Vorgeblättert

Leseprobe zu Shereen El Feki: Sex und die Zitadelle. Teil 2

11.02.2013.
Als ich damit anfing, Fragen zu stellen, stieß ich auf die Kluft zwischen öffentlichem Anschein, wie er sich in den amtlichen Statistiken niederschlug, und privater Wirklichkeit. Während viele Leute mir sogleich versicherten, Aids sei in der arabischen Welt kein Problem und könne hier auch niemals zu einem Problem wie in anderen Regionen werden, lernte ich Familien kennen, in denen alle infiziert waren, und ich lauschte den immer dringlicheren Bitten derjenigen, die sich im Stillen darum bemühten, die weitere Ausbreitung der Epidemie zu verhindern. Je genauer ich hinsah, umso deutlicher erkannte ich, dass die Kluft zwischen Anschein und Wirklichkeit hauptsächlich auf Sex und den kollektiven Widerwillen zurückzuführen ist, sich mit einem Verhalten auseinanderzusetzen, das nicht dem Ehe-Ideal genügt, ein Widerstreben, das durch religiöse Interpretation und gesellschaftliche Konvention untermauert wird.
Dieses sexuelle Klima entspricht in groben Zügen jenem, das kurz vor der sexuellen Revolution im Westen herrschte. Und viele der gleichen grundlegenden Kräfte, die den Wandel in Europa und Amerika antrieben, sind auch in der modernen arabischen Welt anzutreffen, wenn auch nur im Keim: das Ringen um Demokratie und Grundrechte, das rasche Wachstum von Städten und die zunehmende Auflösung familiärer Strukturen, die Lockerung der sozialen Kontrolle über das individuelle Verhalten, ein sehr hoher Anteil junger Menschen, deren Einstellungen sich von denen ihrer Eltern unterscheiden, die sich wandelnde Rolle der Frau, die ökonomische Expansion und Liberalisierung, die Sex zu einem Konsumgut machen. Hinzu kommt der durch Medien und Migration vermittelte stärkere Kontakt mit den sexuellen Sitten anderer Weltregionen. All dies wirft die Frage auf: Folgt auf die gegenwärtigen politischen Umwälzungen in der Region eine sexuelle Revolution?
Wegen grundlegender historischer, religiöser und kultureller Unterschiede liefert der Westen keine Orientierungshilfe hinsichtlich der Frage, wohin die Veränderungen in der arabischen Welt letztlich führen werden. Entwicklung ist ein langsamer Prozess, kein Rennen, und verschiedene Gesellschaften schlagen verschiedene Wege ein. Allerdings sind einige Ziele erstrebenswerter als andere. Ich glaube, dass eine Gesellschaft, die Menschen nicht nur erlaubt, eigenständige Entscheidungen zu treffen und ihr sexuelles Potenzial auszuschöpfen, sondern ihnen auch die Bildung, die Instrumente und die Chancen vermittelt, um dies zu verwirklichen, während sie zugleich die Rechte anderer respektiert, ein fruchtbarerer Boden für Entwicklung ist. Ich glaube nicht, dass dies grundsätzlich unvereinbar ist mit den gesellschaftlichen Wertvorstellungen in der arabischen Welt, die früher einmal offener für das gesamte Spektrum der menschlichen Sexualität war und dies wieder werden könnte. Und es widerspricht auch nicht zwangsläufig der tonangebenden Religion der Region: Durch ihre Interpretationen des Islam haben viele Muslime sich selbst und ihrer Religion Fesseln angelegt
In diesem Buch kommen diejenigen zu Wort, die die Fesseln abstreifen wollen: Forscher, die es wagen, die gelebte Sexualität zu erforschen; Gelehrte, die altüberlieferte Texte, welche Menschen heute in ihrer Entscheidungsfreiheit stark einschränken, neu interpretieren; Juristen, die für ausgewogenere Gesetze kämpfen; Ärzte und Therapeuten, die die negativen körperlichen und seelischen Folgen aufzufangen versuchen; mutige religiöse Führer, die Toleranz predigen, statt wie früher von Verdammnis zu sprechen; Aktivisten, die auf den Straßen unterwegs sind und sich bemühen, Sex sicher zu machen; Schriftsteller und Filmemacher, die die Grenzen der sexuellen Ausdrucksmöglichkeiten hinterfragen; Blogger, die einen neuen Raum für die öffentliche Debatte schaffen. Aber wir hören auch die Stimmen derjenigen, die sich ihnen entgegenstellen; die sich wandelnde politische Landschaft der arabischen Region eröffnet nach Jahren des Stillstandes neue Chancen für beide Seiten.
Es dauerte mehr als tausend Tage, diese Geschichten zusammenzutragen, und wie in Tausendundeine Nacht sind sie in oftmals überraschender Weise miteinander verwoben. In Kapitel 1 helfen sie uns zu verstehen, wie sich Einstellungen zur Sexualität in Ost und West im Lauf der Zeit verändert haben; in Kapitel 2 verdeutlichen sie die Schwierigkeiten der Ehe, innerhalb und außerhalb des Schlafzimmers. In Kapitel 3 zeigen sie uns das sexuelle Minenfeld der Jugend, und in Kapitel 4 zeigen sie Möglichkeiten auf, wie man es mit Sexualerziehung, Verhütung und Abtreibung sicher durchqueren kann und was sich tun lässt, wenn man doch auf eine Mine tritt und als unverheiratete Frau Mutter wird. Kapitel 5 untersucht die vielen Nuancen der Sexarbeit in der Region und ihre mögliche zukünftige Entwicklung; in Kapitel 6 betrachten wir diejenigen, die die heterosexuelle Norm sprengen, und die Veränderungen, die sie sich wünschen. Schließlich ordnet Kapitel 7 den gegenwärtigen Zustand in eine umfassendere Perspektive ein und wendet sich der Frage zu, wie in den kommenden Jahrzehnten eine ausgewogenere und bedürfnisgerechtere Sexualkultur entstehen könnte. Trotz all der Nöte, die diese Geschichten verdeutlichen, ist dies nicht ein weiteres Buch darüber, was in der arabischen Region falsch läuft. Es zeigt vielmehr das, was gelingt: wie Menschen in den einzelnen Ländern ihre Probleme lösen, und zwar in einer Weise, die sich oftmals von den Antworten in anderen Regionen der Welt unterscheidet. Dies ist weder ein akademischer Schmöker noch ein Panoptikum arabischer Exotika. Es ist letztlich ein Album mit Schnappschüssen aus der ganzen Region, aus dem Blickwinkel einer Person, die versucht, die Region besser zu verstehen, um sich selbst besser zu verstehen. Diejenigen, die nach einer Enzyklopädie oder einer Peepshow suchen, sollten sich anderweitig umtun.
Bislang habe ich von der arabischen Welt als einer kollektiven Einheit gesprochen, so als könnte man die 22 Länder, 350 Millionen Menschen, drei Hauptreligionen, Dutzenden kleinerer Religionsgemeinschaften und ethnischer Gruppen in einen Topf werfen. Die Bezeichnung »Middle East« (Naher und Mittlerer Osten) ist geographisch sogar noch weiter gespannt und fasst nicht nur die arabischsprachigen Länder Nordafrikas, die Arabische Halbinsel und das Östliche Mittelmeer, sondern auch die nichtarabischen Länder Türkei, Iran, Afghanistan und manchmal sogar Pakistan zu einer Einheit zusammen. Zwar gibt es grundlegende Übereinstimmungen in den sexuellen Einstellungen und Verhaltensweisen zwischen den arabischen Ländern, aber es bestehen auch gewichtige Unterschiede in der Art und Weise, wie Gesellschaften diese Herausforderungen angehen oder nicht. Solche Unterschiede gehen über die Sexualität hinaus und spiegeln sich eindeutig in den verschiedenen Richtungen des politischen Wandels wider, der durch die Volkserhebungen dieses Jahrzehnts ausgelöst wurde.
Von jetzt an also genauere Angaben. Dieses Buch dreht sich um Ägypten und insbesondere um Kairo, das ein verkleinertes Abbild der Bevölkerung des ganzen Landes und ihres gesamten sozialen Spektrums ist. Ägypten ist ein Schwerpunkt, der sich von selbst anbietet, nicht nur aus Gründen meiner persönlichen Geschichte, sondern auch deshalb, weil es das bevölkerungsreichste Land in der arabischen Region ist, von strategischer geopolitischer Bedeutung, und weil es nach wie vor in der gesamten Region einen starken politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Einfluss ausübt. Als ich meine Reise begann, teilten nur wenige im arabischen Raum - soll heißen: außerhalb Ägyptens - meine Meinung. Fast sechzig Jahre Militärdiktatur nach dem Zweiten Weltkrieg hatten den Stern Ägyptens, das jahrhundertelang Zentrum der arabischen Welt gewesen war, immer tiefer sinken lassen, während die ökonomische, politische und kulturelle Bedeutung seiner Nachbarn wuchs. Ägypten war wegen seiner Armut, seines engstirnigen Islamismus, seiner zerfallenden Infrastruktur, seines kulturellen Niedergangs, der grassierenden Korruption und politischen Erstarrung als ein hoffnungsloser Fall abgeschrieben worden. Oder, wie es mein Taxifahrer in Rabat, der Hauptstadt Marokkos, mit vernichtender Einfachheit ausdrückte: »Ägypter, so selbstgefällig. Und weshalb?«
Ägypten, so hieß es, habe den Faden verloren. Aber kaum dass sich seine Millionen gegen das Regime erhoben, rühmten dieselben Stimmen das Land als ein Fanal des Wandels in der gesamten Region. Weiter entfernt versuchten Demonstranten von der Wall Street bis nach Sydney die Erhebung in Ägypten in ihre Heimatländer zu importieren. Seit 2011 haben weltweite Solidaritätskundgebungen, die Nervosität in westlichen Hauptstädten, die Ängste arabischer Führer und die anhaltende globale Medienberichterstattung sattsam bewiesen, dass das, was in Ägypten passiert, noch immer von Belang ist, nicht nur für seine eigenen Bürger, sondern auch für den Rest der Welt. Ägypten hat sein geopolitisches Selbstbewusstsein wiedergefunden und dadurch eine langfristige Chance erhalten, seine Gesellschaft einschließlich ihrer Sexualkultur umzugestalten - Veränderungen, die seine Nachbarn sehr genau beobachten werden.
Bei vielen der schwierigen Fragen im Zusammenhang mit Sexualität findet man sozusagen »vor der Haustür« Vorbilder für Veränderungen. Das ist eine Frage von Pragmatismus, nicht von Chauvinismus. Während andernorts im Globalen Süden in Fragen der Sexualität beachtliche Fortschritte gemacht wurden, aus denen sich viel lernen ließe, ist es nur verständlich, dass Ägypter Veränderungen eher schätzen und übernehmen, wenn sie diese in einer ihnen vertrauten »Verpackung« sehen. Und so habe ich mich etwas weiter weg in Marokko und Tunesien im Westen sowie im Libanon im Osten umgesehen, die Ägypten Modelle dafür anbieten, wie es zumindest einige seiner kollektiven sexuellen Probleme lösen könnte. Ich habe auch die Länder am Golf bereist - unter anderem die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Katar und Saudi-Arabien. Diese Region übt durch Medien, Geld und Migration einen starken Einfluss auf Ägypten aus und hat in den letzten fünfzig Jahren die gesellschaftlichen und sexuellen Einstellungen in Ägypten maßgeblich geprägt (beziehungsweise verzerrt, wie einige behaupten würden). Schließlich werden Sie auf diesen Seiten auch Stimmen aus anderen Teilen der arabischen Welt hören, deren Situation ein Schlaglicht auf die Lage der Dinge in Ägypten wirft.
»Ich bitte um Nachsicht, wenn ich manchmal nur einen Hinweis auf die Namen der Helden meiner Anekdoten gebe und sie nicht ausdrücklich erwähne. Es genügt, wenn ich nur die Namen derjenigen nenne, die durch die namentliche Nennung keinen Schaden erleiden und deren Erwähnung uns oder ihnen keine Schande bringt; entweder weil die Angelegenheit so berüchtigt ist, dass Verschleierung und Aussparung eindeutiger Details dem Betroffenen keinen Nutzen bringen wird, oder aber aus dem einfachen Grund, dass die Person, über die berichtet wird, recht zufrieden damit ist, dass ihre Geschichte in die Öffentlichkeit getragen wird, und ihre namentliche Erwähnung in keiner Weise missbilligt.« Diese Vorbemerkung stammt von Ibn Hazm, einem muslimischen Philosophen, der im 10. und 11. Jahrhundert in Spanien wirkte und dessen berühmte Abhandlung Das Halsband der Taube den Leser sachkundig in die Kunst des Verliebens und Entliebens einführt. Ein Jahrtausend später werde ich es genauso halten: Wo in diesem Buch nur der Vorname erscheint, wurde der Name geändert.
Ich war zuerst Naturwissenschaftlerin, dann Journalistin, und dieses Buch spiegelt diesen Werdegang wider. Wenn möglich, habe ich persönliche Geschichten durch präzise Daten ergänzt; als stellvertretende Vorsitzende der Global Commission for HIV and the Law, einem von den Vereinten Nationen eingesetzten Gremium, das sich weltweit für die Reform von Gesetzen, einschließlich Gesetzen, die das Sexualverhalten regeln, einsetzt, erhielt ich bevorzugten Zugang zu beiden. In der arabischen Welt kommt man nur schwer an solche Informationen, weil das Sexualverhalten hier im Vergleich zu anderen Teilen der Welt noch immer wenig erforscht ist. Viele drängende Fragen harren ihrer Beantwortung, und falls es doch einmal Daten gibt, verschwinden diese oftmals in der Schublade.
Dieses Buch möchte mithelfen, dies zu ändern, und so einen Beitrag leisten zu einer neuen Ära der Offenheit und intellektuellen Freiheit, die sich Millionen von Menschen überall in der arabischen Welt erhoffen. Zu diesem Zweck habe ich, begleitend zu diesem Buch, eine Website eingerichtet, www.sexandthecitadel.com [noch nicht aktiv, d. Perlerlentaucher], wo Sie, gemäß den Hinweisen in den Anmerkungen, eine Fülle zusätzlicher Fakten, Zahlen und Befunde über die hier behandelten Themen finden. Diese Website soll eine Art Tauschbörse für Informationen zur Sexualität in der arabischen Region sein; ich ermuntere Leser dazu, diese Website nicht nur zu besuchen, sondern selbst etwas beizusteuern, indem sie themenbezogene Nachrichten, Ereignisse und Forschungsergebnisse in Englisch, Arabisch oder Französisch posten. Das Verständnis der Sexualität führt einen zum Kern einer jeden Gesellschaft, und Veränderungen des Sexualverhaltens haben Auswirkungen, die weit über das Schlafzimmer hinausgehen. Und so hoffe ich, dass Sex und die Zitadelle eine Ressource für all diejenigen sein wird, die die Vergangenheit und die Gegenwart verstehen und gemeinsam eine bessere Zukunft für kommende Generationen schaffen wollen. Sex und die Zitadelle ist keineswegs das letzte Wort über Sex in der arabischen Welt, sondern nur ein erster Schritt an einem Wendepunkt in der Geschichte der Region - andere mögen dieses Anliegen weiter voranbringen.

Kairo, November 2012

Teil 3