Vorgeblättert

Leseprobe zu Stefan Ernsting: Der phantastische Rebell Alexander Moritz Frey oder ... Teil 3

29.01.2007.
Der Gefreite Hitler

1913 hatte Adolf Hitler noch auf dem Münchener Odeonsplatz gesessen und Aquarelle der prächtigen Bauten Münchens gemalt. Er schlief in Männerasylen und konnte sich nur mit Mühe über Wasser halten. Wer Hitler damals begegnete, hätte wohl kaum geglaubt, dass die magere Gestalt mit dem Schnurrbart zwanzig Jahre später Reichskanzler sein würde und die Welt in den blutigsten Krieg der Geschichte stürzen sollte. Auch Alexander Moritz Frey beobachtete später ungläubig den Aufstieg Hitlers, den er für einen Dummkopf erster Klasse hielt. Im deutschen Literatur-Archiv in Marbach (dla1) befindet sich ein Manuskript mit dem Titel "Der unbekannte Gefreite - persönliche Erinnerungen an Hitler", welches ein gutes Bild des jungen Adolf Hitlers zeichnet, dem Frey 1915 erstmals begegnete:
     "Das bayerische 16. Reserve-Infanterieregiment, das einer an der Westfront operierenden Division angehörte, einer selbständigen, die oftmals schnell dort eingesetzt wurde, wo plötzliche Hilfe nötig schien, war der Truppenteil, in dem Adolf Hitler den Ersten Weltkrieg verbrachte. Es war auch das Regiment, in dem ich drei Jahre an der Front stand. Während Hitler mit dem neu formierten Regiment von München aus im Oktober 1914 ins Feld ging, kam ich, der wesentlich älter war als er, nach fast einjähriger Ausbildungszeit im September 1915 zur Truppe. Obwohl dienstlich verschieden beschäftigt, kamen wir doch häufig miteinander in Berührung. Unseren Kompanien entzogen, waren wir beide dem Regimentsstab zugeteilt: er als Meldegänger im Gefreitenrang, ich zuerst als einfacher Sanitätssoldat, dann als Unteroffizier. Die Mannschaft des Regimentsstabes war eine verhältnismäßig kleine Gruppe, die den Wünschen der Offiziere unmittelbar unterstellt war. Hitler, als Befehlsempfänger, hatte Meldungen an Bataillonsstäbe und ähnliches zu überbringen, ich tat Dienst an der Seite des Regimentsarztes auf den Verbandplätzen oder in den Ruhequartieren als Schreiber. Übrigens gehörte auch Max Amann, späterer Direktor des berüchtigten Eher Verlages in München und prächtiger Bonze im Bezirk der Presse des Dritten Reiches, zu den Abkommandierten: Er hatte die Regimentskanzlei unter sich, war im Feldwebelrang, klein und ehrsüchtig, kriecherisch und schlau in der Behandlung der Vorgesetzten, brutal in der der Untergebenen. Er wollte von mir lernen, wie man auf literarischem und journalistischem Gebiet geschickt verfährt. Auf eine primitive Art begierig, aus seiner Ausbildung herauszukommen, benahm er sich, als habe er damals schon eine Nase dafür gehabt, es könne ihm später einmal ein hohes Amt im Bereich des Schrifttums winken.
     Was Hitler betrifft, so geht meine erste Erinnerung an ihn auf den Herbst 1915 zurück. Ich tat Dienst auf dem Verbandplatz Fromelles, in den Kellern einer zusammengeschossenen Ferme, vor Lille. Täglich bescherten uns die Engländer ?den Abendsegen?; das heißt, aus Langrohren von weither kamen fast auf die Minute drei Schüsse. Drei Granaten explodierten in den ohnehin zermalmten Dorfresten. Wir wußten das und verkrochen uns beizeiten. Eines Abends kam ein bleicher langer Mensch nach der ersten Granate zu uns hinuntergestürzt, Angst und Wut in den flackernden Augen. Hitler wirkte damals lang, weil er mager war, ein voller Schnurrbart, der später der neuen Gasmaske wegen gekappt werden mußte, verdeckte noch den häßlichen, meist verkrampften Schlitz des Mundes. Er hockte sich keuchend hin, es war ihm nichts geschehen, er stotterte, daß er auf dem Weg von oder zu einem Bataillonsunterstand gewesen sei, sein gelbes Gesicht rötete sich, es wurde schnell wie gedunsen, und er hatte etwas von einem kollernden Puter, als er nun gegen die Engländer loslegte. Das erste Quantum wiedergewonnener Kraft verbrauchte er zu Beschimpfungen. Ich hatte gleich den Eindruck, den man später so oft bei ihm gehabt hat: daß er militärische Maßnahmen des Gegners persönlich übel nahm - so, als wollten sie gerade ihm an sein kostbares Leben. Es lag wohl daran, daß ein zu so ungeheuerlichen Taten berufener Mensch wie er instinktiv sich aufs äußerste davor zu hüten suchte, Schaden zu nehmen, und mächtig darüber erbost war, überhaupt in die Gefahr, in die Möglichkeit des Zugrundegehens zu geraten. Er bekam etwas zu trinken von uns, es beruhigte ihn ein wenig, er regte sich weiter auf über die Unverschämtheiten und Dummheiten des Gegners. Schließlich steckte er vorsichtig den Kopf ins Freie, horchte umher, und weil alles still blieb, die drei Schüsse waren längst vorbei, verschwand er mit einem brummigen Abschiedswort.
     'Sie waren im Sanitätsdienst? Warum haben sie dem Mann nicht rechtzeitig Rattengift oder eine entsprechende Spritze gegeben?? bin ich mehrmals in den letzten Schrekkensjahren fürchterlich - halb im Scherz, halb im Ernst - gefragt worden. Er war einmal in meiner Behandlung, sie bestand nur darin, daß ich ihm irgendwelche Tabletten zu schlucken gab. Er hatte leichte Temperaturerhöhung und einen rot angelaufenen Rachen. Obwohl es vorerst so gut wie nichts war und nach Frontgewohnheiten eigentlich gar nicht weiter beachtet wurde, riet ich ihm doch, sich anderntags im Revier zur Arztvisite zu melden. Er horchte in sich hinein, zögerte - und schüttelte dann den Kopf, mit harten Mundwinkeln, verkrampfte Entschlossenheit im Blick. Nein, das wolle er nicht, sagte er undurchsichtig. Im weiteren Verlauf seiner Erkrankung sorgte er dann offenbar dafür, daß es sich bei den Kameraden herumsprach und auch zu den Ohren der Offiziere kam: der Hitler habe 'eine pfundige Halsentzündung', tue aber trotzdem Dienst. Mir ist die geringe Sache im Gedächtnis geblieben, weil man unter der Mannschaft schon hören konnte: der Hitler sagt -, der Hitler meint -. Er gewann sich das Ohr des Regiments, und die Offiziere bauten darauf; er schwatzte nach ihrem Sinn, wenn er gegen die dummen Engländer kollerte, die den Saufranzosen die Geschäfte besorgten; aber kaputt würden ja doch alle miteinander gehen. Denn gegen die deutsche Leistung sei selbstverständlich auf die Dauer kein Kraut gewachsen, von seiten dieser Idioten schon gar nicht.
     Es war tatsächlich so: Er redete, schimpfte, trumpfte auf und verzerrte mit einem gewissen abgefeimten Geschick die wahre Sachlage schon damals als kleiner Gefreiter so und mit im Grunde den gleichen Worten, wie er es 25 Jahre später als uferloser Machthaber tat.
     Wenn behauptet wird, er sei feige gewesen, so stimmt das nicht. Aber er war auch nicht mutig, dazu fehlte ihm die Gelassenheit. Er war allzeit wach, sprungbereit, hinterhältig, sehr um sich in Sorge, alle Kameradschaftlichkeit war Kostüm, für den Einfachen und Naiven geschickt gewähltes Kostüm, um sich beliebt zu machen und um sich verblüffend in Szene zu setzen. Er kannte die Tricks, mit denen man den Burschen Brocken hinwarf, die sie gerne schluckten. Und er inszenierte die im Herzen eiskalte, nach außen brodelnde Komödie vielleicht nur zum Teil bewußt.

Ich entsinne mich eines Marsches der kleinen Gruppe der Regimentsstäbler an die Somme. Vorher waren wir ein Stück weit mit dem Zug befördert worden. Besser als die Kompanien stehend in ihren Viehwägen waren wir in einem Drittklassewagen gesessen, an den ein Wagen zweiter Klasse für die Offiziere sich anschloß. Ich saß mit Amann und Hitler im gleichen Coupe, Amann mit dem vielen Gerede des Viertelgebildeten neben mir, Hitler uns gegenüber schlafend mit offenem Mund, erschlafft wie wir alle nach einem jähen nächtlichen Aufbruch aus kaum bezogenem Ruhequartier. Er schlief mit weghängendem Kinn und hatte die Füße so ausgestreckt, daß Amann mit seinen kurzen feisten Gliedern ? durch seine Verbindung zu den Fourage-Unteroffizieren bekam er immer reichlich zu essen ? eingekeilt war. Herrschsüchtig und brutal auch er, wurde ihm die Enge plötzlich zu lästig, und er gab dem Schläfer einen Tritt gegen das Schienbein. Hitler fuhr auf.
     'Nehmen sie Ihre Haxen gefälligst zu sich!' sagte der Feldwebel in dienstlichem Ton. Hitler begriff, dann lief er rot an, einen Augenblick sah es aus, als wolle er über den anderen herstürzen; aber gleich darauf wurde aus der Verzerrtheit seines Gesichtes die Unterdrückung siedenden Jähzorns, und er gab keinen Ton von sich. Amann sagte höhnisch beruhigend: 'Ja, Sie meine ich, Gefreiter Hitler.'
     Später marschierten wir auf der Chaussee in Viererreihen, etwa 20 Mann unter dem Kommando Amanns, einer gleich einem ungeheuren Wasserfall fern rauschenden Kanonade, dem Trommelfeuer an der Somme, entgegen, und keiner sprach ein Wort im würgenden Gefühl, näher an den Tod heranzurücken. Es war wie auf dem letzten Gang zur Richtstatt. Es hatte sich herumgeflüstert: dort, wo wir nun in aller Eile eingesetzt wurden, stehe es schlecht, und wir würden eben gerade deshalb überstürzt eingesetzt. Selbst Hitler wußte nichts Großartiges zu faseln.
     Aber unser leichenähnlicher Trott wurde plötzlich unterbrochen durch einen im Tiefflug die Chaussee entlang brausenden Engländer, der mit dem Maschinengewehr die Straße abstreute. Ich war in solchen Fällen mehr in ein erschrecktes Beobachten gebannt als zu vernünftiger Flucht befähigt. So sah ich, wie alle nach links und rechts auseinanderspritzten ? im Versuch, die Straße zu verlassen und irgendeine kleine Bodensenkung oder ein kärgliches Gebüsch zu erreichen. Einer der Flinksten geistig und körperlich war Hitler; er nahm den kürzesten Weg ? der ging gewissermaßen mitten durch einen Kameraden hindurch, den er einfach umrannte, so daß jener auf der Straße liegen blieb.
     Es geschah weiter nichts, keiner von uns wurde auch nur verletzt. Und übrigens war der Flieger samt seiner den Chausseestaub aufpeitschenden Feuergarbe längst vorbei, ehe nur einer sich halbwegs niedergeworfen oder ein unnützes Versteck erreicht hatte.
     Als wir wieder in Marsch waren, unter den nervös hingeplärrten Kommandos Max Amanns, hatte Hitler eine Auseinandersetzung mit dem von ihm über den Haufen Gerannten. Das heißt ? er wußte es hitzig so zu drehen, daß der andere im Unrecht war: denn jener habe durch seine Tappigkeit und Langsamkeit das Leben der übrigen Kameraden gefährdet.

Es ist viel darüber geredet worden, weshalb Hitler über seinen Gefreitenrang hinaus nie befördert worden ist. Es erklärt sich einfach damit, daß für den Dienst, den er versah, keine höhere Charge in Betracht kam. Ohne Zweifel hätte er sich zu seiner Kompagnie zurückmelden, hätte Grabendienst machen können mit Aussicht auf Beförderung. Aber er wollte das offenbar nicht; es gab gewisse Positionen, die vom einfachen Mann, war er ihrer einmal habhaft geworden, ungern wieder aufgegeben wurden, weil sie automatisch gewisse Vorteile brachten ? hier vor allem besseres Quartier und bessere Verpflegung, als der Infanterist im Schützengraben hatte. Ich mußte mich sehr wehren gegen das Drängen meines Kompanieführers, den Sanitätsdienst, in dem ich nicht weiterkommen konnte, weil ich nicht Mediziner war, zu verlassen und einen Offizierskurs mitzumachen. Ich wollte nicht weg aus meinem Dienstbereich ? wohl aus demselben Grunde wie Hitler nicht aus dem seinen: gemessen an der fürchterlichen Mühsal des Grabendienstes war unsere Abkommandierung zum Stab eine kleine Erleichterung, verbunden mit kleinen Bequemlichkeiten. (?) Eines meiner Bücher, ?Die Pflasterkästen?, behandelt die Geschichte jenes bayrischen Infanterieregiments, gesehen mit den Augen des Sanitätssoldaten. Und in dem Roman ?Hölle und Himmel? gibt es Kapitel, die sich mit Hitler und meinen Erinnerungen an ihn beschäftigen." (dug, S. 1?7)

Alexander Moritz Frey erhielt am 31. Dezember 1917 das Eiserne Kreuz 2. Klasse. Hitler hatte am 8. August 1918 das Eiserne Kreuz 1. Klasse erhalten, für einen Gefreiten eine ungewöhnliche Auszeichnung. Der genaue Grund für Hitlers Auszeichnung ist bis heute unbekannt. Es ist vielfach vermutet worden, dass Hitler vermeiden wollte, dass man erfuhr, dass es der jüdische Regimentsadjutant Hugo Gutmann war, der ihn für die Auszeichnung vorgeschlagen hatte. Frey bestätigt diese Annahme in einer längeren Passage seines Romans "Himmel und Hölle", der während des Zweiten Weltkrieges im Exil entstanden ist: "Mit das Schwerste war wohl der jüdische Vorgesetzte. Da standest du also stramm vor ihm, tagaus, nachtein. Er hatte jenen Orden, den?s für die Front wie das tägliche Brot gab, bloß in besserer Qualität als das Brot ? er hatte ihn erster Klasse am Waffenrock; du mußtest dich damals noch mit dem Bändchen zweiter Güte begnügen. In solch billiger Ausführung hatte den Orden jeder von uns, war man nur lange genug im Dreck. (?) Dein Kanzleifeldwebel war in der gleichen Verlegenheit im letzten Kriegsjahr wie der meine: nämlich so viele Auszeichnungen für seine kleine Herde laufend überwiesen zu bekommen, daß er nicht mehr wußte, woher alle die Helden dafür nehmen." (huh, S. 305 f.)

Mit freundlicher Genehmigung des Atrium Verlages

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