahr später verbündeten sich Serbien, Montenegro, Griechenland und Bulgarien zu einem gemeinsamen Angriff gegen die osmanischen Truppen auf dem Balkan, die innerhalb einer Woche fast vollständig aus Europa hinweggefegt wurden. Die CUP, die im Sommer 1912 kurz die Macht verloren hatte, musste diese gewaltige Niederlage nicht verantworten, und als die Gegner sich zerstritten, konnte sie wenigstens die Provinz Edirne zurückerobern. Doch das Ausmaß der imperialen Katastrophe blieb traumatisch. Rumelien war seit langem die fortschrittlichste Region des Reiches gewesen, das Territorium, aus dem sich die osmanischen Eliten hauptsächlich rekrutierten - von den Zeiten der devshirme bis zu den Jungtürken selbst, deren Zentralkomitee bis 1912 in Saloniki saß, nicht in Istanbul. Dieser letzte Verlust, den nicht einmal die Großmächte herbeigeführt hatten, ein Verlust, der die osmanischen Besitzungen in Europa auf ein Minimum reduzierte und etwa vierhunderttausend Türken vertrieb, war die größte Niederlage, die schlimmste Demütigung in der Geschichte des Reichs.

Die Wirkung auf die CUP war eine doppelte. Das Reich war nun zu
fünfundachtzig Prozent muslimisch, was den Anreiz für politische Appelle an die Minorität der Ungläubigen verringerte und es um so attraktiver erscheinen ließ, zur Unterstützung des Regimes die Bedeutung des Islam zu betonen. Aber obwohl die führenden Mitglieder des Komitees, entschlossen, die arabischen Provinzen festzuhalten, immer häufiger die islamische Karte spielten, stand ihnen die bittere Lektion vor Augen, welche die Albanier der Türkei erteilt hatten. Diese hatten die Gelegenheit ergriffen, welche die Balkankriege boten, um die eigene Unabhängigkeit zu erringen - ein Abfall von Muslimen, der darauf hindeutete, dass eine gemeinsame Religion nicht ausreichen dürfte, um ein weiteres Zerbröckeln des Staats zu verhindern, den die Jungtürken übernommen hatten. Das hatte zur Folge, dass die ideologische Achse der CUP, insbesondere des inneren Führungszirkels, zusehends in die ethnische Richtung kippte: Das Türkische war nun wichtig, nicht das Muslimische. Die Umorientierung kostete die Jungtürken weltanschaulich nichts - sie waren ausnahmslos Positivisten, die zu allen geheiligten Begriffen ein höchst instrumentelles Verhältnis hatten.(10)

Sie waren auch nicht bereit, den reduzierten Status des Reiches hinzunehmen. Die Vertreibung aus Rumelien führte nicht zu einer defensiven Haltung, sondern im Gegenteil zu dem Willen, die Niederlagen auf dem Balkan zu rächen und die imperialen Verluste wieder auszugleichen. "Unser Zorn wird immer stärker: Rache, Rache, Rache; es gibt kein anderes Wort", schrieb Enver an seine Frau. In einer Rede rief er aus: "Wie könnte ein Mensch die Wiesen, die Ebenen vergessen, die das Blut unserer Vorväter getränkt hat! Wie könnte je einer die Orte aufgeben, wo die streifenden türkischen Reiter vierhundert Jahre lang heimlich ihre Rosse abgestellt haben, mit unseren Moscheen, unseren Gräbern, unseren Derwischklöstern, unseren Brücken und unseren Burgen - sollen wir dies denn alles unseren eigenen Sklaven überlassen und aus Rumelien nach Anatolien zurückweichen? Das ist nicht mehr zu ertragen. Ich will gerne die restlichen Jahre meines Lebens opfern, um Rache zu nehmen an den Bulgaren, den Griechen und den Montenegrinern."(11)

Der Schluss, den die CUP aus der Niederlage des Jahres 1912 zog, war der, dass die osmanische Macht sich ohne ein Bündnis mit mindestens einer der europäischen Großmächte nicht aufrechterhalten ließ. Die Jungtürken hatten hier keine besondere Präferenz und versuchten es reihum mit England, Österreich-Ungarn, Russland und Frankreich, ehe es ihnen endlich am 2. August 1914 mit Deutschland glückte, zwei Tage vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. (12) Mittlerweile stand die CUP offen im Vordergrund. Enver war Kriegsminister, Talat Innenminister, Cemal Marineminister. Der Vertrag als solcher verpflichtete bei Kriegsausbruch die Türkei nicht zur Kriegserklärung an die Entente, und die Jungtürken gedachten, ihren Vorteil daraus ohne besonderes Risiko zu ziehen. Sie setzten darauf, dass Deutschland Frankreich rasch niederzwingen würde, worauf die osmanische Armee sich in größter Sicherheit mit den Zentralmächten verbünden könnte, um Russland zu besiegen und die Früchte des Sieges zu ernten - darunter eine angemessene Portion von Thrakien, die ägäischen Inseln, Zypern, Libyen, ganz Arabien, das im Kaukasus an Russland abgetretene Gebiet und noch weitere Landstriche, die sich in Richtung Aserbeidschan und Turkestan erstreckten.

Als aber der Zusammenbruch Frankreichs an der Westfront ausblieb und Deutschland trotzdem die Türkei drängte, rasch in den Krieg einzutreten, um im Osten Russland zu schwächen, bekamen die meisten Kabinettsmitglieder kalte Füße. Erst nach Wochen des Streits und der Unschlüssigkeit gelang es Enver, dem kriegerischsten Mitglied der jetzt an der Macht befindlichen Junta, die Regierung im späten Oktober 1914 in den Krieg zu jagen - mit dem überraschenden Beschuss russischer Stellungen an der Schwarzmeerküste durch die osmanische Marine.(13) Diese war jedoch, trotz Bemannung der Schiffe durch deutsche Matrosen, nicht in der Lage, in der Ukraine zu landen. Wo also sollte sich die triumphale jungtürkische Kraft nun zeigen? Symbolische Truppenkontingente wurden nordwärts geschickt, um österreichisch-deutsche Positionen in Galizien ein wenig auszustaffieren, und man entsandte auf deutsche Anforderung halbherzige Expeditionen gegen die britischen Linien in Ägypten. Aber das waren Nebenkriegsschauplätze. Die besten Truppen, angeführt von Enver persönlich, wurden gegen die russische Grenze im Kaukasus geworfen. Dort warteten die drei Provinzen Batum, Ardahan und Kars auf die Wiedereroberung, seit sie dem osmanischen Imperium auf dem Berliner Kongress 1878 genommen worden waren. Aus dem tiefen Schnee dieses Winterfeldzuges 1915 kehrten wenige zurück. Der osmanische Angriff wurde auf eine Weise zerschmettert wie keine vergleichbare Offensive des Krieges - weniger als einer von sieben Soldaten überlebte die Kampagne. Als die Truppen, halberforen und demoralisiert, sich zurückzogen, blieb die Nachhut dem Feind preisgegeben.

Mit freundlicher Genehmigung des Berenberg Verlages

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