Vorgeblättert

Leseprobe zu Regie: Ruth Berghaus. Geschichten aus der Produktion. Teil 1

05.08.2010.
Hans Neuenfels
Die Meisterin auf der Erbse

Friedrich Schiller: Die Braut von Messina,
Theater der Freien Volksbühne Berlin (1990)



Ruth Berghaus lernte ich 1980 an der Oper Frankfurt kennen, als sie Mozarts Die Zauberflöte inszenierte. Einen Monat zuvor hatte die Premiere meiner Inszenierung Doktor Faust von Ferruccio Busoni stattgefunden, die sie gesehen hatte. Wir kamen sofort und ohne gesellschaftliche Verrenkungen ins Gespräch. Sympathie füreinander und Neugierde aufeinander waren vom ersten Augenblick an da und blieben bis zu ihrem Tod. Nach ihrer Mozart-Premiere fragte sie mich nach meinem Eindruck. Ich erwiderte so ungefähr, dass ich öfter einen klugen Abbau der Klischees empfunden hätte, was ich zwar bewundern würde, aber gleichzeitig einen Gegenwert vermisst hätte, den ich lieben könnte. Wobei, fügte ich rasch hinzu, um mit hochrotem Kopf zu merken, dass ich in ein zweites Fettnäpfchen treten würde, nämlich dem der Gleichmacherei, es mir bei meinen eigenen Inszenierungen leider zu oft ähnlich erginge. Sie schaute mich länger schweigend an, was meine Verwirrung beträchtlich steigerte, und erwiderte schließlich "Wir sollten einmal tanzen gehen!" Das taten wir später auch, aber vor allem sprachen wir miteinander, und es waren außer den Gesprächen mit Peter Palitzsch, den Dramaturgen Horst Laube und Klaus Zehelein, später mit Heiner Müller und immer mit der Schauspielerin Elisabeth Trissenaar die reichhaltigsten Theatergespräche meines Lebens.
     Während dieser leidenschaftlichen Diskussionen über Theater, Gesellschaft und Kunst, die scheinbar keine Grenzen in ihren Assoziationen und konträren Behauptungen kannten, konnte ich manchmal nicht umhin, meine grundsätzliche Aversion gegen den Staat DDR auszudrücken. Nur der Schwall meiner Worte und die aberwitzigen Formulierungen, die meine Aggression herausschleuderten, verhinderten einen Bruch zwischen Ruth und mir, weil sie es wohl als eine theatralische, wenn auch mehr als peinliche Unart übergehen konnte. Auf die Dauer versuchte ich, meine Ausbrüche in ihrem Beisein zu unterlassen, was mir größtenteils gelang, wobei es nachher immer ein Opfer gab, das meine Meinung über diese "widerliche, kleinbürgerliche Denunziantendiktatur" anhören musste. Ich bin jetzt noch glücklich, einem Eklat mit Ruth über dieses Thema entkommen zu sein, denn ich spürte mehr als ich begriff, dass es mir nicht anstand, mich in etwas zu verwickeln, was nicht mein Schicksal war.
     Die Balance, die Berghaus - wie sich später immer mehr herausstellte - bis zur Bespitzelung durch ihre langjährige Dramaturgin Sigrid Neef halten musste, war ein Seilakt, den zu bewältigen nur ihre Sache sein konnte, und jede Irritation von anderer Seite hätte eine Gefahr bedeutet, die nicht zu verantworten gewesen wäre.
Kurz vor der Maueröffnung besuchten Elisabeth Trissenaar und ich Ruth in ihrem Haus in Zeuthen. Sie hatte, da wir ja mit unserem Auto die Transitstrecke verlassen mussten, eine Sondergenehmigung für uns beantragt und endlich bekommen. Wir verfuhren uns und landeten in Straßen, die auch nach Karl Marx hießen, aber von denen ich nicht annehmen konnte, dass Berghaus da wohnen würde. Es war im September 1989. Ich fühlte mich in meinem Bild über die DDR voll bestätigt. Überall eine mürbe Schäbigkeit und Verkommenheit, eine lieblose Vernachlässigung, unangenehme Gerüche, eine deprimierende Umdunkelung, die ich noch in Erinnerung hatte, als ich 1960 in einem Außenbezirk Wiens, in Ottakring hauste, nur dass die Häuser dort eine ehemalige Geschichte ahnen ließen, die diese in der DDR nie hatten, nicht haben konnten. Unwillig, fast barsch murmelte ich, harsch und barsch wurde uns jeweilig Auskunft gegeben und uns scheel nachgesehen. Mir fielen lauter altmodische Worte ein, was ungerecht war, denn die Menschen hatten Angst, weil, während wir sie ansprachen, sogleich an den Fenstern Schatten erschienen, die das Geschehen beobachteten.
     Endlich erreichten wir Ruths Haus, das direkt am Zeuthener See lag, in dem Ruth, wie sie stolz berichtete, täglich schwamm. Und es sei so reines Wasser! Wir sprachen über Schillers Die Braut von Messina, die sie am Theater der Freien Volksbühne, dessen Intendant ich war, inszenieren sollte. Es war ein lang geplantes Vorhaben, aber inzwischen hatte ich den Senat verständigt, das Theater nicht länger leiten zu wollen und zu können, da ich keine Möglichkeit mehr sah, die von mir vollzogene Umwandlung eines En-suite-Theaters in ein Repertoiretheater mit den vorhandenen Subventionen fortsetzen zu können. Die Angriffe von einem großen Teil der Politiker und der Feuilletons waren enorm und gipfelten in dem Vorwurf persönlicher Bereicherung, obwohl meine Intendantengage drei Jahre an meinen Vorgänger, den wunderbaren Kurt Hübner, als Pension überwiesen wurde und ich in dieser Zeit ausschließlich für meine Inszenierungen bezahlt wurde. Glücklicherweise hatte meine Sekretärin alle Rechnungen säuberlichst abgeheftet, so dass die brennende Frage, ob ich für 50 DM meiner Mutter einen Blumenstrauß geschickt hätte, beantwortet werden konnte: So viel kostete der Blumenstrauß zum sechzigsten Geburtstag von Heiner Müller. (Es kann auch eine Flasche Whisky dringesteckt haben.)
     "Du kommst in ein Wespennest", warnte ich Ruth. Sie lächelte mich an: "Oh, da kenne ich mich aus!" Und dann fügte sie unternehmungslustig hinzu: "Wir betäuben sie mit Honig, mit Kunst." Ich sah sie an. "Es ist nur ein Vergleich, weil sie da sind", meinte sie, und verscheuchte eine Wespe von ihrem Pflaumenkuchen. Es war ein heiterer Nachmittag. Später spazierte ich mit Maxim, Ruths Sohn, über die Felder und fühlte mich gänzlich frei, denn die Natur ist ja gleichgültig.
     Als wir zurückkamen, drängte Ruth zum Aufbruch. Sie sorgte sich, dass wir den Weg fänden. Ich verstand sie zu gut. Vor nicht allzu langer Zeit verpasste ich mit einem Freund die Abfahrt nach West-Berlin. Es war nachts, niemand zu sehen, und es gab keine Leitplanken. Ich sagte: "Dreh? einfach um." Er tat es, und aus dem Gebüsch schoss ein Wagen mit aufgeblendeten Lichtern, drei Vopos sprangen heraus und dirigierten uns in eine Abzweigung, wo unser Wagen aufgebockt und von dem Polizeiauto aus ein paar Metern Entfernung grell angestrahlt wurde. Ich zündete mir eine Zigarette an und griff unwillkürlich zu einer Weinflasche, die ich neben meinen Sitz gestellt hatte. Ein Vopo, zwei andere folgten mit angelegtem Gewehr, riss die Wagentür auf: "Hände hoch und raustreten! Zigarette ausmachen! Was, Sie trinken Wein?" Zu meinem Erstaunen hörte ich mich sagen: "Ich bin zuckerkrank. Ich bekomme sonst einen Anfall." Sie durchsuchten das Auto, als ob sie es auseinandernehmen wollten, steckten den Führerschein des Freundes ein, gingen zu ihrem Wagen, machten die Lichter aus, machten die Lichter nach endloser Zeit wieder an, kamen zurück, wir durften uns ins Auto setzen, sie verschwanden wieder. "Ich brauche 500 DM", sagte ich. Elisabeth und der Freund leerten ihre Börsen. Ehe der Vopo, der allein mit dem Führerschein und Papieren vor dem Wagen stand, etwas sagen konnte, hielt ich ihm das Geld hin und röchelte: "Hier bitte die Geldbuße, lassen Sie uns fahren, bevor ich ins Koma falle." Er nahm das Geld, trat ins Dunkel, begutachtete die Scheine sorgsam mit einer Taschenlampe, gab meinem Freund den Führerschein, seinen Kollegen ein Zeichen, das Licht des Polizeiautos erlosch, und ich schrie meinen erstarrten Freund an: "Fahr!" Nein, auch das erzählte ich Ruth nicht, sondern streichelte zum Abschied ihren großen Hund, der Sosso hieß nach einer Figur, die in Brechts Kaukasischem Kreidekreis erwähnt wird.
     Als Berghaus am 24. Oktober 1989 einen Einführungsvortrag zur Inszenierung Die Braut von Messina hielt, fuhr sie noch durch ein geteiltes Berlin. Als die szenischen Proben am 23. November begannen, war das Wunder geschehen und die Teilung aufgehoben.
     Es hat sie verwirrt. Genauer, es hat sie völlig durcheinandergebracht, und sie sammelte alles, was sie halten konnte, in ihrer Arbeit. Ich kannte ihre Disziplin, ihre gnadenlose Präzision, doch jetzt kam noch etwas hinzu, das sie mehr als alles Bisherige beutelte: Es ging um ihre Identität, um ihre Haltung. Es ging um die Aussage, die Begründung ihrer Kunst, ihren Anspruch, um die Relevanz ihrer Behauptung in einem sich auflösenden System.
     War sie besiegt? Ging sie unter? Wurde etwas ausradiert? Arbeitete sie bei den Siegern? Etwa gar für die Sieger? Wo lag die Kraft es Widerspruchs? Gab es überhaupt noch einen? Wo, welchen, wie? Dialektik, ein weiteres Fremdwort? Ein lexikalischer Begriff, nicht mehr sinnlich, unmittelbar, zwanghaft, sondern gelegentlich und für Interessierte nachzuschlagen? Aufklärung - eine nahezu lächerliche Vokabel, die man nur noch flüstern durfte!
     Sie kam in mein Büro: "Vergiss bitte nicht, im Programmheft zu bemerken: Frau Ruth Berghaus (Regie), Herr Karl Mickel (Dramaturgische Einrichtung und Chor-Texte), Herr Paul-Heinz Dittrich (Komposition und musikalische Leitung), Herr Peter Schubert (Bühnenbild und Kostüme) sind Gäste aus der Deutschen Demokratischen Republik." "Ruth", meinte ich "sollten wir nicht glücklich sein, endlich ohne Mauer zu leben und Kunst machen zu können?" "Darum geht es nicht", ihre Stimme klang lauter als sonst, "ich habe den Vertrag mit der Künstleragentur der Deutschen Demokratischen Republik abgeschlossen, und daran halte ich mich, und Du Dich bitte ebenfalls." Ich vereiste etwas. "Jawohl, Frau Kapitän", erwiderte ich heiser, "aber das Schiff geht trotzdem unter". Sie ging ohne Gruß. Es tat mir leid.
     Ich versuchte mit meinen Mitarbeitern alles, um ihren Wünschen gerecht zu werden, was durch unsere finanzielle Situation nicht leicht war, und uns von etlichen Kritikern vorgeworfen wurde. Aber die Aufführung zeigte etwas, das mich immer mit ihr verbinden wird: Die Sucht nach Verwandlung, nach Klarheit und nach Positionen, die es ermöglichen, uns zumindest für Sekunden sinnvoller in einem Zusammenhang zu empfinden, als wir es sind.

Hans Neuenfels
Geboren 1941 in Krefeld. Er studierte Schauspiel und Regie am Max-Reinhardt-Seminar in Wien, wo er seine spätere Frau, die Schauspielerin Elisabeth Trissenaar kennenlernte. Über ein Jahr war er Sekretär von Max Ernst in Paris. 1964 begann er selbst zu inszenieren, ab 1974 widmete er sich auch der Oper, ab 1983 überdies dem Film. Berühmt wurde 1981 seine Interpretation der Aida von Giuseppe Verdi an der Oper Frankfurt (Dirigent: Michael Gielen), in der die Titelheldin als Putzfrau auftrat. Von 1986 bis 1990 war er Intendant der Freien Volksbühne Berlin. Opernregisseur des Jahres: 2005 und 2008. Neben seiner Regie-Tätigkeit war er immer schriftstellerisch tätig.


Teil 2